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Im Rahmen ihrer Ostpolitik hat die Bonner Regierung nun auch Verhandlungen mit Prag über einen Vertrag zur -Regelung . der gegenseitigen Beziehungen angeknüpft und vorige Woche zu einem vorläufigen Abschluß gebracht. Der ausgearbeitete Vertrag muß noch beiden Regierungen vorgelegt werden. Wenn diese — woran keimZweifel besteht — ihre Zustimmung e/teilen, wird der Vertrag im' Laufe des Monats Juni paraphiert werden.

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Im Rahmen ihrer Ostpolitik hat die Bonner Regierung nun auch Verhandlungen mit Prag über einen Vertrag zur -Regelung . der gegenseitigen Beziehungen angeknüpft und vorige Woche zu einem vorläufigen Abschluß gebracht. Der ausgearbeitete Vertrag muß noch beiden Regierungen vorgelegt werden. Wenn diese — woran keimZweifel besteht — ihre Zustimmung e/teilen, wird der Vertrag im' Laufe des Monats Juni paraphiert werden.

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Dieser Vertrag soll das sogenannte Münchner Abkommen vom September 1938 beseitigen.

Kurz sei rekapituliert: Nach der Annexion Österreichs im März 1938 forderte Hitler auf dem Nürnberger Parteitag im September 1938 mit Berufung auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker, das die Alliierten im Ersten Weltkrieg proklamiert hatten, die „Heimkehr“ der Sudetendeutschen ins Reich.

Rund dreieinviertel Millionen Sudetendeutsche waren durch den Vertrag von Saint-Germain bei der Tschechoslowakei verblieben, obwohl gleich nach dem Ende des 1. Weltkrieges sich die Sudetendeutschen auf Grund des proklamierten Selbstbestimmungsrechtes für ihr Verbleiben bei Österreich ausgesprochen hatten und die damalige „Deutschösterreichische“ Regierung auch ihr Verbleiben bei Österreich wünschte.

Alle Berufungen auf das Selbstbestimmungsrecht nützten nichts, die Alliierten sprachen das Gebiet der Sudetendeutschen der neuen Tschechoslowakei zu. Die soeben entstandene Moldaurepublik, die in der Slowakei militärische Gesichtspunkte für die neue Grenzziehung geltend gemacht hatte, berief sich nunmehr auf historische Gründe, um das Verbleiben der Sudetendeutschen bei der neuen Republik zu rechtfertigen. Es sollten die alten historischen Grenzen des Königreiches des heiligen Wenzel respektiert werden (was für die Grenzen des alten Königreiches des heiligen Stephan allerdings wieder nicht gelten sollte). In Wirklichkeit waren es natürlich militärische und wirtschaftliche Gesichtspunkte, die die Prager Regierung veranlaßten, diesen Standpunkt einzunehmen.

Nur schwer gewöhnten sich die Sudetendeutschen an die neue Lage. Doch muß anerkannt werden, daß die Prager Regierung keine Unterdrückungspolitik, wie sie Mussolini in Südtirol handhabte, mit den Sudetendeutschen betrieb. Diese besaßen vielmehr weitgehende Rechte. Das deutschsprachige Schulwesen •war tadellos ausgebaut, die Gemein-

den besaßen weitgehende Autonomie, die Ämter mußten in den sudetendeutschen Gebieten zweisprachig amtieren. Aber die Sudetendeutschen hatten bis zum Jahr 1918 in den böhmischen Ländern die erste Geige gespielt. Nun plötzlich mußten sie die zweite spielen. Kleine Schikanen, die immer ein besonderes Kennzeichen der böhmischen Politik waren und die manche Sudetendeutsche bis 1918 gegen Tschechen praktiziert hatten, wurden nun umgekehrt angewandt. Mit Wonne hätten die Sudetendeutschen jetzt die Badenischen Sprachverordnungen re-spekiert, die sie einst zu Fall gebracht hatten. Resigniert stellte der große sudetendeutsche Politiker Ernst von Plener nach 1918 fest, daß man sich in der Monarchie den tschechischen Forderungen gegenüber doch nicht so intransigent hätte zeigen sollen.

Die Situation war psychologisch schon verfahren, als Hitler zur Macht kam. Die Wirtschaftskrise der dreißiger Jahre hatte die sudetendeutschen Industriegebiete besonders hart getroffen. So hatte Hitler leichtes Spiel.

Alle außenpolitischen Konstruktionen und Abmachungen des Doktor Benes sollten sich als nutzlos erweisen. Das großartige Bündnissystem, das Frankreich nach 1918 aufgebaut hatte, dn dem die Tschechoslowakei eine besondere Rolle spielte, erwies sich als wertlos. Das Bündnissystem der CSR mit Jugoslawien und Rumänien, die sogenannte „Kleine Entente“, brach ebenfalls zusammen. Neben Ungarn und Deutschland erwies sich auch Polen, der so umhegte slawische Bruder, als ein erbitterter Gegner. Obwohl die CSR eine riesige Armee besaß und wir heute wissen, daß ein bewaffneter Widerstand, nicht anders als wahrscheinlich im Falle Österreich, die deutschen Generäle hätte gegen Hitler putschen lassen, kapitulierte die Tschechoslowakei ohne Kampf und trat die sudetendeutschen Gebiete ab.

Aber Hitler ging es gar nicht um die „Befreiung“ der Sudetendeutschen. Er, der nach dem Anschluß

der Sudetendeutschen feierlich verkündete, daß er keine Tschechen in seinem Reich haben wolle, hatte damals schon beschlossen, die Resttschechoslowakei zu liquidieren, um Polen in die Zange zu bekommen. Es war ein perfides Spiel, das er trieb und dem die Alliierten ebenso wie die Deutschen auf den Leim gingen. Aber eines Tages, 1945, war dieses perfide Spiel zu Ende. Und nun kam der schreckliche Tag für die Sudetendeutschen; sie wurden vertrieben, wie schon viele Millionen anderer Menschen vor ihnen, die Juden, die Polen...

28 Jahre sind seit der Vertreibung vergangen. Die meisten Sudetendeutschen gingen nach Deutschland, ein kleiner Teil nach Österreich. Die meisten gelangten durch ihren Fleiß wieder zu Wohlstand und Reichtum. Kaum einer von ihnen möchte in die alte Heimat zurückkehren. Deutschland hat die Sudetendeutschen großzügig entschädigt. Aber der Abschluß des neuen Vertrages wird viele Sudetendeutsche dennoch schmerzlich berühren. Denn er bedeutet den endgültigen Verzicht auf die alte Heimat.

Ein schmerzliches Kapitel mitteleuropäischer Geschichte ist abgeschlossen. In 80 Jahren wird keiner der vertriebenen Sudetendeutschen mehr leben. Nur die Historiker werden die Chance haben, darzustellen, welch schreckliche Folgen es nach sich zieht, wenn auch in der Politik Menschen keine Humanisten sind und die Rechte der anderen nicht anerkennen. Und welch schreckliche Folgen die perfide Politik von Rattenfängern wie Hitler nach sich ziehen kann.

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