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Land ohne Volk

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Die größte Tragödie Mitteleuropas in diesem schmerzerfüllten Jahrhundert geht nun ihrem Ende entgegen: rund drei Millionen Menschen haben das Land Marbods als heimatlose Bettler wieder verlassen. Was heute noch von der ursprünglichen Bevölkerung der Grenzgebiete der Tschechoslowakischen Republik zurückgeblieben ist, lebt in nationalen Mischehen oder ist bei den Arbeiten tief unter der Erde unentbehrlich. Es mag sein, daß die Zahl der Zurückgebliebenen wirklich an die 300.000 Menschen beträgt, aber was sagt diese Zahl, wenn sie richtig ist, neben den drei Millionen, die ihre Heimat verloren.

Schon im Jänner dieses Jahres hatte sich das Antlitz der Grenzgebiete wesentlich Veranden, denn eine Statistik wies schon damals 1,800.000 (1944: 412.000) im Grenzland wohnende Tschechen auf. Heute ist diese Zahl auf zwei Millionen Menschen angestiegen, hat aber zugleich ihre höchste Höhe erklommen, über die hinaus es keine Steigerung mehr gibt. Was lange nur ein Geheimnis der mit der Neubesiedlung der Grenzgebiete betrauten Stellen war, ist nun auch der breiten

Weltöffentlichkeit offenbar geworden: in der Rückwanderung der Auslandstschechen ist eine Stockung eingetreten, die ihre kritische Erörterung auch in der tschechischen Presse findet. Schon im März schrieb das Organ der mährischen Sozia'demokratie, daß von den erwarteten 400.000 bis 450.000 Nationsgenossen bisher nur ungefähr 3 0.0 00 zurückgekehrt sind, eine Zahl, die im Hinblick auf die im Grenzland fehlenden 70 0.0 00 Menschen als lächerlich gering bezeichnet werden müsse. Eine andere tschechische Tageszeitung, deren Chefredakteur zu den bekanntesten und objektivsten Persönlichkeit gehört, urteilte erst kürzlich, daß „die Re-emigration sich als schwerste Sünde erwies, die die Republik in diesen Zeiten begangen habe“.

Woran krankt also die Rücksiedking und warum ist die Zahl der Zögerer anstatt kleiner größer geworden? Der Grund dafür liegt darin, daß die Nationalverwaltungen der Republik die Auslandstschechen nicht selten als unwillkommene Elemente ansehen, zuweilen ihrer in der Fremde mangelhaft gewordenen Sprachkenntnisse spotten und sie ihre bisherige Abwesenheit fühlen lassen. Beschränkungen, Zuteilung und nachträglicher Entzug von Wohnungen, landwirtschaftlichen und gewerblichen Unternehmungnen haben Enttäuschungen verbreitet. Auch heute noch — schreibt das gut unterrichtete tschechische Watt — dauert der Kampf der Rücksiedler mit dem Nationalausschüssen um ein Stück Bettzeug, um einen Kasten oder eine Kuh an, ad vielfach werden die Auslandstschechen mit schlechten oder gänzlich wertlosen Gegenständen abgespeist. Und dies alles nach einem aervenraubenden Aufenthalt in den Notbaracken eines Durchgangslagers. Wo alles in Bewegung, in Umwälzung begriffen ist, sdileichen sich solche Übel zu leicht ein.

Diese ersten Ergebnisse haben dazu beigetragen, das groß angelegte nationale Rück-wanderungsprogramm zu durchkreuzen. Die Pläne sahen nach einer Äußerung des früheren “Wiener tschechischen Abgeordneten Machat die Rückführung von rund 300.000 bis 400.000 Menschen vor. Von den einzelnen Ländern sollten daran beteiligt sein:

Deutschland: 15.000 (von 80.000)

Österreich: 20.000 (von 70.000)

Ungarn: 150.000 (von 300.000)

Polen: 13.000 (von 15.000)

Jugoslawien: 40.000 (von 140.000)

Rumänien: 40.000 (von 70.000)

Auch diese Zahlen, die im Hinblick auf das der Kolonisten harrende Land mit Häusern, Einrichtung und Gerät gering erscheinen mögen, werden nun wohl kaum erreicht werden können.

Interessant ist eine Ubersicht über d i e Verteilung der Neusiedler. Danach sollen die Wiener Tschechen im unteren Elbetal bei Aussig angesiedelt werden. Die Repatriierungsbehörden weisen übrigens auf die besonderen Schwierigkeiten bei den österreichischen Tschechen hin, die in ihrer bisherigen österreichischen Heimat fast alle ein gut eingeführtes Handwerk und gesicherte Existenz besitzen und im Grenzgebiet schwer eine entsprechende Unterkunft finden. Daher sind bisher nur 5000 Wiener Tschechen dem Ruf ihrer alten Heimat gefolgt.

In der ehemals deutschen Wischauer Sprachinsel, die sieben Dörfer umfaßte, wurden neben mährischen auch 30 wolhy-nische Familien angesiedelt. Die wolhynischen Tschechen wanderten vor 80 Jahren nach dem Osten aus und bildeten in diesem Krieg den Grundstock für die tschechoslowakische Brigade, die im Rahmen der Roten Armee kämpfte. Ein anderer Teil der Wolhynien-tschechen (in Rußland leben heute an 80.000) wird in den Hopfenbezirken S a a z und Leitmeritz eine neue Heimat finden.

Die Tschechen aus Rumänien lassen sich in den schlesischen Bergen, bei Jägerndorf, Freudenthal und Römerstadt nieder, weil sie selbst aus den gebirgigen Karpathengegenden stammen. Der Bezirk Plan bei Marienbad ist für die Tschechen aus Polen vorgesehen und für die jugoslawischen Tschechen, die in der Auslandsarmee gekämpft haben, wurden drei Dörfer im Bezirk Nikols-burg reserviert.

Verständlicherweise sind an der Rückführung in die Heimat in erster Linie europäische, vor allem Nachbarstaaten beteiligt, während sich aus Überseeländern nur einzelne zur Rückkehr entschließen konnten, meist Slowaken, die ihre Familien noch in Europa haben. Zu diesen einzelnen gehören zum Beispiel auch die Mönche aus Lisle bei Chikago, die unter Führung ihres Abtes wieder in die Tschechoslowakei kommen und ins Braunauer Kloster einziehen werden.

Was also werden die Tschechen tun und von woher werden sie die fehlenden Menschen in das Grenzland hineinpumpen, das nun das ihre ist? Eine ausgezeichnete Prager Wochenschrift gibt auch auf diese Frage Antwort. Durch die fast völlige Räumung des Grenzgebietes würde ein luftleerer Raum, ein Niemandsland entstehen, was naturgemäß vermieden werden muß. Die Bevölkerung der Tschechoslowakei habe durch die Aussiedlung eine Verminderung um rund 25 Prozent ihres Bestandes von 1930 erfahren und die verschiedenen Repatriierungen werden den großen Bedarf an Menschen nur zum Teil decken können. Aus diesem Grund ist man daran gegangen, die Bevölkerung im tschechischen Binnenland um jene 25 Prozent zu vermindern und versucht nun, mit Repatriierten und Inlandssiedlern die Grenzgebiete bis zur Höhe von 75 Prozent des Standes von 1930 wiecer anzusiedeln. Bisher sind die Ergebnisse nicht zufriedenstellend, denn nach dem Bericht des genannten tschechischen Blattes konnte zum Beispiel das zusammenhängende Gebiet an der deutschen Grenze von Tachaubis St. Joachims-thal durchschnittlich nur bis zu einem Drittel neu besiedelt werden, die Kreise AschundFalkenau sogar nur bis zu einem Zehntel. Kennzeichnend ist auch die Unlust der, in übervölkerten Binnengebieten lebenden Menschen ins schwach besiedelte Grenzland auszuwandern. Diese Tatsache ist besonders in Mähren, aber auch zum Beispiel in Böhmisdi-Budweis bemerkt worden.

Um dieser Schwierigkeiten Herr zu werden, bleiben nur zwei Möglichkeiten. EHe eine wurde bereits angekündigt und sie besteht in der für europäische Verhältnisse immer ungewöhnlichen Art der Aufforstung jener weiten Gebiete, die auf keine Menschen mehr hoffen dürfen. Ein gemeinsames Memorandum der Bezirksverwaltungskommissionen von Asch, Falkenau, Eger, Gras-litz und Ellbogen eröffnet, daß der für WeideflächenundForstevor-t,esehene Boden in manchen dieser Gegenden bis zu 80 Prozent des Gesamtausmaßes der Bezirke ausmache. Die andere Lösung wurde mit zunächst gutem Erfolg in der Slowakei erprobt. Dort hat man Hunderttaüsenden von Ungarn bei einer neuerlichen „Volkszählung“ die Möglichkeit gegeben, sich eventueller slawischer Ahnen zu erinnern, um dadurch von der Ausweisung ausgenommen zu werden.

Vielleicht wird diese Methode auch in der westlichen Hälfte angewendet werden. Aber die in nationaler Hinsicht doch nicht so scharf abgegrenzte Atmosphäre an der ungarischen Grenze verträgt keine Übertragung in einen Raum mit ganz anderen Vorbedingungen. So konnte der Ausweg einer neuen Volkszählung in Böhmen und Mähren nicht gewählt werden und es wurden nur solche Elemente im Lande belassen, von deren Ungefährlichkeit für die Zukunft man überzeugt ist. So haben alte Menschen und Familien, deren Assimilation während einer Generation gewährleistet scheint, nicht zum Wanderstab greifen müssen und haben also eine nicht sehr häufige Ausnahme erfahren.

Das Mißlingen der Rücksiedlungspläne ist ein Beweis dafür, welch ein Chaos durch diese modernen, meist unfreiwilligen Völkerwanderungen entsteht. Wie bitter wurden ja doch auch die Deutschen aus dem Osten und Südosten enttäuscht, als sie während des Krieges aus ihrer Heimat gerissen wurden. Sie sind nicht die letzten gewesen. Treffend sagte vor nicht langer Zeit eine tschechische Zeitung- zu den Umsiedlungen: „Wir versprechen einen Fisch und geben eine Schlange.“ Das slawische Sprichwort ist für alle Nationen gültig.

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