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Trüber Herbst?

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Das Prager neue Team hat einen stürmischen Frühling und einen schwerjafc Vor allem die Arbeit der letzten zwei Monate bestand ausschließlich darin, sich gegenüber den ideologischen Vorwürfen von Osit-Bierlin, Moskau und Warschau zur Wehr zu setzen.

Aus dieser vorerst einmal gewonnen Abwehrschlacht bringen Dub- cek und neben ihm vor allem Präsident Svoboda und Parlamentspräsident Smrkovsky ein vermehrtes Prestige beim eigenen Volk mit, das diese Männer für die nächsten Monate allerdings auch dringend benötigen werden und zum Einsatz bringen müssen. Man darf nämlich nicht vergessen, daß in diesem halben Jahr nicht oder nur wenig regiert wurde. Natürlich beriet man über die Verfassungsänderung und die Neustrukturierung der Republik; natürlich stand Pressefreiheit und Abschaffung der Zensur zur Diskussion. Und (natürlich wurde es — von der Bevölkerung stürmisch begrüßt und weidlich ausgenützt — nach genau zwanzig Jahren ermöglicht, in größerem Ausmaß, wenn auch praktisch ohne Devisen versehen, wieder einmal ins Ausland fahren zu können. Aber gerade diese Auslandsfahrten öffnen den Tschechen in wenigen Stunden die Augen für ein Problem, das für Duböek und sein Team sehr bald die zweite große — und vielleicht schwierigere — Erprobung bringen wird: die Neustruk- turiarung der Wirtschaft und die Befriedigung der Bevölkerung mit den uns selbstverständlich erscheinenden Bedarfsgütern.

Die grundsätzlichen Schwierigkeiteil

Hier wird vermutlich erstmals Dubceks Schwäche zu Tage treten. Denn er ist ein reiner Parteimann. Darin bestand ja auch das Überraschungsmoment bei der Wahl Dubceks, weil man ursprünglich einen stark wirtschaftlich orientierten Par- tedmjaniager erwartet hatte. Aber Duböek hat in seinem engisten Mitarbeiterkreis gleich zwei prominente Wirtschaftsfachleute, was sich allerdings kaum als Vorteil, sondern eher als Nachteil erweisen wird. Einmal Oldrich Cernik, den Regierungschef, der einst ein fähiger Energieminister in der Ära Novotny unter Ministerpräsident Lenart war und eher ein

Verfechter der zehtral gelenkten Wirtschaft mit straffer’ Organisation und Planung . ist Ferner verfügt er über den stellvertretenden Ministerpräsidenten Ota Sik, dem jüngeren, moderneren Typ, der von der Theorie zur Praxis gekommen ist (also umgekehrt wie sein Regierungschef!). Die Differenzen in der Anschauung beider Männer haben schon seinerzeit zu einer Verzögerung der Regierungserklärung geführt. Viele informierte Tschechen sind auch der Ansicht, Ministerpräsident Certiik sei mehr oder weniger eine Verlegenheitslösung gewesen und stelle nur einen Übergang zum künftigen Ministerpräsidenten sik dar. Dieser hat durch eine hochinteressante Fernsehserie über die wirtschaftliche Situation in der Tschechoslowakei in der Bevölkerung stark an Popularität gewonnen. Informierte Kreise halten es allerdings für nieht ausgeschlossen, daß sich Sik auch rasch Verbrauchern könnte.

Die zweite Hürde: die Abhängigkeit von Moskau

Neben diesen personellen Schwierigkeiten, die vielleicht, wenn auch nicht ohne Schwierigkeiten, zu mei- steim sind, treten weitere kimzu, vor allem die starke wirtschaftliche Abhängigkeit Prags von Moskau. Ist es bei den letzten Gesprächen in der Ostslowakei geglückt, Besatzungs- truippen im Land und vor allem an seiner westlichen Grenze zu verhindern, so fürchtet man in Prag, daß Moskau eine Reihe anderer und unauffälliger Wege gefunden hat, Prag fester an sich zu binden. Eine dieser Möglichkeiten bietet sich auf dem wirtschaftlichen Gebiet direkt an. Hier haben ja die Pressionsversuche praktisch schon in der ersten Stunde, also vor mehr als zwanzig Jahren, begonnen, als Prag nach starkem Druck von Moskau die ursprünglich schon zugesagte Teilnahme am Marshallplan zurückgezogen hat und sich damit selbst vom Nachkriegs wiederaufbau ausgeschlossen hat. Nach 1948 ging dann die wirtschaftliche Umstrukturierung der Tschechoslowakei, vor allem die völlige Umstellung des Außenhandels mit Blickrichtung Osten, vor sich und wäre auch beim besten Willen auf allen Seiten — der keineswegs vorhanden ist — nicht rasch rückgängig zu machen. (Man denke nur an die schwierige Rolle der österreichischen Wirtschaft zwischen EWG- und EFTA-Wirtschaftsraum, ohne daß irgend jemand einen Druck auf Österreich ausübt und ohne daß Österreichs Wirtschaft jemals so einseitig ausgerichtet war, wie es jetzt die tschechische ist!) Durch das Comecon kam die gegenüber den anderen Ostblockländern stark industrialisierte Tschechoslowakei noch weiter unter die Räder, so daß sogar noch unter Novotny der Mißmut der Bevölkerung gegenüber einzelnen Comecon-Maßnahmen — etwa den Schwerpunkt der Schuhindustrie nicht mehr in der Tschechoslowakei zu belassen! — offen zutage trat.

Hier, auf wirtschaftlichem Gebiet, hat also Moskau die Tschechoslowakei sehr stark in der Hand. Hier sind vor allem auch keinerlei demonstra tive und auffällige Maßnahmen wie bei Manövern nötig, um die Kandare fest und vielleicht fester anzuziehen. Eine zweifellos vorhandene Bereitschaft des Westens, an einem Wiederaufbau, an einer Umstrukturierung und Belebung der tschechischen Wirtschaft mitzuwirken, wird zumindest gegenwärtig am Mißtrauen Moskaus und Ost-Beirlins scheitern.

Das dritte Handikap: Malaise in der Schwerindustrie

Der auch heute noch lebendige Traum von der guten, nur schlecht geführten tschechischen, Industrie wird sich allerdings sehr bald als Illusion heraulssteilen. Seit der alten Monarchie lag der Schwerpunkt der böhmisch-mährischen Industrie bei Kohle und Staihil, und im allerletzen ungünstigsten Augenblick hat man auch noch in der Ostslowakei ein Stahlwerk errichtet. Gerade auf diesen Sektoren, und vor allem bei der Kohle, hat man auch im Westen mehr Sorgen als Freude. Aber auch mit der übrigen Industrie wird man es nicht einfach haben: Überalterte Fabriken, zu wenig Investitionen, ein Arbeitssystem, das nicht gerade Arbeitseifer und Initiative belohnte — all das wird ets nicht laicht machen, am Weltmarkt, wo die Konkurrenz von Tag zu Tag schärfer wird, rasche Erfolge einzuheimsen. Gewiß sind die Tschechen technisch nicht unbegabt; sie haben keine schlechten Arbeiter, sie verstehen es auch, Auslandskontakte anzuknüpfen und aufrecht zu erhalten. Aber es wird Jahre dauern, um klare und reale Erfolge zu erzielen, und man wird vermutlich Methoden anwenden, die Prag in Moskau neuerlich in Verruf bringen.

Nicht anders ist es auf dem Sektor der Landwirtschaft. Bei mancherlei Liberalisierungsmaßnahmen der letzten Jahre auch unter Novotny war immer die Landwirtschaft ausgenommen. Hier hat man viel straffer und rücksichtsloser kolchosiert als etwa in Polen oder Ungarn — um nur die beiden wichtigsten Nachbarländer zu erwähnen. Dabei liegt das System der Kolchosen vielleicht den Russen und vielleicht den Ostdeutschen, nicht aber den Tschechen. Vermutlich ist’auch eine Rückkehr zura alten selbständigen Ba uernt im. picli£ 0 mMfmöflich’. “Eine Chance hätten allerdings die Tschechen, würde es ihnen gelingen, eine neue Form zu finden, die planvolle Maßnahmen mit der Möglichkeit von Eigeninitiative verbinden könnte, also etwa das, womit sie ihre Kolchosen als Tarnung bezeichnen, nämlich „Eiriheitsgenossenschaften“, also wieder echte, gut funktionierende landwirtschaftliche — oder auf einem anderen Sektor gewerbliche — Genossenschaften. Böhmen, Mähren- Schlesien und die Slowakei sind nun einmal fruchtbare Bauernländer; hier könnte nicht nur der Eigenbedarf weit besser gedeckt werden; auch eine erstklassige Lebensmittelindustrie hätte trotz allem noch Chancen.

Ähnlich ist es auch auf dem Sektor des Fremdenverkehrs. Gewiß wird die Tschechoslowakei vermutlich nie ein Fremdenverkehrsland wie Österreich, die Schweiz, Italien oder Jugoslawien werden. Auf Teilgebieten, etwa für die Hohe Tatra, für Prag und für den Böhmerwald, hat sie reale Chancen. Aber auch hier müßte der Sprung über den eigenen Schatten getan werden: die Errichtung vieler Grenzstellen, das Fallen der Visumspflicht, eine Änderung des Zwangskurses der Krone und eine Hotellerie, die Eigeninitiative zu entwickeln vermag und dafür nicht bestraft wird. Aber auch all das würde sofort neues Mißtrauen im Osten hervorrufen.

Wenn in dieser Lage der stellvertretende Prager Ministerpräsident Professor Ota Sik in der schon erwähnten Fernsehsendung seinen Zuhörern Vorreden möchte, man könne in wenigen Jahren — er nannte zwei!— das Niveau Österreichs erreichen, so ist das nicht nur eine leichtfertige Prophezeiung, denn auch der österreichische Wohlstand konnte nur in schweren Nachkriegs- jaihrzeihnten erwarben werden, zum Teil ist er sogar ein Vorgriff auf die Zukunft. Ähnliche Aussprüche werden allerdings gleichzeitig in Kürze die Glaubwürdigkeit der neuen Männer bei ihren eigenen Landsleuten erschüttern, die, wenn sie real und nüchtern denken, ihre Landsleute auf eine lange und harte Durststrecke aufmerksam machen müßten.

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