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Digital In Arbeit

Gegenwartsprobleme der Tschechoslowakei

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Unter den vielen Erscheinungen, die heute das Leben der Tschechoslowakei umdrängen, machen sich Teuerung und Geldknappheit am ungebärdigsten bemerkbar. Vom Briefporto angefangen über Tramway und Eisenbahn bis zu den Lebensmitteln und anderen Gebrauchsgütern ist alles um hundert und mehr Prozent im Preis gestiegen. Gehälter und Löhne haben die Steigerung nicht mitgemacht, so daß das Geld vielen Haushalten knapp geworden ist, und diese Verknappung wird noch durch die Sperre aller Bankguthaben gesteigert. Nur Personen, die unter 1000 Tschecho-kronen Monatseinkommen haben, dürfen für bestimmte Zwecke, wie Miete, Arztrechnungen usw., Geld abheben. Nun hat, wer ein Einkommen unter 1000 Kronen besitzt, in der Regel kein Bankguthaben. So können diese Verfügung eigentlich nur die Deutschen im Lande benützen, da nur sie entweder gar kein oder nur ein sehr geringes Einkommen haben, aus der früheren Zeit aber noch große Konten besitzen. Unter den Tschechen sind die einzigen, die über Bargeld verfügen, die Staatsbeamten, die am Monatsersten ihr Gehalt bekommen.

Die Geldmaßnahmen der Regierung können nicht als unrichtig bezeichnet werden. Sie zielen darauf ab, sowohl den Schleichhandel zu unterbinden als auch die Bevölkerung zum Arbeiten zu bewegen. Durch sechs Jahre war es eine nationale Tat, jede Arbeit zu sabotieren, durch sechs Jahre war es auch eine nationale Tat, Schleichhandel zu treiben, um Deutschland recht viel Gebrauchsgüter zu entziehen, verbunden mit der Annehmlichkeit, selbst an einem Tag mehr zu verdienen, als mit normaler Arbeit in einem Monat. Sich nun plötzlich wieder an Arbeit und niedriges Einkommen zu gewöhnen geht nicht von heute auf morgen. Wer aber kein Geld hat, kann weder im Schleichhandel kaufen noch ihn betreiben, er muß — so folgerte die Regierung — arbeiten, um nicht zu verhungern. Wer arbeitet, hilft dabei auch gleichzeitig der Republik aus einer wirtschaftlichen Zwangslage heraus. Denn die Arbeitsunlust, die eine allgemeineuropäische Nachkriegserscheinung ist, und der Verlust hunderttausender geschulter Arbeitskräfte, den die Tschechoslowakei durch die Vertreibung der Deutschen erlitten hat, greift an ihren Lebensnerv. Der Lebensnerv eines jeden Staates, und insbesondere eines solch hochindustrialisierten, wie es die Tschechoslowakei darstellt, ist die Kohlenproduktion. Stockt sie, bleibt die ganze Wirtschaft stehen. Und die Kohlenförderung der Republik blieb und bleibt hinter den Bedürfnissen des Staates zurück, obwohl im Vergleich mit anderen vom Krieg betroffenen Ländern die Bergwerke, die Bahnanlagen und der Waggonpark der Republik nur zu einem kleinen Teil Zerstörungen erlitten haben. Die Tschechoslowakei, eines der reichsten Kohlenländer Europas, mußte, um Kohlen zu sparen, von Weihnachten bis Neujahr, alle Schnellzüge, bis auf den Schnellzug Prag—Preßburg, und zahlreiche Personenzüge einstellen. Viele Wohnungen in Prager Miethäusern, die Zentralheizungen besitzen, sind kalt, da solche Kohlenmengen, wie sie zur Erheizung ganzer Häuser notwendig sind, nicht zur Verfügung stehen. In der Bekämpfung der Arbeitsunlust hatte die Regierung mit ihrer Finanzpolitik Erfolg. Was den Ersatz der deutschen Arbeitskräfte anlangt, steht sie aber noch vor einer schweren Aufgabe. Hunderttausende von . Deutschen sind schon fort, über zwei Millionen sind aber noch da. Ihre Aussiedlung sowie die Neubesiedlung der Sudetenländer ist eines der schwierigsten Probleme, vor das sich der Staat gestellt sehen kann. Die Lage der Deutschen, die noch in der Tschechoslowakei leben, kann man ungefähr mit der Lage der Juden in Hitler-Deutschland vergleichen. Das heißt, sie besitzen nicht die Staatsbürgerschaft, dürfen keinen Grund und Boden besitzen, keine Industrien, müssen mit einer weißen Binde als Abzeichen gehen, dürfen keine Kinos, Kaffee- und Gasthäuser besuchen, haben bestimmte Einkaufszeiten in den Geschäften, dürfen die Eisenbahn nur mit besonderer Erlaubnis benützen und haben besondere Lebensmittelkarten, auf die sie kein Fleisch und nur wenig Fett erhalten (auf die sie aber doch immer noch mehr bekommen als die Wiener auf ihre Lebensmittelkarten). Deutsche, die Arbeiter in Schwerindustrien sind, erhalten Zusatzkarten, auf die sie dann bis zu 60 Dekagramm Fleisch beziehen können. Ehenzwi sehen Deutschen und Tschechen sind verboten. Die meisten Deutschen sind schon aus ihren alten Wohnungen ausgezogen und wohnen in Lagern oder kleinen Behelfswohnungen. Am 15. Jänner sollten die Ausweisungen für alle Deutschen, die noch im Lande sind, bis auf ungefähr 600.000 beginnen. Da aber nicht nur die amerikanischen und englischen, sondern auch die russischen Besatzungsbehörden Deutschlands erklärten, daß eine Aufnahme solcher Menschenmassen in ihre Zonen derzeit unmöglich sei, mußte die schon so oft geplante Ausweisung wieder auf einen späteren Zeitpunkt verschoben werden. Theoretisch steht den Deutschen das Optionsrecht für die Republik offen, aber es machen nicht viele Deutsche davon Gebrauch, und amtliche Listen stellen fest, welche Deutsche in der Republik bleiben dürfen. Es sollen ungefähr 600.000 sein, deren Auswahl in erster Linie nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten erfolgen soll. Textilarbeiter stehen an erster Stelle, dann kommen die anderen Zweige, in denen Deutsche besonders bewandert sind, wie Musikinstrumenten-, Spielzeug- und Glaserzeugung. Diese Deutschen will die Republik in ihrem Lande lassen, um ihr wirtschaftliches Potential nicht zu sehr zu schwächen, das durch die Ausweisung so vieler Arbeitskräfte ohnedies eine starke Verringerung erfahren hat, wie dies der Präsident der Republik, Dr. Benesch, unumwunden ausgesprochen hat. Eine so geringe Anzahl von Deutschen, die außerdem noch politisch gesiebt sind, werden keine nationale Bedrohung mehr für ihn darstellen.

Die Deutschen selbst wollen nicht mehr in der Republik bleiben. Auch die deutschen Sozialdemokraten und Kommunisten, die am meisten Aussichten haben, bei einer Option die tschechoslowakische Staatsbürgerschaft wieder zu erhalten, gaben an ihre Anhänger die Parole aus, das Land freiwillig zu verlassen. Viele, besonders ältere Leute, möchten gern nach Österreich. Die meisten zieht es nach Bayern, dem Lande, das sie aufnehmen muß, in dem sie gleichberechtigt sind und nicht als Flüchtlinge gelten, in dem sie wieder Eigentum erwerben können, in dem man 35 Dekagramm Fleisch die~Woche hat. Es gilt als das goldene Land. Viele haben ihre deutschen Banknoten gar nicht abgeliefert, sondern sich tausende Mark zurückbehalten, um mit einem gewissen Vermögen nach Bayern zu kommen. Alle diese haben durch die Markabstempe-lung, die am 15. Jänner begann, eine Enttäuschung mehr erfahren. “'

Die Besiedelung der Grenzgebiete, wie das Sudetenland jetzt' amtT lieh heißt, durch die Tschechen bildet eine der schwerstenFaktorfragen der Verwaltung. Ersatz für drei Millionen aus einem Volk zu finden, das selbst nicht sieben Millionen zählt, ist nicht einfach. Weite Gegenden des Landes werden unbe-siedelt bleiben müssen, insbesonde're die armen Gebirgsgegenden, denn niemand wird sich gern aus dem reichen Innerböhmen dort ansiedeln lassen. Eine Reihe vonHaus-i n d u s t r i e n, die Böhmen berühmt gemacht haben, wie die Spitzenklöppelei, werden dadurch verschwinden. Auch andere Teile der sudetendeutschen Wirtschaft werden dieses Schicksal teilen, da der Staat nur für die wichtigsten Zweige Ersatzarbeitskräfte aufbringen kann. Die Geschäfte, Kinos und Kaffeehäuser in den Randgebieten gähnen vor Leere, da Deutsche sie nicht besuchen dürfen und Tschechen nicht da sind. Eine große Anzahl davon, vielleicht bis zu einem Drittel, werden sperren müssen.

In letzter Zeit macht sich auch unter den Tschechen, die nach dem Umbruch in die Randgebiete kamen, eine leichte rückläufige Bewegung geltend. Die wirtschaftlichen Aussichten — an Stelle der wegfallenden Deutschen selbständige Geschäftsleute zu werden oder vom Arbeiter und kleinen Beamten in leitende Stellungen zu gelangen — ließ Tausende von Tschechen in den ersten Monaten des Umbruchs aus dem Innern Böhmens in die Randgebiete strömen. Die wirtschaftlichen Erwartungen wurden besonders bei Leuten, die Geschäfte übernahmen, nicht erfüllt. Vielfach verdienten sie früher im Innern Böhmens mehr, woraus sich der Wunsch erklärt, teilweise wieder aus den Randgebieten zurückzugehen. Dazu kommt noch ein anderer Grund: Im Innern Böhmens lebt es sich besser als in den Randgebieten. In den agrarisch armen Rand-, gebieten muß jeder von dem leben, was er auf die Karten erhält, und das ist für den Lebensstandard bisheriger Bewohner der landwirtschaftlich reichen Binnengebiete zu wenig.

Die Frage des Ersatzes der Deutschen wirft seine Schatten auch bis in das Leben der katholischen Kirche. Wie besonders Radikale alle Deutschen entfernen wollen, ertönte auch der Ruf: „Alle deutschen Priester aus dem Lande hinaus!“ Der tschechische Generalvikar der Diözese L e i t-m e r i t z erklärte dazu öffentlich, ein Ersatz der deutschen Priester sei unmöglich. Von den ungefähr 500 Pfarreien der Diözese seien 300 mit deutschen Priestern besetzt, die übrigen mit Tschechen. Selbst wenn, so erklärte der Generalvikar, in den neuen Jahrgang des Priesterseminars 3Ö0 tschechische Kandidaten der Theologie eintreten würden, was aber nie zu erwarten sei, brauche es noch fünf Jahre, bis sie Priester sein würden. Er trete deshalb dafür ein — und dies ist das erstemal, daß es jemand öffentlich wagte, ein Wort für die Deutschen einzulegen —, daß man einen guten deutschen Priester, wenn / man keinen entsprechenden Ersatz für ihn hätte, weiter auf ; seinem Wirkungskreis belassen solle. Priester sei Priester, und Gottesdienst sei Gottesdienst. Der Universalismus der katholischen Kirche, vor dem alle Nationen gleich sind, spricht aus diesen Worten eines Tschechen So werden die deutschen Geistlichen, obwohl auch sie alle das Land verlassen möchten, am längsten von den meisten Deutschen im Lande bleiben. Die Kirchen sind übrigens der einzige Ort, wo man noch öffentlich Deutsch hört, denn es wird nach wie vor in ihnen deutsch gebetet und gepredigt. Die strikte Forderung Roms, jedem Menschen da* Evangelium in seiner Muttersprache zu bringen, wird trotz aller Schwierigkeiten auch in diesem Lande durchgeführt.

Neben der nationalen Umschichtung bildet die materielle Umschichtung des Landes eines der weiteren großen Probleme. Man steht damit erst am Anfang. Bekanntlich soll die ganze Schwer- und Schlüsselindustrie verstaatlicht werden, eine Bodenreform ihr folgen. Die Verstaatlichung der Schwerindustrie ist nicht so kompliziert, wie man vielleicht auf den ersten Blick glaubt. Soweit sie. in deutschem Besitz war, konnte die Verstaatlichung keiner Schwierigkeit begegnen, da sie mit einem einzigen Akte ihren alten Besitzern abgenommen wurde. Und die tschechische Schwerindustrie ist dermaßen verschuldet, daß auch ihre Verstaatlichung nur eine Wohltat für die Unternehmen bedeutet. Ursache der Verschuldung war das System der deutschen Besetzung. Es zwang ihnen, wie auch den reichsdeutschen Schwerindustrien, Investitionen auf, die nur mit staatlicher Hilfe durchgeführt werden konnten, und es zwang sie weiter, bei genormten Löhnen und Preisen für die Rüstung in einer Weise zu arbeiten, die die Industrien wieder nur mit staatlichen Zuschüssen durchhalten konnten. Dieses Vorgehen des Deutschen Reiches entsprang offenkundig dem Streben, die gesamte Industrie in irgendeiner Art zu sozialisieren. Nur trägt die Früchte heute nicht Deutschland heim, sondern der tschechische Staat, der über die Kredite, die Deutschland gegeben hat, die ganze Industrie leicht verstaatlichen kann. Kompliziert wird dies für die Republik nur bei jenen Industrien, die im Besitz alliierter oder neutraler Staatsangehöriger sind. Die Amerikaner erklärten bereits, daß sie „für die Lage der Tschechoslowakei volles Verständnis“ aufbringen, was aber nicht alles sagt. Die Engländer verlangten volle Entschädigung in guter Währung für die britischen Besitzanteile. Die Briten konnten dabei auf das Vorgehen im eigenen Lande verweisen, wo bei Sozialisierungen, wie im Falle der Bank von England, die früheren Besitzer voll entschädigt werden. Eine Einigung steht noch aus, doch wird die Auszahlung der ausländischen Besitzanteile, zu der es in irgendeiner Form kommen muß, den Staatssäckel schwer belasten. Kompliziert ist auch die Frage, was mit der mittelgroßen Industrie, an der die Tschechoslowakei sehr reich ist, geschehen wird. Fabriken mit über 500 Arbeisern fallen schon' unter die Enteignung, die kleineren Industrien will man in Genossenschaften zusammenfassen, bei denen die früheren Eigentümer Anteile erhalten sollen.

Über die Bodenreform selbst wird derzeit nicht viel geredet, sie ist vor den anderen Vorhaben und Aufgaben ganz i n den Hintergrund getreten.

Wahrscheinlich will man erst das Problem der Enteignung gelöst haben, bevor sich die Regierung Neuwahlen und einem Parlament gegenübersehen will, das vielleicht eine andere Zusammensetzung hat als die heutige Regierung, in der alle Parteien gleichmäßig verteilt sind. Es gibt im ganzen nur vier Parteien: zwei Linksparteien — die Kommunisten und Sozialdemokraten — und zwei Mittelparteien — die Volkspartei, die, solange die tschechoslowakische Regierung in London ihren Sitz hatte, den Ministerpräsidenten stellte, und die tschechoslowakischen Nationalsozialisten, die Partei, der Präsident Dr. Benesch angehörte. Die A g r a r-p a r t e i, bis zum Jahre 1938 die größte tschechische Partei, die außerdem einen ausgesprochenen Rechtskurs verfolgte, ist ganz verschwunden. Ihre Anhänger dürften größtenteils der Volkspartei ihre Stimme geben. Die Kommunisten besitzen auf dem Land fast gar keine Anhänger. Dafür scheint die tschechische Intelligenz weitgehend links eingestellt zu sein. Erst die kommende Wahl, der man mit Spannung entgegensehen kann, wird über die künftige Kräfteverteilung endgültige Klarheit schaffen. Es wird, wie immer die Wahlen entscheiden, das Land großer Staatsmänner bedürfen, um die außerordentlichen wirtschaftlichen und sozialen Aufgaben zu meistern.

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