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Bewegung ist alles

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Es ist schon öfters auf den merkwürdigen Sachverhalt hingewiesen worden, daß dem ersten „modernen Menschen“, Goethe, bei seinen Reisen ins Ausland kein anderes Zugmittel zur Verfügung starid, als tausend Jahre vorher Karl dem Großen: das Pferd. Dafür hat tausend Jahre vor Karl ein Volk, nämlich die alten Römer, technisch mehr vom Verkehr verstanden, als viele andere nach ihnen bis zur Neuzeit. Die Römer haben, wie aus Überresten ihrer herrlichen Traversal-straßen erkennbar ist, als erste erkannt, daß sich Wagenräder leichter

und schneller in einer bereits vorhandenen Spur fortbewegen als auf einer gewöhnlichen Straße. Es dauerte achtzehn Jahrhunderte, ehe zwei Österreicher, Gerstner, Vater und Sohn, sich daran ein Beispiel nahmen und die erste Eisenschienenbahn für von Pferden gezogene Wagen auf der Strecke Budweis—Linz—Gmunden schufen. Unterdessen hatte in England eine Reihe von Leuten versucht, die Erfindung des alten Watt, die Dampfmaschine, als Mittel zur Fortbewegung über Entfernungen zu adaptieren. Sie cheiterten zumeist an dem schlechten Zustand der Straßen, auf denen sie die von ihnen konstruierten Dampfvehikel laufen ließen. Bis ein Walliser, Tre-vithick, sich der Hunte besann, die in seinen heimatlichen Bergwerken auf Schienenspuren geführt wurden. Doch auch er scheiterte — an dem zu schwachen Material, das ihm für Schienen zur Verfügung stand. Georges Stephen-son hatte mehr Glück, und am 18. September 1825 wurde die erste normale Dampfeisenbahn von Stockton nach Darlington mit von Stephenson konstruierten Lokomotiven eröffnet. Sieben Jahre, ehe Gerstners Pferdeeisenbahn in Betrieb ging. 1812 war Vater Gerstner mit seinem Projekt bereits hervorgetreten, und der Sohn war bei der Verwirklichung von der Dampflokomotive überholt worden.

Bis dahin — und auch noch einige Zeit nachher — war man mit Postkutschen gereist — wenn man unbedingt mußte. Es sei denn, daß man sehr reich war und sogar einer Pferdewagenreise einigen Komfort abzugewinnen vermochte. (Die alten Römer hatten bereits Schlaf-, ja' sogar Spiel-und Toilettewagen besessen. Allerdings nur eine kleine gehobene Klasse von Römern.) Zu Goethes Zeit und auch noch lange nachher hat die überwiegende Zahl der Menschen in Europa kaum je ihre Heimatgemeinden, außer vielleicht zu Wallfahrten oder auf der Flucht vor Krieg und Seuchen, verlassen. Ja, noch nach dem ersten Weltkrieg gab es Wiener, die nie aus Margareten oder Ottakring herausgekommen waren.

Seither hat sich einiges verändert, wie durch folgende Zahlen illustriert wird:

Der Mensch in Bewegung

In einem Jahr, 1960, sind 162,5 Millionen Menschen auf den österreichischen Eisenbahnen gefahren. Das ist noch nicht alles. Rund 50 Millionen Menschen haben die Autobusse der

Bundesbahnen benützt, 67 Millionen die Postautobusse und SO Millionen die verschiedenen privaten Autobuslinien in Österreich. Hierin sind nicht die Personen eingerechnet, die auf ausländischen Autobussen oder mit eigenen Autos in Österreich einreisten. Man weiß jedoch, daß per Bahn nur 16 Prozent der ausländischen Touristen im stärksten Monat des Fremdenverkehrs — im August — nach Österreich kommen. Die anderen kommen in Autos. Wieviel das sind, darüber später. Vorerst soll noch an die 3 50.000 österreichischen Autobesitzer erinnert

werden, von denen gut 80 Prozent mit ihren Familien im eigenen Wagen im In- und Ausland herumreisen und nicht mit der Bahn.

Wie groß das Kommen und Gehen der Menschen (und was ist der Verkehr heute denn sonst?) geworden ist, lassen jene erkennen, die nicht in ihren eigenen, sondern in fremden Betten schlafen. Rund vierzig Millionen Menschen haben im Jahre 1959 in den österreichischen Hotels, Pensionen und Gasthöfen übernachtet. Von ihnen waren 24 Millionen Ausländer und 16 Millionen Inländer. In Wirklichkeit war es natürlich nur ein Bruchteil dieser Zahl, denn die meisten dieser Leute haben ja nicht nur eine Nacht in den Fremdenunterkünften verbracht. Doch wenn wir annehmen, daß jeder im Durchschnitt 14 Tage von zu Hause weg war, dann sind das immer noch rund drei Millionen Menschen gewesen. Hierin sind aber jene Österreicher nicht eingerechnet, die ihren Urlaub im Ausland verbrachten.

Zu einer Jahreszeit, da auch Goethe es sich sehr überlegt hat, zu reisen, und ein Durchschnittsmensch es überhaupt vermieden hat, den Fuß aus der

Tür zu setzen, im Februar, war die Zahl der Nächtigungen in Hotels usw. der österreichischen Wintersportorte: 1,719.231. Davon waren 1,082.400 Ausländer- und 636.831 Inländerübernachtungen.

Man verdaue diese Zahlen und stelle sich vor, was für eine Umwälzung im Verkehr der Menschen seit Goethes Zeit vor sich gegangen ist. Es ist übrigens eine Reihe von Umwälzungen. Die erste, hauptursächliche, kam mit der Einführung der Dampfmaschine. Durch sie wurden weite Gebiete sowohl für den Verkehr als auch zum Teil durch diesen wirtschaftlich und industriell erschlossen und entwickelt. Damit wurde das Anwachsen der Städte und großer Menschenmassen ermöglicht.

Durch die erste industrielle Umwälzung wurden weitere bewirkt: die durch den Verbrennungsmotor und die Elektrizität hervorgerufenen. Durch sie wurden die Auswirkungen der ersten aut die Menschen akzentuiert und verbreitert. Die gleichen Kräfte, welche zur „Verstädterung“ des Menschen geführt haben, nimmt er nun in Anspruch, um sich der negativen Auswirkungen der Verstädterung zu entziehen. Denn es besteht kein Zweifel, daß der Wandertrieb, der einst eine Ausnahmeerscheinung oder nur eine der Adoleszenz war, heute zu einer Eigenschaft des modernen Menschen geworden ist. Leider sind — entgegen einer Behauptung des englischen Historikers Buckle — die Menschen durch die Lokomotive und neueren Kommunikationsmittel nur räumlich, aber nicht als Menschenbrüder einander nähergekommen. Wir mögen im Ausland oder die Ausländer mögen bei uns umhergehen — sie und wir kaum mehr unterscheidbar in Kleidung und Gehaben —, aber sie und wir kommen uns dadurch allein ebensowenig nahe wie wir oder wie sie den Menschen, mit denen wir oder sie sonst an einem Orte leben.

Wer schreibt noch Briefe?

Sehen wir, ob diese merkwürdige Ambivalenz von Fremdheit und Annäherung durch einen anderen Zweig unseres Verkehrswesens erwiesen wird. Post- und Fernmeldewesen haben nahezu gleichzeitig und gerade durch die Entwicklung der Dampfkraft und Elektrizität einen enormen Aufstieg erlebt. Der Erhalt eines Briefes ist ein an sich großes Erlebnis für den Menschen früherer Zeiten gewesen. Unter den Aufschlagkarten, mit denen er seine Zukunft erkunden wollte, befand sich eine: „Brief steht ins Haus.“ Jedenfalls wird es uns heute technisch bedeutend leichter gemacht, jemandem schriftlich

mitzuteilen, was wir von ihm und von uns und von der Welt im allgemeinen denken.

Die österreichische Post hat im Jahre 1960 nicht weniger als 3 84 Millionen Briefe und Postkarten befördert. 122 Millionen davon stammten aus dem Ausland. Die übrigen 262 Millionen haben wir 5 Millionen erwachsene und des Schreibens fähige Österreicher einander zugesandt. Demnach hat durchschnittlich ein jeder von uns 56 Briefe im Jahr, also einen pro Woche verfaßt. Ist das viel oder wenig? Verglichen mit Goethes Zeit ist es viel. Damals hat zunächst mindestens ein Drittel unserer Bevölkerung überhaupt nicht Lesen und Schreiben gekonnt. Aber auch die Mehrzahl der anderen war mit allen ihren Beziehungen so sehr auf die allernächste Umgebung beschränkt, daß die meisten Mitteilungen mündlich gemacht wurden. Nur junge Liebende verkehrten damals gerne brieflich, auch wenn der andere Teil um die Ecke wohnte. Von dergleichen ist heute nichts bekannt.

Bedenken wir jedoch, wie viele der Briefe, die wir schreiben oder erhalten, nur geschäftlich sind und Mahnungen von Installateuren und Hafnern oder Mitteilungen vom Steueramt enthalten. Umgekehrt aber lebt die Literatur heute noch von den Briefwechseln großer Persönlichkeitem des 18. und 19. Jahrhunderts, die allwöchentlich, manche sogar täglich, Dutzende geistreiche Episteln an ihre Freunde sandten. Wer schreibt heute noch geistreiche Briefe? Ja wer teilt sich heute überhaupt noch mit? Es scheint, daß die Menschen nicht nur einander, sondern auch sich selbst uninteressant geworden sind.

Geben wir noch nicht die Hoffnung auf, denn es ist noch von einem anderen Kommunikationsmittel die Rede. Rund 700.000 Österreicher haben ein Telephon. Oder die Firma oder das Amt, in dem sie beschäftigt sind, hat eines. Den anderen stehen 9066 öffentliche Sprechstellen zur Verfügung. Mittels all dieser, Telephone wurden im Jahre 1960 zirka 300 Millionen Gespräche geführt. Das scheint ungeheuer viel. 300 Millionen Gespräche zwischen je zwei Menschen, wenn auch kaum je von längerer Dauer als fünf Minuten. Auf dem Lande mag man vielfach des Telephons kaum für andere als wirklich elementare Gelegenheiten bedürfen; in der Stadt jedoch ist es für viele zum eigentlichen Verständigungsmittel und oft einzigen Zugang zu der Vielwelt geworden, die sie umgibt.

Verstaatlichungs-Pingpong vor hundert Jahren

Aus all dem bisher Gesagten ist erkennbar, daß dem Verkehrsministe-| rium unendlich viele und sehr komplexe technische und organisatorische Aufgaben ständig gestellt sind. Unterstehen ihm doch so riesige Organisationen wie die der Bundesbahnen und der Post, von den übrigen vorläufig nicht zu reden. Man wird überrascht sein, zu hören, daß das Verkehrsministerium selbst gar nicht eines der größten ist und verhältnismäßig wenig Bedienstete hat — 18 51 an der Zahl.

Und die 80.646 Eisenbahner und die 46.544 Postler? Sie unterstehen dem Verkehrsministerium eigentlich gar nicht oder nur mittelbar, sondern vor allem den Generaldirektionen der ÖBB und der Post. Die beiden Generaldirektoren sind gleichzeitig Chefs der Sektion II, respektive Sektion III des Ministeriums. Sie vereinigen merkwürdigerweise doch anscheinend erfolgreich in ihrer Person sowohl die Funktion der Aufsichtsbehörde als auch der Leiter von beaufsichtigten Unternehmungen. Und so unterstehen zwar die Herren Dr. S c h a n 11 und Dr. S c h a-g i n g e r dem Minister, aber den Eisenbahnern und den Postlern haben nur sie etwas zu sagen, leaum aber der Minister, so sehr er selber für alles, was die beiden Organisationen betrifft, vor dem Ministerrat und dem Parlament geradestehen muß. In den Erläuterungen zum Bundesfinanzgesetz 1962 (wo die Budgets des Ministeriums und der ÖBB fein säuberlich getrennt sind), gibt es über Geschichte und Organisation der Bundesbahnen die folgende Erklärung:

„Das Hofkanzleidekret von 23. Dezember 1841 stellte das erste großangelegte Eisenbahnprogramm auf. Ein Jahr später wurde die .Generaldirektion der Staatseisenbahnen' gegründet. Nachdem schon 1896 ein eigenes Eisenbahnministerium gegründet worden war, begann 1906 die umfassende Verstaatlichung der großen Privatbahnen.“

Diesen mageren Extrakt der Geschichte der Eisenbahnen dürfte ein Beamter des Finanzministeriums, kaum ein Eisenbahner, verfaßt haben. Er stimmt nämlich nicht. Die erste Entwicklungsphase der Eisenbahnen von 1836 bis 1841 war privat und stand unter der Ägide der Bankhäuser Geymüller, Rothschild und Sina. Denen ging infolge einer schweren Wirtschaftskrise, die auch den Finanzmarkt lahmlegte, für die Weiterführung und den Ausbau der Bahnen das Geld aus, und sie wandten sich an den Staat, er möge ihren Aktionären die Zahlung der Zinsen garantieren. Der zog es vor, die Bahnen in eigener Regie zu übernehmen. Und es gibt dazu eine historische Erklärung des Präsidenten der Hofkammer, Kübeck:

Die öffentlichen Rücksichten

„Es ist offenbar, daß hier nicht die pekuniären Vorteile, sondern vor allem die öffentlichen Rücksichten, nicht die in der kürzesten Frist sich in Aussicht stellende Rente, sondern die ferne, aber um desto nachhaltiger wirkende Zukunft fest und ununterbrochen im Auge behalten werden müsse, und daß die Voraussetzungen, welche es rätlich machen, bei kleinen kurzen Bahnen die Privatbahnbetriebsamkeit walten zu lassen, bei großen Bahnen durchaus nicht zutreffen.“ Kübeck genoß hierbei die Unterstützung zweier so verschiedener Männer wie Kossuth und Metternich. 18 54 wiederholte sich das Spiel, aber umgekehrt, nun war dem Staat das Geld ausgegangen, und er, oder vielmehr Ministerpräsident Bruck, verklopfte die Bahnen an die „Credit Mo-bilier“ der Brüder Pereire und an ein internationales Konsortium um je 315 Millionen Gulden Courantmünze und 200 Millionen französische Francs. 1873 reversierte sich das Ganze aufs neue infolge des eewaltieen Börsen-

krachs, der Staat brachte alsogleich die Elisabeth-, die Franz-Josef- und die Rudolfs-Bahn an sich, half den notleidenden Privatiers mit Garantien der Zinsenzahlungen an die Aktionäre, übernahm jedoch ständig eine Bahn nach der anderen, so daß 1894 der staatliche Bahnsektor bereits größer war als der private. Doch jioch immer, heute, ist die Südbahn in Privatbesitz der Donau-Save-Adria-Eisenbahngesell-schaft. obwohl sie vom Staate geführt wird. Heute lautet das Eigentums- und

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