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Auf Schienen ins 21 Jahrhundert

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Knapp vier Jahrzehnte trennen uns vom Beginn des 21. Jahrhunderts. Die Verkehrsanlagen, die wir heute errichten, werden das Verkehrsnetz und damit den Lebensraum des neuen Jahrhunderts bestimmen, denn Investitionen der Infrastruktur sind langlebig. Auf diesem Gebiet ist ein Blick in die Zukunft also keineswegs Vision, sondern gründet sich auf Tatsachen, die sich im Verkehrswesen bereits allerorts deutlich zeigen.

Gegenwärtig beschäftigen sich in weltweitem Maßstab zwei große Ausstellungen mit der vorausschaubaren Zukunft: die New Yorker Weltausstellung und die Expo 1964, die schweizerische Landesausstellung in Lausanne. Beide weisen dem Schienenverkehr eine überragende Bedeutung für unsere Zukunft zu. So charakterisiert eine Weltausstellungssonderbeilage der „New York Times“ Stadtschnellbahnen als den „Schlüssel für die Zukunft der amerikanischen Großstadt“, und eine Broschüre der Expo erkennt klar und wegweisend: „Die Eisenbahnen — und zwar Haupt-, Neben-, Spezial- und Stadtbahnen — befinden sich heute in einem Evolutionsprozeß ungeheuren Ausmaßes.“

Diese Entwicklung kam für die Verkehrswissenschaft keineswegs überraschend, denn sie entspricht technisch-wirtschaftlich folgerichtig der Entwicklung im Industriellen Zeitalter, die nur vorübergehend durch das Eindringen des Automobils unterbrochen war. Das individuelle Verkehrsmittel stellt die Urform der Verkehrsorganisation dar und war dem vorindustriellen Zeitalter mit seinen bescheidenen Transportaufgaben adäquat. Sein Wiederaufleben — wohl technisch auf höherem Stand, aber organisatorisch unzulänglich wie vordem — konnte daher nicht von Dauer sein, denn das Verkehrsbedürfnis unserer Zeit der Großstädte, der Massenproduktion, des Massenkonsums und der Massenkultur kann nur ein Massenverkehrsmittel (das aber dennoch schnell und bequem sein muß) befriedigen.

Der vorübergehende Siegeszug des Automobils war nicht technischwissenschaftlich begründet, sondern psychologisch und kommerziell. Jede vernünftige Gegenstimme wurde mit unbeweisbaren Modeargumenten („Der Trend geht eben in diese Richtung“, „Die Straße ist die Trägerin des modernen Verkehrs“) unterdrückt. Alles Mahnen verantwortungsbewußter Wissenschaftler schien jahrelang vergeblich; die „psychologische Kriegsführung“ der Auto- und Erdölwirtschaft war wirksamer als nüchternes Rechnen. Selbst hohe Funktionäre der Eisenbahnen hatten den Glauben an die Zukunft ihres Unternehmens verloren; sie waren dem propagandistischen Trommelfeuer erlegen, ließen sich in die Defensive drängen und suchten in der „Gesundschrumpfung“ ihr Heil.

Man rechnet wieder

Heute hat sich das Auto — vor allem in den Riesenstädten der USA

— durch sein massenhaftes Auftreten sein eigenes Grab geschaufelt. Nur zwei Beispiele zeigen, daß das vorauszuberechnen war:

• Wollten alle, die im 1. Wiener Gemeindebezirk ihre Arbeitsstätte haben, mit dem eigenen Auto zur Arbeit fahren, so wäre eine Park fläche im Gesamtausmaß dieses Bezirkes notwendig.

• Nur eine Superautobahn mit 28 (!) Fahrstreifen könnte eine

Schnellbahnlinie mit einer Kapazität von 40.000 Personen pro Stunde, wie sie die Zentren der Weltstädte benötigen, ersetzen.

Solche und ähnliche einwandfreie Berechnungen lagen seit Jahrzehnten vor, aber die Maßgebenden ließen sich von ihnen — die Mathematik hat ja leider bei uns nie einen guten Ruf gehabt und wird mehr als Schülerschreck denn als Wissenschaft gewertet — weniger beeindrucken als von der Idee der „autogerechten Stadt“, die heute selbst eine rein marktwirtschaftlich eingestellt“ Institution wie der Deutsche Industrie- und Handelstag als gescheitert ansieht (DIHT- Schriftenreihe, Heft 84, S. 15). Von ihr träumen nur noch technischutopische Zeitschriften einschließlich der Presseorgane der Automobilklubs.

Kreisel- und KleCblattentwicklun- gen usw. bezeichnet Stadtplaner Ernst May von der Technischen Hochschule Darmstadt als verfehlte Investitionen. Diese Erkenntnis sollte Wien beherzigen und in den inneren Bezirken die letzten freien Flächen (Donaukanal- und Wien flußufer) nicht Schnellstraßen opfern, sondern sie als Erholungsgebiete bewahren. Die statistischen Angaben über das zahlenmäßige Anwachsen der Grünflächen in Wien verschweigen, daß nur an der Peripherie neue entstehen, sie jedoch in der Kernstadt, wo sie am dringendsten notwendig sind, sogar abnehmen. Obwohl die Kriegszerstörungen reichlich Gelegenheit geboten hätten, hat das Wien der Zweiten Republik in keinem Fall das Häusermeer durch große Parkanlagen aufgelockert. Wie wohltuend wäre zum Beispiel eine Parkanlage an Stelle des Wiedner Spitals gewesen. Man hat sogar den Park des Rainer- Palais einem Kommerzpalast geopfert. Dem Erholungsraum des Großstädters widmen jetzt erst die politischen Funktionäre mehr Aufmerksamkeit (Erholungskonzept des Wiener Stadtrates Dr. Glück vom Mai 1964 und V erkehrs-Gesundheits- Kongreß der SPD im Februar 1964 unter der Devise „Gesundheit um ‘jeden Preis — Mensch und Ver kehr"). Hoffentlich wird die Sorge um die Gesundheit der Stadtbevölkerung über die Förderungen der Autofahrer siegen!

Wien gibt ein Beispiel

Die böswillige Kritik und die trüben Prophezeiungen, die Wiens erste Schnellbahnlinie in den langen Jahren ihrer schweren Geburt — die vor allem finanziell bedingt war — über sich ergehen lassen mußte, waren wie weggeblasen, als im Jänner 1962 die ersten Schnellbahnzüge mit phantastischer Pünktlichkeit, gutem Fahrkomfort, höchster Sicherheit und — ein beachtenswertes Beispiel für organisatorische Voraussetzungen zum Erfolg technischer Lösungen — günstigem Einheitstarif ihre Feuerprobe bestens bestanden hatten. Die ÖBB haben den Wienern gezeigt, was moderner Stadtverkehr ist. Der öffentliche Verkehr Wiens war ja praktisch in den 50 Jahren von 1860 bis 1910 (Pferdebahn, Dampftramway, elektrische Straßenbahn, Stadtbahn) aufgebaut worden, stagnierte aber in den folgenden 50 Jahren. So hatten es seine Gegner leicht, Straßenbahnwagen der Jahrhundertwende gegen moderne Automobile auszuspielen.

Nun, da die Schnellbahn selbst die optimistischesten Erwartungen übertroffen hat — ihre Frequenz ist von 40.000 auf 90.000 Fahrgäste pro Tag gestiegen —, ergibt sich als logische Folge ihr weiterer Ausbau.

Gute Zusammenarbeit zwischen den ÖBB und der Gemeinde Wien ließ nun ein Projekt reifen, das der Öffentlichkeit vorgelegt wurde und der Wiener Bevölkerung wesentlich Vorteile verspricht. Die Stadtbahnlinien sollen wieder Vollbahnen werden, und statt der Tramwaystadtbahn (Höchstgeschwindigkeit vierzig Sundenkilometer) sollen Schnellbahnzüge (100 Stundenkilometer) fahren. Die beiden Bruchstellen mit den Umsteigemassen in Heiligenstadt und Hütteldorf werden verschwinden, weil die Schnellbahnzüge auf die Franz-Joseph-Bahn und die Westbahn übergehen. Auch alle anderen von Wien ausgehenden Bahnlinien sollen mit elektrischem Vororteverkehr ausgestattet werden. Allerdings müßte auch die Vorortelinie (Heiligenstadt—Ottakring—Penzing) in das Schnellbahnprojekt einbezogen werden, in ihrem Bereich sind doch in den letzten Jahrzehnten große Wohnviertel und wichtige Industriebetriebe entstanden, die heute eine stärkere Frequenz erwarten lassen, als sie die Dampfzüge in den dreißiger Jahren aufzuweisen hatten. Die zur Straßenbrücke umgebaute Nordwestbahnbrücke dürfte doch im Schienennetz fehlen, denn über sie hätte sich der Verkehr aus dem Nordwesten unter Umgehen der innerstädtischen Knoten auf die westlichen Außenbezirke ablenken lassen, wie es bereits früher mehrmals gefordert worden war.

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