6951368-1984_13_15.jpg
Digital In Arbeit

Um die Identität Niederösterreichs

Werbung
Werbung
Werbung

Vor nunmehr 21 Jahren schrieb ich in einem Artikel für diese Zeitung: „Ein Land braucht ein Zentrum, um sich gesund weiterentwickeln zu können. Es braucht einen Brennpunkt, wo sich Eliten bilden können. Heute kehrt ein Großteil gerade der tüchtigsten jungen Niederösterreicher seinem Heimatland den Rücken und wandert — angelockt durch bessere Aufstiegsmöglichkeiten und einen höheren Lebensstandard — nach Wien ab."

Vor zehn Jahren schlug ich der Niederösterreichischen Landesregierung, gestützt auf eine Studie des österreichischen Institutes für Raumplanung, vor, in der Frage „Landesschwerpunkt" eine Mehrphasen-Strategie zu verfolgen: Zunächst die Viertelhaupt-

städte zu stärken, sie als Kristallisationspunkte eines eigenständigen politischen, wirtschaftlichen und geistigen Lebens funktionsfähiger zu machen und nach etwa zehn bis 15 Jahren eine Erfolgskontrolle anzustellen: Bringt der eingeschlagene Kurs dem Land ein höheres Maß an Selbststeuerungskraft oder ist es eine Kurskorrektur — etwa in Richtung auf die Auswahl einer dieser Viertelhauptstädte zum Landeszentrum — zweckmäßig?

Ende 1983 wurde ich - nachdem viel Gras über all die früheren Anläufe gewachsen war — wieder gefragt, wie die Frage Landeshauptstadt aus heutiger Sicht zu beurteilen wäre. Ich kam zu einem ähnlichen Ergebnis. Die Gründe sind teils dieselben, teils aber auch völlig neue, die sich aus den Erfahrungen der vergangenen zehn Jahre ergeben.

Zu den „alten Motiven" zählen all jene Gedanken, welche die Arbeitsgemeinschaft für Raumforschung und Planung als Vorläuferin des heutigen österreichischen

Instituts für Raumplanung in einer Denkschrift aus dem Jahre 1955 zusammenfaßte und für die Prof. Werner Jäger bis heute eintritt. Es heißt darin:

„Nicht die Tatsache, daß die Landesregierung und die Zentralstellen ihren Sitz außerhalb des eigenen Bundeslandes haben, macht das Problem aus, sondern der Umstand, daß Wien seiner Größe und seinem Charakter nach als Landeszentrum nicht mehr geeignet ist, hat für Niederösterreich schwerwiegende Folgen."

Und als Grund für die verlorengegangene Eignung Wiens wird angeführt, daß dort in maßgeblichen Kreisen wie in der breiten Öffentlichkeit nicht mehr das verpflichtende Bewußtsein lebe, auch Landeszentrum Niederösterreichs zu sein:

„Niederösterreich und seine Lebensfragen sind im Blickfeld des Interesses weit in den Hintergrund gerückt. Wertvolle Impulse, die sich in anderen Landeshauptstädten auf politischem, wirtschaftlichem und kulturellem Gebiet dem Land zuwenden, gehen dadurch Niederösterreich verloren."

Die aufgezeigten Argumente haben gerade in den letzten Jahren in einem Maße an Bedeutung gewonnen, daß es notwendig ist, sich verstärkt wieder mit ihnen zu beschäftigen:

# Die wirtschaftliche Entwick-

lung eines alten Industrielandes wie Niederösterreich hängt heute mehr denn je von der Erzeugung „intelligenter Produkte" ab.

# Die herkömmlichen wirtschaftlichen Produktions- und Standortfaktoren sind von einem zwar nicht neuen, aber neu aktualisierten Faktor überrundet worden: der Anpassungsfähigkeit an neue Markterfordernisse, der Fähigkeit auf sich rasch ändernden Märkten Marktlücken zu entdek-ken und sich bei deren Ausnützung Wettbewerbsvorsprünge zu erkämpfen.

• Das regionalpolitische Denken kreist in den letzten Jahren zunehmend um Begriffe wie „Eigenständigkeit", „Aufbau regionaler Wirtschaftskreisläufe", „Nutzung endogener Potentiale".

Diese Akzentverschiebungen in der wirtschaf ts- und regionalpolitischen Problematik erfordern eine Hierarchie eigenständiger Strukturen, von denen die oberste Ebene auch im eigenen Land sein sollte, um eben eigenständig wirken zu können.

Solange ein Land nur aus verlängerten Werkbänken — wirtschaftlichen und geistigen — besteht, wird es immer einen quasikolonialen Status haben. Was Nieder Österreich braucht, um wirtschaftlich konkurrenzfähig zu sein, sind brain trusts, eigenständige Eliten, und dafür fehlt heute der notwendige Sammelpunkt.

Für mich war es ein Schlüsselerlebnis, als vor einigen Jahren bei einem Seminar in Wien der langjährige Leiter eines Wiener Wirtschaftsforschungsinstitutes vor der Creme der Wiener Wirtschaftswissenschafter zur Problematik des Nö Grenzlandes sagen konnte: „Die Abwanderung aus der Landwirtschaft, die zumeist auch eine Abwanderung vom Lande war, ist im großen und ganzen abgeschlossen, die neuromantische Sehnsucht zurück zur Natur, zusammen mit steigenden Holzpreisen und der Biowelle, sollten zumindest das Halten von Positionen ermöglichen."

An neuen Argumenten für ein eigenes Nö Landeszentrum spricht: Neben dem Grenzland und den traditionellen Industriegebieten zeichnet sich ein neues Problemgebiet ab, diesmal nicht entlang der Ränder des Landes, sondern vom Norden nach Süden entlang der Pendlerscheide zwischen Wien und Linz. Seit einigen Jahren zeigt sich hier ein Gürtel von meist zweistelligen Winterarbeitslosigkeitsraten in den Bezirken Gmünd, Waidhofen a. d. Thaya, Zwettl und Scheibbs.

Das Schulsystem des Landes produziert in steigendem Ausmaß Absolventen Mittlerer und Höhe-

rer Schulen, die in Niederösterreich keine Büroarbeitsplätze finden können, weil das Land im Vergleich zu anderen Bundesländern durch das Fehlen einer eigenen Hauptstadt einen schwächeren tertiären Sektor aufweist.

Die Verbesserungen auf dem Verkehrssektor bewirken, daß die Auslagerung der Nö Zentralstellen aus Wien zumindest für die Besucher dieser Dienststellen heute weniger problematisch ist als etwa vor 20 Jahren. So erreichen etwa 50 Prozent der Niederösterreicher im Individualver-kehr St. Pölten günstiger als Wien. Im öffentlichen Verkehr sieht es weniger gut aus, doch läßt sich auch hier innerhalb eines Jahrzehnts einiges an Verbesserungen erreichen, was ohnehin auch ohne Schaffung einer Hauptstadt wichtig wäre.

Durch Verlegung der Nö Zentralstellen sollte eine Kettenreaktion ausgelöst werden, die bewirkt, daß über einen längeren Zeitraum mehr und mehr zentrale Einrichtungen Niederösterreichs aus Wien in den neuen Landesschwerpunkt übersiedeln. Dies hätte infolge der auch heute noch hohen Multiplikatorwirkung baulicher Investitionen wirtschaftliche Effekte, die auf das ganze Land ausstrahlen würden.

Wien wird für Niederösterreich weiterhin wirtschaftlich und kulturell größte Bedeutung haben, beide Länder werden weiter intensiv verflochten sein. Nur könnte Niederösterreich mit einer eigenen Hauptstadt noch einen wichtigen zusätzlichen Vorteil erreichen: Nämlich seine Identität finden!

Auch für Wien würde eine solche Entwicklung nicht nur Nachteile bringen. Die Ansiedlung der Hauptstadt in angemessener Entfernung zu Wien, wo eine eigenständige Entwicklung möglich wäre, würde das Siedlungs- und Verkehrswachstum im Umland von Wien dämpfen.

Der Autor leitet die Raumordnungsabteilung der Landesregierung.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung