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Zu viele wandern ab

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Der Leiter der Raumordnungsabteilung der Landesregierung begründet * die Notwendigkeit der eigenen Landeshauptstadt mit wirtschaftspolitischen Gegebenheiten.

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Der Leiter der Raumordnungsabteilung der Landesregierung begründet * die Notwendigkeit der eigenen Landeshauptstadt mit wirtschaftspolitischen Gegebenheiten.

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Je mehr ich mich mit Untersuchungen zum Thema Landeshauptstadt beschäftige, desto mehr verfestigt sich die Vermutung, daß wir gar keine andere Wahl haben, als sie zu schaffen.

Sieht man die verschiedenen Programme an, die sich mit Lebensfragen unseres Landes auseinandersetzen, die von beiden Parteien gemeinsam beschlossenen Raumordnungsprogramme, Wahlprogramme oder regionalpolitische Zukunftsvorstellungen, so merkt man, daß ein Anliegen immer höchste Priorität genießt: „Die Schaffung und Sicherung von Arbeitsplätzen, um es möglichst allen Erwerbsfähigen zu ermöglichen, innerhalb einer zumutbaren Entfernung von ihrem Wohnsitz einen ihrer Qualifikation entsprechenden Arbeitsplatz zu finden”, wie es im Gewerbes- und Industrieraumordnungsprogramm des Landes so schön heißt.

Wir befinden uns in einer wirtschaftlichen Entwicklungsphase, in welcher der sogenannte tertiäre Sektor oder Dienstleistungsbereich immer mehr an Boden gewinnt.

In ganz Österreich hat er schon 1973 den vorher hinsichtlich Beschäftigtenzahl führenden güterproduzierenden, sekundären Wirtschaftsbereich überflügelt, der seinerseits um die Jahrhundertwende den bis dahin dominierenden primären Sektor (Land-und Forstwirtschaft, übrige Urproduktion) ablöste.

In Niederösterreich spielte sich der Führungswechsel in der Beschäftigungsstatistik vom güterproduzierenden zum Dienstleistungssektor erst 1982 ab. Im Vorjahr waren in Niederösterreich 44 Prozent der Beschäftigten (Selbständige und Unselbständige) im Dienstleistungsbereich tätig, in ganz Österreich 54 Prozent. Dies ist auf den geringeren Anteil Niederösterreichs an Fremdenverkehrsbeschäftigten, vor allem aber auf seinen geringeren Anteil an „zentralen Diensten” zurückzuführen. So kann also gerade jener Sektor, dem für die künftige Entwicklung große Bedeutung zukommt, strukturbedingt nicht einen Beschäftigtenanteil auf sich vereinen wie in den meisten anderen Ländern.

Heute wird viel davon gesprochen, daß es in den am weitesten entwickelten Staaten, zu denen auch Österreich rühlt, darauf ankommt, nicht Massengüter zu produzieren, sondern intelligente Leistungen und Produkte hervorzubringen, Dienstleistungstätigkeiten im weitesten Sinne zu entfalten. Wir sehen aber, daß die externen und internen Dienstleistungsaktivitäten für viele große

Unternehmen, die in Niederösterreich Produktionsstätten haben, in der Bundeshauptstadt konzentriert sind. Auch in der öffentlichen Verwaltung stehen, so betrachtet, viele Schreibtische am falschen Standort: in Wien statt in Niederösterreich.

Nur, wer an der Tatsache vorbeigeht, daß der Dienstleistungssektor in Zukunft der einzige expansive Bereich sein wird, kann es sich leisten, das Thema Landeshauptstadt auf die leichte Schulter zu nehmen. ,

Mit Unterstützung des Landesschuir ates konnten wir vor kurzem herausfinden, wieviele Absolventen niederösterreichischer Höherer Schulen des Maturajahrganges 1974 mittlerweile ihren Wohnsitz in Wien aufschlugen; Rund 40 Prozent der Maturanten aus Amstetten und genau die Hälfte ihrer Jahrgangskollegen aus Waidhofen an der Thaya wohnen heute in Wien!

Immer mehr niederösterreichische Eltern schicken ihre Kinder in mittlere und höhere Schulen. Die Absolventen finden jedoch nur im geringen Ausmaß in der landwirtschaftlichen Urproduktion und im sekundären Sektor, also in Gewerbe und Industrie, Beschäftigung. Die überwiegende Mehrzahl ist auf einen Arbeitsplatz im Dienstleistungssektor angewiesen. Gelingt es nicht, den Anteil der Beschäftigten in diesem Wirtschaftsbereich entsprechend zu erhöhen, wird ein immer größerer Teil der Absolventen mittlerer und höherer Lehranstalten gezwungen sein, Arbeitsplätze außerhalb Niederösterreichs zu suchen.

Der tertiäre Sektor besitzt aber auch eine erhebliche konjunkturstabilisierende Wirkung. Nicht zuletzt wegen seines hohen Anteils an Beschäftigten im öffentlichen Dienst, wo ja das Beschäftigungsausmaß nicht im selben Maße Konjunkturschwankungen unterworfen ist wie etwa in der Industrie. Soll Niederösterreich nicht bei jedem Konjunktureinbruch in eine wirtschaftlich, soziologisch und politisch höchst alarmierende Krise geraten, sind Strategien sinnvoll, den Anteil der Beschäftigung im tertiären Sektor mit allen Kräften zu erhöhen.

Ein Land hat bei der Verwirklichung räumlicher Leitbilder keine Möglichkeit, wirtschaftliche Unternehmen zur Investition in bestimmten Regionen oder an bestimmten Schwerpunkten in einem Maße zu veranlassen, daß sich die räumlichen Strukturen mittelfristig entscheidend verändern. Die einzige Möglichkeit, die ein Land hat, um aus dem Regelkreis auszubrechen, wonach unzureichend wirksame Maßnahmen eine unzureichende Kurskorrektur ergeben, besteht darin, sein eigenes Verwaltungspotential in die Waagschale zu werfen. Das Land muß handeln wie ein Betrieb, der überleben will und entdeckt, daß seine Produktion am falschen Standort angesiedelt ist.

Niederösterreich muß sich mit dem Problem beschäftigen, eine seiner Städte zur Hauptstadt zu machen und damit auch in jene in der ganzen Ostregion unbesetzte Gemeindegrößenklasse vorzustoßen, in der sich europaweit die dynamischeste Entwicklung zeigt: in die Größenordnung um 80.000 bis 100.000 Einwohner.

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