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Ausbruch aus dem Armenhausklima

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Das österreichische Bruttonationalprodukt hat im Jahre 1970 eine Zuwachsrate von mehr als sieben Prozent erzielt; diese Wachstumsrate lag höher als jene aller anderen vergleichbaren Industriestaaten und wurde lediglich von Japan übertroffen, wo allerdings die wirtschaftliche Entwicklung unter andersgearteten Arbeitsbedingungen und sozialen Verhältnissen vor sich geht. Wir haben somit allen Grund, auf die durch die österreichische Wirtschaft erzielte Wachstumsrate stolz zu sein, denn sie beweist uns, daß wir — einigermaßen wettbewerbsgleiche Produktions- und Absatzverhältnisse sowie einige sonstige Imponderabilien vorausgesetzt — durchaus in der Lage sind, mit ungleich größeren Industriestaaten mitzuhalten. Diese vom Ausland gelegentlich als erstaunlich bezeichnete Fähigkeit ist der österreichischen Wirtschaft allerdings nicht von einem Tag zum anderen zugewachsen, wie dies eine auf rasche Erfolge drängende Propaganda vielleicht wahrhaben möchte. Es war dies, rückblickend betrachtet, eine langsame, schrittweise Auf- und Vorwärtsentwicklung, und jene, die alle diese Jahre als Unternehmer oder Mitarbeiter im Wirtschaftsprozeß selbst miterlebten, werden anerkennen, daß es oft ganz besonderer Anstrengungen bedurfte, um Erfolge für sich, für seinen Betrieb, für seine Beschäftigten und damit letzten Endes für die gesamte österreichische Wirtschaft zu erkämpfen. Insbesondere seit etwa fünf, sechs Jahren, seit sich bei den verantwortlichen Instanzen unseres Staates das längst geforderte und erwartete Verständnis für die lebenswichtigen Belange unserer Wirtschaft einstellte und Maßnahmen zur Folge hatte, die, immer im knappen Rahmen eines für sonstige

“Rurlcrcj+e crctan.o einigermaßen ähnliche Bedingungen für unsere Wirtschaft schufen, wie sie in anderen Industriestaaten immer schon als selbstverständliche Voraussetzungen betrachtet wurden — erst, seither also war die österreichische Wirtschaft in der Lage, die ihr innewohnenden Fähigkeiten so einzusetzen, daß dar-’ aus ein optimales Wachstum entstand.

Allerdings: das österreichische Institut für Wirtschaftsforschung, welches die oben genannte Ziffer bekanntgab, betont ausdrücklich, daß wir mit dieser Wachstumsrate von sieben Prozent aller Wahrscheinlichkeit nach den vorläufigen Kulminationspunkt unserer wirtschaftlichen Entwicklung erreicht haben dürften: Volle Ausschöpfung so gut wie aller Kapazitäten, restlose Beanspruchung aller Möglichkeiten des Arbeitsmarktes und nicht zuletzt der nach wie vor ungenügend dotierte Kapitalmarkt bilden Grenzen, die kaum noch überschritten werden können.

In der nun einsetzenden Phase eines langsameren Wirtschaftlichen Wachstums, in welcher sich die meisten unserer Konkurrenzstaaten schon seit längerem befinden, wird sich der österreichischen Wirtschaft die Möglichkeit bieten, ihre Anstrengungen darauf zu richten, das Erreichte zü konsolidieren und dafür zu sorgen, daß einerseits ihre Fundamente, also die Grundlagen, auf welchen produziert, gehandelt und geleistet wird, widerstandsfähiger und krisenfester werden, und daß anderseits Ausschau nach Struktur- und produktionsverbessernden Maßnahmen gehalten wird. Denn darüber sollten wir uns alle klar sein: Die optimale Wachstumsrate darf uns nicht darüber hinwegtäuschen, daß wir einen Teil dieses bemerkenswerten Erfolges nicht mit dem Einsatz optimaler und modernster technischer Mittel, sondern mit unserer Fähigkeit der Improvisation erreicht haben, die man zwar ohne weiteres als geistige Investition bezeichnen kann, aber doch nicht über Gebühr beanspruchen sollte.

Was für die österreichische Wirtschaft in ihrer Gesamtheit ‘gilt, hat für die Wirtschaft der Steiermark erhöhte Bedeutung! Mehr als unsere Gesamtwirtschaft hat diei steirische mit Strükturpröblemen zu kämpfen, und auch die kostensteigemde Randlage gegenüber ihren wichtigsten Absatzmärkten konnte bisher kaum gemildert werden. Nach wie vor rangiert die Steiermark hinsichtlich der Pro-Kopf -Steuerkfaft an drittletzter Stelle aller Bundesländer, und dies, obwohl die steirische Industrie mit einem Bruttoregionalprodukt von 35;7 Prozent mit Abstand der größte Wirtschaftszweig ist. Demgegenüber ist es leider so,’ daß man etwa 50 Prozent der steirischen Industrie als nicht oder nicht mehr wachstumsöfientiert bezeichnen muß, das heißt, daß von der Hälfte unserer industriellen Kapazität keine Expansion mehr erwartet werden kann. Diese Feststellung dürfte die Notwendigkeit strukturver bessernder Maßnahmen zur Genüge unterstreichen. Die Erkenntnis dieser Notwendigkeit ist seit ungefähr einem Jahrzehnt ständiger Gegenstand von Überlegungen und Beratungen, ohne daß es allerdings bisher gelungen wäre, wirklich durchgreifende Lösungen zu finden.

Im Gegensatz zu früheren Jahrhunderten, als sich die Industrie allmählich aus dem Gewerbe entwickelte, steht es heute fest, daß rasche Hilfe nur durch eine leistungsfähige Industrie geboten werden kann, die dank der Konsumkraft ihrer — möglichst zahlreichen — Beschäftigten andere Wirtschaftssparten automatisch zur Niederlassung anreizt. Mit anderen Worten: die Verbesserung der steirischen Wirtschaftsstruktur hängt unauflöslich mit der Lösung aller unserer Industriellen Probleme zusammen.

Die steiermärkische Landesregierung hat sich diese Überlegungen in dankenswerter Weise zu eigen gemacht, und vor allem Landeshauptmann Krainer selbst ist seit Jahren bemüht, interessierten in- und ausländischen Unternehmern die industrielle Ansiedlung in entwicklungsschwachen Gebieten der Steiermark möglichst attraktiv zu machen. Es wurden auch bereits einige Erfolge erzielt, aber insgesamt stellt das Problem der Industrialisierung einen äußerst schwierigen Komplex dar, der kaum von einem Tag zum anderen gelöst werden kann.

Bei einem neuen Industriebetrieb muß in erster Linie die Standortfrage stimmen (Rohstoffaufkommen, Arbeitskräftepotential, Transportverhältnisse, kommunale Dienste usw.), dann muß darauf geachtet werden, ob es sich um eine Fertigung handelt, die sich in die gesamte Industriestruktur einfügt und aussichtsreich zu werden verspricht, und schließlich ist die Rentabilitätsfrage zu untersuchen; angesichts der heutigen Kosten für einen industriellen Arbeitsplatz ist der Kapitalbedarf nämlich gewaltig und kann von den Interessenten selbst kaum aufgebracht werden. Dies wäre die eine Seite des Problems der industriellen Strukturverbesserung. Anderseits sollte aber nicht übersehen werden, daß bereits bestehende Betriebe, selbst solche ohne Wachstumschancen oder ohne Neigung, sich noch auf neue Fertigungen oder modernere Methoden umzustellen, ein beachtliches Kapital darstellen, nicht nur von der reinen Geldseite her, sondern auch bezüglich ihrer gewachsenen Lage innerhalb ihrer Umwelt, ihrer Beziehungen, ihrer Beschäftigten usw. Es wäre daher neben vermehrten Anstrengungen zwecks Schaffung oder Ansiedlung neuer Industriebetriebe, die sich organisch in die bestehenden wirtschaftlichen Verhältnisse einfügen, unbedingt auch die Frage zu prüfen, was geschehen könnte und was zu geschehen hätte, um wenigstens den größeren Teil der expansionsmüden Unternehmungen, die, wie schon erwähnt, etwa 50 Prozent des steirischen Industriepotentials darstellen, mit neuem Leben zu erfüllen. Keine leicht lösbare Aufgabe in einer Zeit, die alle bereits bestehenden Betriebe fast täglich mit der Notwendigkeit neuer Lasten konfrontiert; das eiserne Muß, die Frage der Umweltverschmutzung befriedigend zu lösen, wird allein Milliardenanfordemngen stellen, der Staat kommt mit neuen Forderungen, die Betriebsunkosten — nicht nur di« Löhne — zeigen unaufhaltsam steigende Tendenz, kurzum, die Anforderungen wachsen auf der ganzen Linie.

Trotzdem darf keine Zeit verloren werden, denn die Frage der Strukturverbesserung der steirischen Wirtschaft duldet längst keinen Aufschub mehr. So wie es die österreichische Wirtschaft in ihrer Gesamtheit verstanden hat, durch bemerkenswerte Leistungen aus dem ihr angedichteten Armenhausklima auszubrechen, so muß dies der steirischen Wirtschaft gleichfalls gelingen, wenn alle positiven Kräfte mobilisiert werden.

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