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Woher? Wohin?

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II. Vor einem neuen Investitionsplan

Die Wirtschaftshilfe der Vereinigten Staaten für Europa ist zu Ende. Washington, das seine Zahlungsbilanz ins Gleichgewicht bringen, seine sozialen Ausgaben und seine militärische Bereitschaft erhöhen will, lenkt den Strom der wirtschaftlichen Hilfe künftig nach Afrika, Asien und Südamerika, um den Gefahren einer kommunistischen Expansion und Infil tration rechtzeitig mit ökonomischen Mitteln zu begegnen. Als Vorbild dient die ehemalige Marshall-Hilfe, aber zur neuen Aktion für die Entwicklungsländer sollen auch die Staaten des freien Europa ihren gemessenen Anteil beitragen. Selbstverständ-

lich muß sich auch der Ballhausplatz dieser neuen Finanz- und Wirtschaftspolitik der Vereinigten Staaten anpassen. Sogar im günstigsten Fall, wenn es der Himmelpfortgasse gelingen sollte, im Wege der Weltbank und einiger westlicher Kapitalzentren eine Ausländsanleihe aufzunehmen, bleibt Österreich in den nächsten Jahren unbedingt auf sich selbst angewiesen. Der jüngste Vertrag mit den Vereinig ten Staaten über die freie Verfügung der ERP-Counterpartmittel erscheint allerdings als ein günstiger Auftakt. Doch wäre in der kritischen Situation, in die das Land durch die hohen Defizite des Staatshaushalts und der Handelsbilanz geraten ist, nichts gefährlicher als innere Streitigkeiten und eine Zersplitterung der Kräfte. Auch der Generationenwechsel, der gegenwärtig in allen Sektoren der Politik, Wirtschaft und Verwaltung im Gange ist, bringt manche grundsätzliche Probleme: Die jüngere Generation steht vor der schwierigen Aufgabe, zwischen dem Westen und dem Osten, den alten Traditionen und den modernen Methoden eine unabhängige österreichische Orientierung zu vertreten, die den Anfechtungen der zahlreichen offenen und geheimen Feinde standhält.

Überlegungen auf lange Sicht

Die Richtlinien, die von der Wirtschaftspolitik bisher befolgt worden sind, lassen sich kurz zusammenfassen: Produktionserhöhung zwecks Exportsteigerung bei gleichzeitiger Vermeidung aller ernsten Lohnkonflikte und Streikbewegungen. Die Lohn-und- Preis-Kommission, von Arbeitgebern und Arbeitnehmern in gleicher Weise ständig kritisiert, weil sie selbstverständlich nur Kompromisse und Zwischenlösungen bringt, verfolgt vor allem das Ziel, jede stärkere Bewegung zu bremsen, um das Gesamtgefüge mit Hilfe fortlaufender kleiner Korrekturen im Gleichgewicht zu halten. Nichts schadet mehr als ein Streik, weil schon der Produktionsausfall von zwei Wochen der angestrebten Produktionssteigerung schweren Schaden zufügt. In der ersten Nachkriegszeit galt der Leitsatz, daß nicht Rohstoffe, sondern Fertigwaren exportiert werden sollten, ein Prinzip, das sich in einem Montanland natürlich erst nach Jahrzehnten realisieren läßt. Aber in den letzten Jahren haben sich einige Industrien allmählich den Grenzen der Produktionskapazität ge nähert, so daß unweigerlich zwei Fragen auf tauchen: Bei welchen Industrien ist eine Erweiterung geboten? Welche Sektoren müssen auf ihrem gegenwärtigen Stand ausharren? In Zeiten der Hochkonjunktur ist eine sachliche Entscheidung ungemein schwierig, weil es sich zumeist um die möglichen und notwendigen Exporterhöhungen handelt, die von den Interessenten verschieden beurteilt werden. Infolge der scharten internationalen Konkurrenz unterliegen einzelne Warengruppen bereits starken Änderungen. Eine Lösung kann nur durch volkswirtschaftliche Überlegungen auf lange Sicht gefunden werden, wobei als Unterlage eine Gegenüberstellung zwischen der erreichten Produktionserhöhung und der Exportausweitung dienen mag.

Die Analyse der Produktionssteigerung während der Ära Raab ergibt eine umfangreiche Skala. Einige Güter erzielten eine Erhöhung bis zu vierhundert Prozent, und viele Waren lagen über dem allgemeinen Durchschnitt, während andere Kategorien zurückblieben und sogar einen Rückfall erlitten. Von 1953 bis 1960 hat sich jedenfalls die Produktion mehr als verdoppelt bei Rohstahl, Zement, Draht aus Eisen und Stahl, Rohmagnesit und Kautschukwaren, vor allem jedoch bei Graphit, Walzwaren, Kunststoffen und Motorfahrrädern. Über dem Durchschnitt bewegten sich auch Gerste, Zellwolle, Bleikabel und Kunstdünger, Zellulose, Kugellager, Zuckerrüben, Rohaluminium und elektrischer Strom, ferner Spitzen, Stickereien und Posamentierwaren. Die Zunahme der Roheisenerzeugung entsprach genau der Erhöhung des industriellen Produktionsindex. Eine normale Entwicklung, die annähernd dem allgemeinen Aufstieg gleichkam, nahmen noch Mais, Papier, Zucker, Sudsalz und Hohlglas, Baumwollgarne und Baumwollgewebe. Den meisten landwirtschaftlichen Erzeugnissen, darunter Kartoffeln und Brotgetreide, warer durch das Gesetz vom abnehmender Bodenertrag enge Grenzen gezogen. Deutliche Rückfälle erlitten Hafer, Wollgewebe, Kupfererze, Jutegewebe und Motorräder einschließlich Roller.

Gefährliche Bequemlichkeit

Beachtenswerte Exporterhöhungen erzielten dagegen im Vorjahr Schmuckwaren, elektrische Apparate, Magnesit einschließlich Ziegel und Platten, Tndustriemaschinen, Eisen und Stahl,

Kleidung und Kautschukwaren. Eine Stockung verzeichneten Holz, Zellulose und Metallwaren. Einen peinlichen Rückgang beklagten Glaswaren und Aluminium. Die klassischen Exportwaren — Eisen, Stahl, Holz, Papier und Magnesit — finden immer einen sicheren Absatz, aber die angestrebte Expansion muß in den nächsten Jahren gerade durch Industriezweige getragen werden, die bisher noch wenig in Erscheinung getreten sind, deren Waren jedoch schon heute eine auffallend breite Streuung besitzen. Um nur zwei Beispiele der Fahrzeugindustrie zu streifen, wurden in neun Monaten des Vorjahres 48.192 Motorfahrräder exportiert: 52,6 Prozent der Erzeugung. Der Export ging nach 60 Ländern, darunter nach Skandinavien, Großbritannien und der Schweiz, Holland, Belgien und Westdeutschland, Iran, Neuseeland und der Südafrikanischen Union. In der gleichen Zeitspanne wurden nach den Vereinigten Staaten 60.142 Fahrräder ausgeführt: 55,1 Prozent der Gesamtproduktion. Allein diese beiden Fälle, die beliebig vermehrt werden könnten, zeigen, daß sich die Öffentlichkeit aus rein praktischen Erwägungen darauf einstellen muß, nicht nur die Nachbarn, sondern auch entfernte Länder und einige wichtige überseeische Staaten zu berücksichtigen. Dabei ist der Apparat des Außenhandels entschieden zu klein. Um das Tor in die weite Welt zu öffnen, sind Handelsvertreter notwendig, die neben den unerläßlichen Kenntnissen ihres Berufes und der Nationalökonomie vor allem die englische, spanische oder französische Sprache beherrschen. Ohne einen systematischen Ausbau der Handelshochschule, die unverständlicherweise vom Unterrichtsressort noch immer stiefmütterlich bedacht wird, können die großen Aufgaben des Außenhandels überhaupt nicht bewältigt werden.

Die Regierung steht vor der Zwangslage, einen neuen Investitionsplan auszuarbeiten. Im Laufe des Vorjahres wurden zahlreiche Anliegen vorgebracht, darunter die Verstärkung des Grenzschutzes, der Bau von neuen Schulen und wissenschaftlichen Insti- tuten, die Fortsetzung der Elektrifizierung und die Modernisierung des Straßennetzes bei rascher Fertigstellung der Autobahn Wien—Salzburg, die Beschleunigung des Wohnungsbaues und die wichtige Hilfe für zurückgebliebene Gebiete des eigenen Landes, die schon deshalb unerläßlich ist, weil man sich aus außenpolitischen Gründen an der internationalen Hilfe für die Entwicklungsländer beteiligen muß, dabei aber die eigenen Notstandsgebiete im Mühlviertel und im Burgenland, in Niederösterreich und in der südlichen Steiermark keinesfalls vernachlässigen darf. Da der Fiskus ein Defizit trägt, das zunächst gedeckt werden muß, sind diese Vorhaben niemals zugleich, sondern nur während langer Fristen zu realisieren. Die Schwierigkeiten liegen in der Ungeduld der Bevölkerung und der Aufstellung einer richtigen Rangordnung, die eine Periode von drei bis fünf Jahren ins Auge faßt. Die Hochkonjunktur und das System der konkurrierenden Wirtschaftskammern begünstigen die Gefahr von Fehlinvestitionen. Es handelt sich nicht einfach darum, die chronischen Löcher zu stopfen, als Wahlgeschenke neue soziale Ausgaben zu verteilen und fragwürdige Projekte zu finanzieren, an denen kern- Mangel ist, sondern den Aufbau fdftzusetzen und die Modernisierung von Produktionszweigen zu stützen, die hohe Exportchancen bieten. Die Voraussetzung eines Erfolges sind aber die stabile Währung, ein ausgeglichenes Budget und die Unterbindung jeder akuten Teuerungswelle. Letzten Endes bilden Fiskus, Konsum, Produktion und Investitionen eine organische Einheit, deren innerer Kreislauf durch den Kurs der Wirtschaftspolitik gesichert werden muß.

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