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Nach dem Schock

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Ein gewohnheitsmäßiger Morphinist, dem sein Narkotikum plötzlich entzogen wird, erleidet bekanntlich einen tiefgehenden Schock, und es braucht seine Zeit, bis er wieder einigermaßen sein körperliches und seelisches Gleichgewicht gefunden hat. In genau derselben Lage befindet sich die westdeutsche Wirtschaft nach der Währungsreform. Der Geldüberhang hatte über die schwierigen Nachkriegsprobleme den Schleier einer leichten narkotischen Betäubung gelegt. Die sozialen Probleme traten trotz der acht Millionen Flüchtlinge und Umsiedler, trotz der katastrophalen Ernährungslage, nicht in voller Schärfe hervor. Es gab einige bevorzugte soziale Gruppen — Schwarzhändler und Kompensationsbegün- jtigte, besonders bevorzugte Produktionsgruppen wie den Bergbau usw.; im übrigen befand siela das ganze Volk in gleichmäßigem grauem Elend, das mit dumpfer Ergebung ertragen und das von einer immer umfangreicheren Bürokratie mit immer geringerem Erfolg „verwaltet" wurde. Unter dem schützenden Geldschleier gab es keine Konkurse, keine drückende Arbeitslosigkeit (vielmehr das Gegenteil: einen immer größeren Arbeitermangel!), keine wirklich ernsthaften Budgetkrisen. Es gab in der französischen und englischen Zone in den Staatshaushalten zwar Fehlbilanzen, ohne daß deren Deckung aber übermäßiges Kopfzerbrechen verursachte: die Finanzierung wär eben ganz allgemein, in der öffentlichen wie in der Privatwirtschaft, im Zeichen des immer gehaltloser gewordenen Geldes völlig in den Hintergrund getreten, gegenüber der Jagd nach Sachwerten, gegenüber dem Kampf um Zuweisung von Rohstoffen, und Gebrauchsgütern. Diese Verschleierung des wirklichen sozialen Zustände« war aber verknüpft mit einer ebensolchen Betäubung hinsichtlich der Leistungsfähigkeit der Wirtschaft. Die Industrieproduktion in der Bi-Zone hatte 1946 knapp ein Drittel des Vorkriegsstandes (rund 36 Prozent) erreicht, sie war im Durchschnitt des Jahres 1947 auf etwa 39 Prozent, im Frühjahr 1948 schließlich durch allerlei künstliche Spritzen bis auf 48 Prozent des Vorkriegsstandes gesteigert worden. Die Leistung je eingesetzten Arbeiters betrug im Durchschnitt nicht viel mehr als die Hälfte der Vorkriegszeit, eine gemeinsame Folge der schlechten Ernährung und des mangelnden Leistungszwangs und Leistungsanreizes.

Mit der Währungsreform vom 20. Juni hat für den Patienten eine überaus harte Entziehungskur begonnen. Das gesamte Geldvermögen, einschließlich selbst der dinglich gesicherten Forderungen, wie zum Beispiel der Hypotheken, ist auf ein Zehntel abgewertet; die Forderungen an das ehemalige Reich sind sogar gänzlich gestrichen, die Forderungen aus den Sparund Bankkonten und aus dem abgelleferten Altgcld auf vorläufig 5 Prozent abgewertet, mit der Aussicht auf Zuweisung eines weiteren Umwandlungsbetrages bis zu nochmals 5 Prozent (mit einer sehr weit in der Ferne liegenden möglichen „Schattenquote" von weiteren 10 Prozent). Damit ist also den Millionen von Bombengeschädigten aus der Kriegszeit, von Flüchtlingen und Vertriebenen aus den Ostgebieten, den Geschädigten aus alliierten Demontagen oder Beschlagnahmen im Ausland durch die Währungsreform eine weitere große Gruppe von Geschädigten hinzugefügt. Man wird den hier entstandenen Schaden der Größenordnung nach nominal auf etwa 150 bis 200 Milliarden alte Reichsmark schätzen können, je nachdem, ob es bei der Umwandlungsquote von 5 Prozent bleibt oder wei tere kleine Raten freigegeben werden. Im Gegensatz hiezu sind die Sachwertbesitzer, einschließlich der Warenhorter, die durch die Entwicklung allmählich zu einer besonderen sozialen Vorzugsklasse geworden sind, bisher gänzlich ungerupft davongekommen. Der gerechte Ausgleich zwischen ihnen und den vielen Millionen von Geschädigten soll tyem Lastenausgleich vorbehalten bleiben, der auf Anweisung der Militärregierungen bis spätestens Dezember 1948 von den deutschen Stellen zu schaffen ist. Mit dem Stichwort Lastenausgleich, mit der Sorge um die zahllosen, nun gänzlich mittellosen, hilflosen Existenzen ist das erste der großen sozialen Probleme angerührt, das durch die Geldreform ein besonders scharfes Profil erhalten hat.

Unter diesem dunklen Schatten einer sozialen Tragödie vollzieht sich nun im westdeutschen Bereich ein beinahe gewaltsamer Umschichtungsprozeß, den man ganz kurz und einfach als „Rückkehr zur G e 1 d- wirtschaft" bezeichnen kann. Die Naturaltauschwirtschaft mit ihren Umwegen und Verlusten an produktiver Energie ist dahin; die Sachwertpsychose ist nur noch in psychologischen Restbeständen vorhanden. Der Einführung eines neuen Geldes folgte die Aufhebung der Zwangswirtschaft auf zahlreichen Gebieten auf dem Fuße; nur noch die wichtigsten Nahrungsmittel und einige Grundrohstoffe sind in der alten Form weiter bewirtschaftet, während an Verbrauchsgütern nur noch Schuhe und Textilien sowie Seife und Waschmittel weiterhin rationiert sind, wobei freilich das gänzlich unhaltbar gewordene System der Einzelbezugscheinc durch ein einfacheres System der Kleider- und Schuhpunkte ersetzt wurde. Gleichzeitig ist auf den meisten Gebieten, außer bei den Hauptnahrungsmitteln, bei Kohle und Eisen sowie bei den Mieten auch der jahrelange Preisstopp aufgehoben. Kurzum, man hat in der westdeutschen Wirtschaft — allerdings vorläufig noch nicht in der französischen Zone — mit dem neuen Geld in atemraubendem Tempo den „Sprung ins kalte Wasser" der Marktwirtschaft gewagt. Angesichts der objektiv immer noch katastrophalen Versorgungslage gehörte hiezu eine gute Portion Mut und Optimismus, die beide im wesentlichen dem Initiator dieser Phase der heutigen westdeutschen Wirtschaftspolitik, dem Wirtschaftsdirektor in Frankfurt, Doktor Erhard, zuzuschreiben sind.

Die ersten Wochen der neuen Geld- und der nicht minder neuen Marktwirtschaft sind wenigstens äußerlich ein großer Erfolg gewesen. Die Warenhorte flössen in scheinbar unerschöpflichem Strom aus den dunklen Verstecken ans Tageslicht der Schaufensterauslagen. Die plötzliche Warenfülle hat — ganz ohne Rücksicht auf die’Preise — zunächst einmal den Realwert der laufenden Einkommen er heblich gesteigert. Der Anreiz zur Arbeit, zatn Mehrverdienen, war plötzlich wieder da. Gleichzeitig mit dem Anreiz aber auch der unentrinnbare Zwang zur. Arbeit. Denn zum erstenmal seit vielen Jahren steht nun wieder das Gespenst der Arbeitslosigkeit vor vielen Menschen, und zwar einer erbarmungslosen Arbeitslosigkeit ohne Spargroschen im Hintergrund. Der alte soziale Mechanismus von Zuckerbrot und

Peitsche, der in der freien Wirtschaft stets ein Höchstmaß an Leistung herausholte und ohne den schließlich auch die kommunistische Wirtschaft nicht ausgekommen ist, hat wieder zu spielen angefangen. Der Motor der Wirtschaft sprang sofort nach der Reform an. Sachkenner schätzen die Steigerung der durchschnittlichen Arbeitsproduk tivität schon in den ersten vier Wochen auf etwa 25 Prozent. Untermauert wird diese höhere Leistung auch durch die gleichzeitige Besserung der Ernährungslage; während der Ernährungskrise im Frühjahr gab es für den Normalverbraucher nur etwa 1000 bis 1200 Kalorien täglich, heute sind es über 1700 Kalorien. Dies ist ein glückliches Zusammentreffen, das den bisherigen Erfolg der Währungsreform überhaupt erst möglich gemacht hat.

Die Steigerung des Arbeitspotentials als gemeinsame Folge von harter Geldreform und besserer Ernährung ist nicht nur für den Augenblick, sondern auch auf längere Sicht das wichtigste positive Ergebnis der ganzen Reform. Der Engpaß Arbeitskraft ist damit auf den meisten Gebieten beseitigt, und damit erst eigentlich die Möglichkeit zum Anlaufen des Marshall-Plans in Westdeutschland gegeben. Auch die sonstigen sachlichen Voraussetzungen einer Produktionserhöhung sind vorhanden:, eine allerdings nur langsame Besserung der Kohlenversorgung und eine gegenüber dem bisherigen Tiefstand doch fühlbare Erhöhung des Rohstoffzuflusses aus dem Ausland, teilweise die Folge höherer deutscher Exporte, teilweise die erste Frucht des Marshall-Plans.

Werden sich diese Möglichkeiten aber wirklich sofort in eine reale Produktionsund Beschäftigungssteigerung umsetzen lassen? Oder wird die deutsche Wirtschaft erst noch durch das Fegefeuer einer heftigen Umstellungskrise hindurch müssen? Dies ist die bange Frage, die heute in erster Linie an die für die Geld- und Kreditpolitik Verantwortlichen gerichtet wird. Ebenso wie die Währungsgesetze von den Besatzungsmächten erlassen worden sind, so wird auch die Geld- und Kreditpolitik zur Zeit fast ausschließlich durch Vorschriften der Besatzungsmächte gesteuert. Diese Vorschriften haben zu einer ganz eigentümlichen Lage geführt. Im ersten Stadium ist das neue Geld fast nur über die Verbraucher in die Wirtschaft hineingeflossen: durch die relativ hohe Kopfquote von 40 DM pro Person (mit weiteren 20 DM bis spätestens Mitte August), durch die Übergangshilfen für die Betriebe und die Erstausstattung der öffentlichen Hand, die beide bisher überwiegend sofort in Form von Löhnen und Gehältern ausgezahlt wurden. Der Sektor der Verbrauchsgüter ist dadurch enorm belebt worden — zu sehr sogar, wie viele verantwortliche Männer, darunter der bizonale Wirtschaftsdirektor Dr. Erhard, glauben. Die Kaufkraft hat sich (freilich teilweise beschränkt durch die ausgegebenen Punkte) heißhungrig auf die hauptsächlichen Lebensnotwendigkeiten gestürzt, nämlich Textilien, Schuhe, Haushaltwaren. Der Umsatz an Textilien und Schuhen hat sich gegenüber der Zeit unmittelbar vor der Währungsreform mindestens verdreifacht, der Umsatz an Haushaltwaren hat sich wenigstens im Rahmen der verfügbaren Waren erhöhen können. Daß dafür auf der anderen Seite die Schmuckwarengeschäfte,

Kunstgewerbeläden und andere Hauptnutznießer der Inflationskonjunktur zunächst verödet sind, versteht sich von selbst. Auch das künstlerische und geistige Leben hat durch die Knappheit des Geldes und durch die Konzentration der Nachfrage auf die plötzlich wieder vorhandenen lebensnotwendigen Güter einen Schlag erlitten, von dem es sich noch nicht erholt hat.' Dafür sind die Preise der hauptsächlich begehrten Artikel nach Überwindung des ersten Liquidationsdrucks teilweise ganz beachtlich in die Höhe gestiegen; die Produzenten können zur Entschuldigung dafür freilich auf die kurz vorher eingetretene Erhöhung der Kohlen- und Eisenpreise um 60 bis 80 Prozent und auf die mit der Währungsreform zusammenfallenden Preiserhöhungen für Auslandsrohstoffe hinweisen. Die Tatsache der Preishausse bleibt jedenfalls bestehen, und schon kommen die ersten Proteste der Öffentlichkeit und der Gewerkschaften. Wird Westdeutschland ebenso wie manche andere europäische Länder mit unterversorgten Märkten und freier Marktwirtschaft in den gefährlichen Bannkreis der Preis-Lohn-Spirale geraten?

Gleichzeitig aber droht eine ganz andere Gefahr von einer anderen Seite her. Für den mittel- und langfristigen Investitionskredit ist vorläufig im Geld- und Kreditsystem der Besatzungsmächte überhaupt keine Vorsorge getroffen. Einige Zweige der Investitionsgüterindustrie, wie die Bauwirtschaft, der Schiffbau und andere Zweige, die umfangreiche Anlagegüter herstellen, bekommen dies bereits zu spüren; man be fürchtet in diesem Sektor der Wirtschaft Massenschließungen und Arbeitslosigkeit. Aus der Unterversorgung mit Investitionskrediten droht eine Deflation für die Ge- samtwirtschaft; dazu kommen noch andere deflationistische Einflüsse, wie die Blockierung der Erlöse für die Lebensmittel- und Rohstoffeinfuhren seitens der Besatzungsmächte, die Bargeldhortungen aus Furcht vor dem erwarteten drastischen Lastenausgleich und anderes mehr. Wird von dieser Seite her vielleicht auch die Kaufkraft der Massen schließlich so beschnitten werden, daß der gegenwärtige Boom auf den Konsumgütermärkten nach kurzer Zeit wieder zusammenbricht und von einer langen Periode gedrückter Preise abgelöst wird? Vorerst vermag noch niemand zu sagen, welcher der beiden Einflüsse, der deflationistische Vom zu geringen Geldumlauf her oder der inflationistische von den Preissteigerungen und dem Warenhunger her, schließlich die Oberhand gewinnen und die ganze Wirtschaft mit sich fortziehen wird. Sicher ist nur, daß zunächst einmal die Wirtschaft in Westdeutschland sich in einem eigentümlichen und sehr labilen Schwebezustand befindet. Die Währungsreform — „der Sprung ins Dunkel“ — hat zwar zunächst an einigen rosig angehauchten Wolkenbänken vorbei, aber noch keineswegs auf festen, gesicherten Boden geführt. Wird es gelingen — angesichts der beiden Möglichkeiten der gegenwärtigen Lage: Deflation und Arbeitslosigkeit einerseits, Preisinflation andererseits — ein gesundes Gleichgewicht zu finden?

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