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Nullwachstum - Dichtung und Wahrheit

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Das Schrumpfen des Bruttosozialproduktes in der Bundesrepublik bildet das unheilvolle Kernthema der deutschen Wirtschaft. Die Rezession dieses Jahres ist ein weiterer Schritt nach abwärts gegenüber der Stagnation von 1974. Noch zu keinem Zeitpunkt im Verlauf der deutschen Nachkriegszeit standen die Voraussagen über die Entwicklung der Volkswirtschaft so im Mittelpunkt bangen Interesses einer breiten, auch ökonomisch sonst eher desinteressierten Bevölkerungsschicht. Sie waren aber auch noch nie dermaßen kurzlebig, wurden noch nie durch so trommelfeuerartige Schreckensmeldungen pausenlos nach unten hin berichtet.

Während die ursprüngliche Jahresproduktion 1975 der Bonner Regierung für das Bruttosozialprodukt, also die Summe aller produzierten Güter und Dienstleistungen, ein Plus von 2 Prozent angepeilt hatte, korrigierten die Ministerial-Experten vor kurzem auf Null. Die Juli-Prognose des Instituts der Deutsehen Wirtschaft bescheinigte sodann für dieses Jahr der Volkswirtschaft bei Abzug der Preissteigerungen einen realen Rückgang von rund 20 Milliarden DM respektive um 3,5 Prozent unter das Niveau von 1974.

Die politischen Sprachschöpfer haben in dieser Situation dem Wähler-volk den Begriff „Nullwachstum“ beschert: Eine verbale Paradoxie, gleichwohl freundlicher klingend, als „Stagnation“ oder, dem Sachverhalt noch gerechter: „Depression.“

Merklich zurückhaltender werden die Leistungs- und Konsumverzichts-Ideologen mit ihren Suggestivfragen an die gestreßten Arbeitnehmer, wozu denn Wirtschaftswachstum überhaupt nötig sei. Inzwischen nämlich dämmert es auch einigen von ihnen, daß 4er Ruf nach gerechter Verteilungspolitik bei einem rückläufigen Sozialprodukt -nicht realisierbar ist. Nullwachstum bedeutet eben kurzfristig keinen Abbau der hohen Arbeitslosenzahlen; längerfristig bringt es noch mehr Abeitslose hervor. Denn die Wirtschaft muß zur Erhaltung ihrer Wettbewerbsfähigkeit die jeweils neuesten Rationalisierungs-verfahreh nutzen, um durch Arbeitseinsparung ihre Kosten zu reduzieren. Dies aber muß'dann zu Arbeitslosigkeit führen, wenn nicht gleichzeitig durch ein steigendes Bruttosozialprodukt, also volkswirtschaftliche Mehrproduktion, ein weiterer Bedarf an Arbeitskräften besteht. Und wollte man künftig auf Wachstum verzichten, müßten die Grenzen geschlossen werden, weil sonst das Ausland mit seinen Konkurrenzangeboten die Wirtschaft des Landes in kürzester Zeit ruinieren würde. Zudem ist der Wunsch nach beruflicher Weiterentwicklung ebenso wie nach Mehrverdienst für steigende Leistung ein ethisch und sozial motiviertes Bestreben der menschlichen Natur, das sich auf Dauer durch Ideologien allenfalls unterdrücken, aber nicht aus der Welt schaffen läßt. Wenn aber das Bruttosozialprodukt nicht wächst, ist der Aufstieg des einen nur durch den Abstieg des anderen möglich.

Doch noch vor etwas mehr als einem Jahr hatten mittlerweile stiller gewordene, profilierte SPD-Intellektuelle das leistungsorientierte Wachstum lauthals als des Teufels angeprangert und den „Konsumverzicht“ als progressive Heilslehre gegen angeblichen „Konsumterror“ geradewegs zur sozialhumanistischen Waffe hochstilisiert, mit der sie das Volk vor den „kapitalistischen Ausbeutern“ zu schützen vorgaben. Der „psychologische Zwang zum Verbrauch“ hatte ja nach linker Leseart mit schlechthin an Gaunerei grenzenden Werbemethoden den Werktätigen ihr Geld aus den Taschen gezogen. Mit Kriegserklärungen an den „Spätkapitalismus“ überfütterten die SPD-Jungsozialisten die Massenmedien; die arrivierten Genossen, wie Schriftsteller Günter Grass, Heinrich Boll und andere, erreichten indes mit wohlwollender Hilfe von Partei und Gewerkschaften im selbstlosen, antikapitalistischen Kampf Millionenauflagen. Aber der als Fortschrittsdogma gepriesene „Konsumverzicht“ hat sich als Bummerang erwiesen. Die von dem mehr und mehr zum Sozialismus hin abgedrifteten DGB verbreiteten Parolen von „sozialer Demontage“, wonach die Unternehmer die Hauptschuldigen daran sind, daß soziale Höhenflüge inmitten der Rezession nicht länger bezahlt, werden können, verzerren die Wirklichkeit. Denn die eigentliche soziale Demontage wurzelt in Kaufkraftschwund, Betriebssterben und damit schrumpfendem Sozialprodukt, gefolgt von Massenarbeitslosigkeit. Ein Zurück kann es eben nur durch eine investitionsfreundlichere Politik und ein deutliches Wachstum der Volkswirtschaft geben.

Mit uneingestandener Wehmut muß sich wohl der in seiner ureigenen persönlichen Einstellung von Pragmatismus geleitete Kanzler heute nach jener Leistungsgesellschaft zurücksehnen, deren Bekämpfung aus seiner eigenen Partei er allzulange keine griffige Realpolitik entgegengestellt hatte. Und siehe, das marktwirtschaftsfeindliche Gerede, das jahrelang die gesellschaftspolitische Szene von linksaußen bis fast hin zur Mitte beherrschte, verfliegt jäh. Der Gegentrend, von Helmut Schmidt maßgeblich gesteuert, ist da. Mit einer geradezu konträr injizierten Grundstimmung soll der Bürger zum Konsum angehalten werden. Abgelöst haben sich dabei lediglich jene, die auf der Kommandobrücke die Richtung weisen: Es sind nicht mehr die bisher verketzerten, privaten Wirtschaftskapitäne des machtgierenden Monopolkapitals, sondern die Steuermänner des Gemeinwohls. Und was früher verwerflich war, weil ja dem „Profit“ dienend, ist heute staatsbürgerliche Tugend gegenüber dem gesamten Volk. Überhaupt paßt die in jahrelangem Kampf um ideologische Begriffsbesetzung emotional negativ angereicherte Vokabel „Profit“ nicht mehr in die wirtschaftspolitische Landschaft. Das Wort weicht nun selbst im Sprachgebrauch der Regierung zunehmend dem wertneutraleren Terminus „Gewinn“. Denn in der Flaute sitzen jetzt auch nach Erkenntnis realistischer Führungspolitiker die Scheine in den Geldbörsen der Bürger ohnehin zu wenig locker. Die deutsche Tugend des Sparens zählt zu den Geistern, die die Konsumverzichter riefen und jetzt nicht schnell genug loswerden können.

Die Konsumenten reagieren auf die Krise ebenso zurückhaltend wie die Industrie: Sie sparen. 62 Millionen bundesdeutsche Verbraucher, Zuschauer und zugleich Hauptakteure im Konjunkturdrama, geben dem Schauspiel vorerst keine Wende. Anstelle vpn regem Betrieb in Geschäftslokalen wie in bisherigen Jahren, die man bald die „goldenen“ nennen wird, drängt sich das Volk vor den Sparfouchschaltern der Banken. Selbst der in diesen Tagen eingeläutete Sommerschlußverkauf ließ sich flau an. Die Deutschen, stets zu Extremen und Superlativen nach unten wie oben bereit, inszenieren gegenwärtig einen bisher nie dagewesenen Spar-Boom.

Das Schlagwort vom „Angstsparen“ macht die Runden. Die Bürger drängten freilich schon immer an die Kassenschalter, wenn sie um ihre wirtschaftliche Zukunft besorgt waren. In Zeiten der Hochkonjunktur und der wachsenden Teuerung dagegen legten sie weniger auf die hohe Kante, gaben mit vollen Händen aus und heizten damit die Inflation an. Die Furcht vor einer Vertiefung der Krise, vor dem Verlust der Arbeitsplätze, dämpft die Ausgabenfreude. Man reagiert zwar „menschlich“, aber konjunkturpolitisch falsch: Anstatt durch Käufe die Investitionsund Produktionstätigkeit anzuregen, verstärken die unsicher gewordenen Verbraucher die Rezession.

Jede sechste, heute verdiente Deutsche Mark wird in irgendeiner Form als Spargroschen gehortet. Fast die Hälfte der immerhin um fast 7,5 Prozent gestiegenen Kaufkraft wird von den Haushalten zurückgelegt, obwohl die Preissteigerungsraten höher sind als die Zinsen, die ihrerseits noch sinken. Bei Sparbüchern liegen sie durchschnittlich zwei Punkte unterhalb der Inflationsmarke. Bei einzelnen Sparformen ist der Zuwachs jetzt schon größer als der des ganzen vergangenen Jahres. In den ersten fünf Monaten von 1975 haben die privaten Sparer bei den Bankinstituten über 60 Prozent mehr zusammengetragen als im letzten Jahr. Das private Kontensparen nimmt einen besonders breiten Raum im wirtschaftlichen Denken des Bundesbürgers ein. Hier lag das Zuwachsniveau in den letzten Monaten laut Deutschem Sparkassen- und Giroverband bei durchschnittlich über zwei Milliarden DM. Im Juni kam es zwar zu einem schwächeren Anstieg der Einlagen von „nur“ 1,3 Milliarden, doch dieser Monat fiel bereits in die Haupt-Urtaubssaison, van der schon jetzt feststeht, daß die Reise- und die dementsprechende Ausgabenfreudigkeit der Deutschen heuer alle bisher dagewesenen Rekorde bricht. Wertet man die Spartätigkeit der gegenwärtigen Sommermonate unter diesem Gesichtspunkt, müssen die jetzt ermittelten vorläufigen Ergebnisse immer noch als sensationell gelten: Der Nettoabsatz allein bei den Sparkassenbriefen- und Obligationen erhöhte sich dm Juni mit 414 Millionen DM um 87 Prozent gegenüber dem Vergleichsmonat im Vorjahr. Selbst im Verhältnis zur diesjährigen Reise-Vorsaison Mai läßt sich noch ein Plus von 15 Millionen DM errechnen.

Die Sparwelle steht in direkter Korrelation zum privaten Verbrauch: Dieser stieg im ersten Vierteljahr 1975 real nur um 2,5 Prozent. Doch auch für den bald zu Ende gehenden Sommer sehen die Wirt-schaftsauguren keinen deutlichen Auftrieb der Nachfrage. Die Konsumausgaben in der Bundesrepublik werden heuer voraussichtlich maximal nur 2,5 Prozent zunehmen. Vergeblich wartet der Einzelhandel auf Käufer, die wachsende Umsätze bringen könnte. Und je teurer die Ware, umso zurückhaltender sind die Kunden.

Die Aufforderung des Bundeskanzlers an die Verbraucher, weniger zu sparen und mehr zu konsumieren, nimmt sich angesichts der verschreckten Lageeinschätzung in weiten Bevölkerungskreisen illusionistisch aus. Doch auch an bisherigen Wirtschaftsdaten gemessen ist Schmidts Beurteilung der Effizienz von gesteigerter Inlandsnachfrage reichlich hoch geschraubt: Denn ein noch so großer Binnenverbrauch konnte die Wirtschaft stets nur zum geringen Teil stimulieren. Das Nachfragedefizit aus dem Ausland ließe sich selbst durch einen plötzlichen Boom im Inlandsgeschäft nicht ausgleichen.

Das Sparverhalten der Bevölkerung bildet einen wesentlichen Faktor in der Krisenkalkulation des Staates. Mithin haben die Sparrekorde für die Regierung auch positive Seiten: So sehr sie einerseits mehr Käufe herbeisehnt, die wiederum die Arbeitsplätze sichern sollen, so willkommen sind ihr anderseits die privat unangetasteten Geldberge, mit deren Hilfe der Staat vorläufig seine gigantischen Schulden finanziert. Und so grotesk es sich auf den ersten Blick ausnehmen mag, stützen diese Schulden letztlich die Konjunktur. Das neue Spar-Phänomen kommt aber auch der Imagepflege der Regierung zugute: Der. Finanzminister, der vom ,Angstsparen“ freilich nichts wissen will, deutet die Sparwelle als Zeichen für ein Sinken der Inflationsfurcht.

Wann die riesenhaft angewachsenen Sparsummen der privaten Haushalte wieder in den Wirtschaftsfluß zurücklaufen, läßt sich noch nicht absehen. Hier jedoch zeichnet sich eine neue Gefahr ab: Sollte es zu einem abrupten Gegentrend kommen und die Spargelder allzu jäh in den Konsum zurückgehen, würde ein solchermaßen ausgelöster Kauf-Boom eine neuerliche Inflationswelle auslösen. Die gleichen Befürchtungen sind neuerdings auch aus dem OECD-Hauptsitz in Paris zu hören. Denn die 24 Länder der „Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung“ konnten ihre durchschnittliche Inflationsrate nur mit

Hängen und Würgen auf 10 Prozent drosseln und stünden einem durch Überkonsum verursachten, neuerlichen Kaufkraftschwund machtlos gegenüber.

Angesichts der bedrohlichsten Lage der deutschen Wirtschaft seit Bestehen der Bundesrepublik hat die Banner Regierung bereits im vergangenen Jahr zwei von Bund und Ländern gemeinsam finanzierte Sonder-programme im Volumen von je einer Milliarde DM beschlossen. Damit sollten die Investitionen angereizt, die Beschäftigungslage in bestimmten Gebieten durch Lohnzuschüsse gesichert und die besonders darniederliegende Bauwirtschaft unterstützt werden. Wichtigster Programmpunkt war die Investitionszu-laige von 7,5 Prozent der Anschaffungen, die bis zum 30. Juni dieses Jahres geliefert oder bestellt wurden.

Aber schon zwischen Mitte und Ende Juli wuchs die Enttäuschung: Das halbherzige, staatliche Hofieren der Unternehmer konnte das Wirtschaftsdornröschen aus seinem Ohnmachtsanfall nicht wecken.

Obwohl sich die Ende Juni ausgelaufene Investitionsprämie als Schlag ins Wasser erwiesen hatte, werden vor dem Hintergrund der nicht zu enden wollenden privaten Investitionsschwäche neue Forderungen nach staatlicher Hilfe durch vermehrte Auftragsverteilung zunehmend lauter. Doch so richtig geldpolitische Maßnahmen im Ansatz sein mögen, ist der Staat damit eben überfordert. Seine Kassen leiden unter schwersten Defiziten. Der erst kürzlich genannten Zahl von rund 30 Milliarden Mark Schulden der öffentlichen Hände allein in diesem Jahr stellen andere Experten neuerdings sogar eine Schätzung von 53 Milliarden entgegen. Vom schwindsüchtigen Bundeshaushalt sind also kaum ausreichende Finanzpillen zu erwarten. Und gegen Infrastruktur-Kollapse samt Arbeitslosigkeit scheint sich nur eine weitere Verschuldung des Staates anzubieten. Diese ist zwar konjunkturpolitisch im Augenblick noch zu verkraften — aber sie kann nicht viel nützen, wenn wieder nur vorwiegend konsumptive, unproduktive Ausgaben mit Krediten finanziert werden, wie es die Verschwendungsfreude in den fetten Jahren und die Aufblähung der Personalausgaben im öffentlichen Dienst eindrucksvoll belegt haben. Eine hohe Verschuldung belastet zudem künftige Haushalte und heizt die Inflation an, sobald ein Aufschwung in Sicht kommt. Wunderheilungen durch den Staat werden weiterhin ein frommer Wunsch bleiben. Eine Erholung kann nur von den Selbst-heilumgskräften der Wirtschaft ausgehen. Die Regierung kann sie dabei lediglich unterstüzen.

Trotz alledem setzen Kanzler, Wirtschafts- und Finanzminister nach wie vor auf ihr neues, in den nächsten Wochen bevorstehendes Konjunkturprogramm. In Bonn werden derzeit Zahlen zwischen vier und fünf Milliarden DM gehandelt. Knapp vier Milliarden wurden von Bund und Ländern bereits startklar gemacht. Einen Teil dieses Geldes werden einige Bundesländer freilich, in den allgemeinen Haushalt stekken; indes ist vom Verbleiben noch beachtlicher Reste die Rede. Weitere Summen müssen eben gepumpt werden, angesichts der Situation auf dem Kreditmarkt kaum eine Schwierigkeit.

Von dem neuen Ankurbelungsvorhaben der Regierung sind allerdings nicht einmal ihre traditionellen Freunde begeistern. Die Gewerkschaft „Bau-Steine-Erden“, die zwischen der branchenbetroffenen Arbeitslosigkeit einerseits und Lohnforderungen ihrer Mitglieder anderseits besonders herumlavieren muß, ließ durch ihren Vorsitzenden Rudolf Sperner vor wenigen Tagen verkünden, der Hilfskatalog aus Bonn sei völlig unzureichend. Wenn das Koalitionskabinett nicht sofort weitere Maßnahmen treffe, würde von den insgesamt 1,2 Millionen bundesdeutschen Bauarbeitern im kommenden Winter ein Drittel arbeitslos sein.

Skepsis gegen den weiteren Konjunkturfahrplan Schmidts haben auch nahezu alle Wirtschaftsverbände angemeldet. Ihr Argument: Die Maßnahmen könnten nur dann wirksam werden, wenn sie der deutschen Wirtschaft die Aussicht böten, ihren Ertragsspielraum mittelfristig zu erhöhen. Nur in diesem Fall nämlich wären die Unternehmer bereit, die zu einer freien Wirtschaftsordnung gehörenden Strukturrisiken einzugehen. Und in der Tat kann sich das Hoffen auf den konjunkturellen Selbstreinigungsprozeß der Marktwirtschaft nur erfüllen, wenn es wieder Chancen auf einsatzlohnende Erträge gibt, die die unternehmerische Initiative aus ihrem Koma holen.

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