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Mit der Inflation leben

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Die vor einigen Wochen geäußerte Befürchtung, daß die von dem Bonner Wirtschaftsminister Professor Karl Schiller gegen starke Widerstände durchgesetzten Maßnahmen zur Konjunkturdämpfung in diesem Herbst ins Zwielicht geraten könnten, hat sich prompt bestätigt. Es ist weiter zweifelhaft, ob die mit zwei Unbekannten, der Wirtschaft und den Gewerkschaften, aufgestellte Rechnung aufgehen wird.

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Die vor einigen Wochen geäußerte Befürchtung, daß die von dem Bonner Wirtschaftsminister Professor Karl Schiller gegen starke Widerstände durchgesetzten Maßnahmen zur Konjunkturdämpfung in diesem Herbst ins Zwielicht geraten könnten, hat sich prompt bestätigt. Es ist weiter zweifelhaft, ob die mit zwei Unbekannten, der Wirtschaft und den Gewerkschaften, aufgestellte Rechnung aufgehen wird.

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Dabei hat die Bundesregierung selbst, vor allem deren Finanzminister Alex Möller, eine Schwierigkeit mehr heraufbeschworen, als er den Mammuthaushalt für 1971 von mehr als hundert Milliarden D-Mark mit einer Steigerung gegen 1970 um gut zwölf Prozent vorlegte. Es ist nun einmal dem beschränkten Untertanenverstand nicht auf Anhieb faßbar, daß der Steuerzahler einen Teil seines erarbeiteten Einkommens, immerhin zehn Prozent der Steuersumme, auf unbestimmte Frist zur Abkühlung der Konjunktur stillgelegt sieht, während der Staat, von dem doch auch anheizende Impulse ausgehen, munter um zwölf Prozent mehr ausgeben darf. Minister Möller hätte wohl auch ohne seinen unglücklichen Vergleich der Bonner Opposition von 1970 mit den an den zwei bisherigen deutschen Inflationen dieses Jahrhunderts Schuldigen den Ausweg zeigen müssen, daß der. Hauiähalt 1971 zwar in voller Höhe beraten, aber falls die erhoffte Preisberuhigung ausbleibt, im letzten Stadium der parlamentarischen Prozedur endgültig festgesetzt werden soll. Zu enttäuschend fielen auch Prognosen aus, die keineswegs aus dem Lager der CDU/CSU kamen. So befürchtet das Wirtschaftswissenschaftliche Institut der Gewerkschaften für 1971 eine wesentliche Ab-schwächung der Gesamtnachfrage, die die Kapazitätsauslastung der deutschen Wirtschaft deutlich verringern könnte. Das sieht auf den ersten Blick wie eine Schützenhilfe für den Finanzminister aus, denn dann würde eine starke Steigerung der Staatsausgaben der erlahmenden Konjunktur neue Impulse geben. Aber gemach: die gesamtwirtschaftliche Analyse des Institute beziffert das Wachstum des Industriepotentials in der Bundesrepublik Deutschland auf 5,5 Prozent. Für 1970 sieht die Analyse diese Schätzung gesichert. 1971 aber vermag sie keine Chancen zu erblicken, daß der vorhandene Wachstumsspielraum voll ausgenützt werden könnte. Das reale Bruttoinlandsprodukt werde um 5,5 Prozent, das nominale Sozialprodukt um 11,5 Prozent zunehmen, wobei für den Verwenduings-bereich Anlageinvestitionein mit plus

20 Prozent der größte nominale Anstieg vorausgesagt wird. Der private “Verbrauch soll um zwölf, der Staatsverbrauch um elf Prozent über dem Stand des Vorjahres liegen. Der Anstieg der Bruttoeinkommen aus unselbständiger Arbeit und aus Unternehmertätigkeit 'ist mit sechs und 6,5 Prozent annähernd balanciert. Für 1971 sieht das Wirtschaftswissenschaftliche Institut eine Verlangsamung des Wachstumstempos auf 3,2 Prozent selbst dann voraus,, wenn die gegenwärtigen Restriktionen der Bundesbank und der Bundesregierung noch in diesem Jahr wegfallen. Es errechnet einen Verlust von rund zehn Milliarden D-Mark an möglichem Wachstum^ der sich auf zwanzig Milliarden erhöhen könnte, wenn die Bremse auch 1971 nicht gelockert würde. Die reale Zunahme würde auf 1,3 Prozent sinken, die Inflationsrate knapp drei Prozent betragen.

Soweit die Gewerkschaften, die ja gerade jetzt in Tarifverhandlungen einen vollen Schluck aus der Lohnpulle nehmen. Der neue Präsident des Deutschen Instituts für Wirt-schaftsforschung, der sozialdemokratische Bundestagsabgeordnete Klaus Dieter Arndt, bis vor wenigen Wochen noch parlamentarischer Staatssekretär im Wirtschaftsministerium Professor Schillers, bekennt sich inzwischen offen zu der Relativität des Ziels der Preisstabilität. In einer inflationären Umwelt müsse die Bundesrepublik Deutschland das internationale Inflationsspiel mitspielen und das entweder offen und ehrlich zugeben oder permanent aufwerten. Da die fortschreitende europäische Integration das Instrument der Aufwertung mehr und mehr ausklammere, bliebe nur übrig, das Ziel der Geldwertstabilität zu relativieren. Preissteigerungen seien zuzulassen, solange das deutsche Preisniveau gerade noch unter der internationalen Inflationsrate bleibt. So behielte die deutsche Wirtschaft noch im internationalen Handel einen gewissen Wettbewerbsspielraum. Die internationale Inflationsrate wird von Fachleuten auf etwa fünf Prozent im Jahr angegeben. Jeder mag sich auszählen, wie lange das fortzusetzen ist. Immerhin rechnet Präsident Arndt für das nächste Jahr noch mit einem befriedigenden Wachstum bei nur geringfügig nachlassendem Preisauftrieb. Dieser Herbst ist für Karl Schüler wirklich heiß, auch wenn man von den tumultuarischen Begleiterscheinungen des Lohnstreits in der Metallindustrie absieht, „spontanen“ Warnstreiks und wilden Zerstörungsakten, über die sich Presse und Rundfunk so ziemlich ausschweigen. Dabei werden Gastarbeiter vorgeschickt, denen man Gott weiß was eingeredet hat, und die Betriebsräte sprechen dann von sprachlichen Ver-ständigunigsschwierigkeiten. Da in der gegenwärtigen Lage weder globale Ablehnung noch globale Billigung des Hundertmilliardenhaushalts der Weisheit letzter Schluß sein kann, neigt man auch in der Regierungskoalition der von der Opposition ins Gespräch gebrachten Teilung in einen Kern- und einen Even-tualhaushalt zu. Damit aber würden auch die „inneren Reformen“, von denen gerade der Regierungschef soviel hält, aus einer festen Zusage zu einer Eventualität.

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