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Unverständliche Politik des Zögerns und Zauderns

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Österreich ist gezwungen, das zu tun, was andere europäische Staaten längst begonnen haben: die Beschränkung der Sozialleistungen.

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Österreich ist gezwungen, das zu tun, was andere europäische Staaten längst begonnen haben: die Beschränkung der Sozialleistungen.

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Wie konnte es nur in aller Welt zu einem so schlechten Start der Koalition in der neuen Legislaturperiode kommen? Medien und öffentliche Meinung urteilen in dieser Frage gleich: Die Regierungsparteien reagieren in entscheidenden wirtschaftspolitischen Fragen defensiv, wo sie ein klares Konzept glaubhaft vertreten sollten, sie zeigen sich unsicher und wankelmütig, wo sie fest bleiben müßten, sie sind zerstritten, wo Einigkeit nottäte.

Über diese sichtbaren Navigationsfehler ' der Verantwortungsträger nach einer empfindlichen Wahlniederlage darf nicht übersehen werden, daß wir heute mit dem Ergebnis einer Wirtschafts- und Sozialpolitik konfrontiert sind, die während vieler Jahre den Weg des geringsten Widerstandes ging, indem sie immer •4nehr versprach und gegeben hat, als man sich - gemessen an der Wirtschaftskraft des Landes - leisten konnte. Damit wurden auf die Zukunft Wechsel gezogen, die jetzt fällig sind.

Dessen ungeachtet haben die Regierungsparteien noch im Sommer vor der Nationalratswahl in voller Kenntnis des explodierenden Budgetdefizits und des rasch wachsenden Leistungsbilanzpassivums Versprechungen gemacht, deren Erfüllung von Anfang an unrealistisch war. Die Aussage, daß Wohlstand allen zugute kommen müsse, bekräftigte die Erwartung, für eine Erweiterung des sozialen Netzes und neue Belastungen der Wirtschaft wäre noch Spielraum vorhanden. Man verschwieg die Notwendigkeit einer Redimen-sionierung der Sozialleistungen, die sich nicht nur auf die pft, zitierte „mißbräuchliche Inanspruchnahme” beschränken kann. Die Zusicherung, daß Steuern und Abgäben keinesfalls.' erhöht würden, war und ist' unter den gegebenen Redingungen völlig unhaltbar. Die Regierungsparteien befinden sich somit in der gleichen Lage wie der 1992 gescheiterte US-Präsident George Bush, der vor seiner Wahl jegliche Steuererhöhungen ausgeschlossen hatte („read my lips”) und sein Versprechen unter dem vorhersehbaren Zwang der Verhältnisse brechen mußte.

Diese Vogel-Strauß-Politik der Regierungsparteien ist umso unverständlicher, als die meisten Staaten Westeuropas notgedrungen oft schon vor Jahren den Weg der Budgetkonsolidierung beschritten und zu drastischen Beschränkungen ihrer Sozialleistungen gezwungen waren: Die Niederlande sparen 112 Milliarden Schilling vor allem im Sozialbereich ein. Belgien hat sich nach einem erbitterten Streit zu einer Anhebung des Mehrwertsteuersatzes um einen Prozentpunkt und zu Kürzungen bei Kinderbeihilfen, der Arbeitslosenunterstützung, im Gesundheitswesen und bei den Pensionen durchgerungen. In Spanien mußten die Beamten bereits im Vorjahr eine Nullrunde akzeptieren. Italien hat unter anderem einen Selbstbehalt von etwa 5.000 Schilling für bestimmte medizinische Leistungen, eine schrittweise Anhebung des Pensionsalters und die Abschaffung steuerlicher Begünstigungen verfügt. Deutschland hat Feiertage gestrichen und einen allgemeinen Steuerzuschlag beschlossen. Den umfangreichsten Sozialabbau aber mußte das „Volksheim” Schweden vornehmen. In allen diesen Ländern spielte es bezeichnenderweise keine Rolle, welche Regierung gerade an der Macht war.

Widerstand ist normal

Wer 250 Milliarden Schilling in fünf Jahren einsparen muß, hat Ausgabenkürzungen und Einnahmenerhöhungen vorzunehmen, die alle betreffen und den meisten empfindlich wehtun. Somit müssen die notwendigen Maßnahmen zwangsläufig auf den erbitterten Widerstand mächtiger Interessen stoßen. Es kann bei allem Streben nach Konsenslösungen nicht erwartet werden, daß einem so umfassenden Sparpaket alle davon betroffenen Gruppen zustimmen. Daher sind Durchsetzungsvermögen und Konfliktbereitschaft von seiten der Regierung unerläßlich. Denn es gilt, die wirklich heißen Eisen 4 wie Pensionsreform, Bundesbahndefizit, Arbeitslosenversiche-rung und Insolvenzfftnds, flächendeckende Sozialleistungen ohne Rücksicht auf Redürftigkeit - anzufassen.

Rei dieser Auseinandersetzung muß jedoch auch wesentlich intensiver um Verständnis in der Bevölkerung geworben werden. Dabei spielen die Ausgewogenheit der Belastungen und das Vertrauen in die Wirksamkeit der Maßnahmen eine ausschlaggebende Rolle. Es ist richtig, daß man mit einer stärkeren Re-steuerung hoher Einkommen, die das Budgetdefizit mit höchstens zwei oder drei Prozent verringern könnte, kein Auslangen finden kann. Auch sollen die negativen Auswirkungen solcher Belastungen auf Investitionsbereitschaft und damit auf Wirtschaftswachstum und internationale Konkurrenzfähigkeit nicht übersehen werden. Und doch ist es unerläßlich, im Sinne der sozialen Symmetrie ein Zeichen zu setzen, um die notwendigen Opfer bei den unteren Einkommensschichten akzeptabler zu machen.

Wehrlos ausgeliefert

Vor allem aber muß deutlich gemacht werden, welche Konsequenzen ein Scheitern der Sparpolitik hätte. Das Leistungsbilanzpassivum wird 1994 etwa 20,3 Milliarden Schilling, 1995 bereits 25 Milliarden Schilling betragen. Die jährlichen Budgetdefizite liegen weit über 100 Milliarden Schilling. Die gesamte Staatsverschuldung hat die Gefahrenmarke von 60 Prozent des Bruttoinlandsproduktes überschritten. Dieses Konvergenzkriterium für die Europäische Währungsunion ist nicht zufällig festgelegt worden. Bei höheren Werten macht die Zinsdynamik notwendige Sparanstrengungen wirkungslos. Der Staat verliert seinen Einfluß auf die Finanzpolitik und wird ein Getriebener. Die Folgen sind Inflation und Verlust der Währungsstabilität. Österreich würde damit seine größte wirtschaftspolitische Errungenschaft, den harten Schilling, einer Politik opfern, die in späterer Folge gerade den wirtschaftlich schwächeren und unbeweglicheren Teil der Bevölkerung am stärksten benachteiligen würde, ohne daß er sich dagegen wehren könnte.

Zu drastischen Sparmaßnahmen gibt es somit keine verantwortbare Alternative.

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