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Reform! Aber wie?

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Bei der Erörterung der Ursachen für die Wahlschlappe der Volkspartei am 10. Mai 1959 wurde ein wichtiger Faktor übersehen: das schwindende Vertrauen des Wählers auf den ernsten Willen (und mitunter auch die fachliche Fähigkeit) der ersten Regierungspartei zur Ordnung der zahlreichen offenen, aber meist sehr komplizierten Fragen in Wirtschaft, Gesellschaft und Staat. Verlangt wurde eine Reform der Vermögensverteilung durch eine Teilnahme breiterer Schichten am Erwerb neuen Eigentums, auch an Produktionsmitteln, bei gleichzeitigem Schutz des bereits Erworbenen; verlangt wurde weiter eine Reform der Gesellschaftsstruktur durch Familienpolitik, die Stärkung der wirtschaftlichen Position des einzelnen durch Steuersenkungen, die Vergrößerung der individuellen Dispositionsfreiheit durch Abbau der Staatsomnipotenz, die Hebung des Lebensstandards durch intensivere Teilnahme an der internationalen Arbeitsteilung, schließlich die Förderung aller schöpferischen Kräfte durch eine richtig verstandene soziale Marktwirtschaft. Das heißt: durch eine Wirtschafts- und Sozialordnung, in der die Möglichkeiten des Marktes zur Koordinierung der Betriebe und Haushalte voll ausgeschöpft werden, ohne die Grenzen der ordnungspolitischen Leistungsfähigkeit der Marktkräfte allein zu übersehen. Das alles mußte — seinerzeit wirklich glaubwürdig offeriert — dem Wähler den Eindruck vermitteln, daß sich hinter diesen in die Augen springenden Einzelforderungen tatsächlich eine mehr oder minder geschlossene Gesellschaftskonzeption verbirgt. Dies ließ alle jene wieder aufhorchen, die die totgelaufenen und anachronistischen Alternativen Kapitalismus und Sozialismus ablehnen und nach „dritten Wegen“ suchen.

Sicherlich wurden dann auf vielen Gebieten auch beachtliche Leistungen oder wenigstens Anfangserfolge erzielt: bei der Reorganisation der Verwaltung und Leitung der Staatsbetriebe, der Ausgabe von Kleinaktien, dem ersten Schritt zum Ausgleich der Familienlasten, der fortschreitenden Liberalisierung des Außenhandels, der Stabilisierung unserer Währung und damit der Hebung deT Sparfreude, der Steigerung der- Pro*-duktivitäb-uad der- ste!ten; Expansion [von ■Wirtschaft und Beschäftigung.

Was aber hat vielfach der politische Alltag aus einzelnen dieser Grundsätze gemacht? Wie wurden sie selbst von ihren Autoren gelegentlich ausgelegt! Nicht wenige, mitunter sogar sehr maßgebliche Parteifunktionäre haben wiederholt den Eindruck hinterlassen, daß sie von dieser gesellschaftspolitischen Konzeption überhaupt nicht Notiz genommen haben. Und gerade dort, wo sich eine nach einer naturrechtlichen Gesellschaftsordnung orientierende Wirtschafts- und Sozialpolitik zu bewähren hätte, wurde ihr Einsatz gar nicht erst versucht: bei den verschiedenen „heißen Eisen“, die nun inzwischen um so unangenehmere Ladenhüter geworden sind, als sie durchaus nicht die Tendenz zeigen, sich von selbst abzukühlen. Das sind die Wohnraum- und Mietzinspolitik, die Krankenkassensanierung u. a.

Man darf dem Wähler von heute schon viel mehr Verständnis für Vorschläge zumuten, die eine wirkliche Lösung solcher Probleme unter Wahrung des notwendigen Freiheitsraumes für den einzelnen versprechen. Es ist eine Binsenwahrheit, daß wirtschafts- und sozialpolitische Maßnahmen in der Regel stets Nutznießer und Benachteiligte schaffen. Eine politische Partei ist jedoch schlecht beraten, wenn ihre Blicke bei der Formulierung dringend notwendiger Schritte auf potentielle Wählergruppen fixiert bleibt, deren Interessen davon möglicherweise beeinträchtigt werden. In einer Gesellschaft, deren Struktur nicht zuletzt auch durch eine jahrzehntelange Kette unsystematischer, punktueller und oft genug auch widerspruchsvoller staatlicher Interventionen geprägt wurde, ist es schlechthin unmöglich, gerecht zu sein und niemandem weh tun zu wollen. Heute gibt es für alle Fälle Übergangsmaßnahmen, die geeignet sind, bei erforderlichen Anpassungen an neue Verhältnisse unbillige Härten zu vermeiden. Politik kann nur dann vertrauenswürdige Ordnungspolitik sein, wenn sie nicht ausschließlich unter dem Gesichtswinkel der nächsten, womöglich lokalen Wahltermine steht, sondern in etwas weiter gesteckten Perioden zu denken lernt. Einer solchen bewußt auf die Verwirklichung des Gemein-wohls abgestellten Ordnungspolitik stehen von vornherein schon gewisse Schwierigkeiten im Wege, die durch die Parteiorganisation bedingt sind. Interessenpolitisch profilierte Bünde benötigen eine viel stärkere organisatorische Klammer als selbst das neue „Koordinierungskomitee“, um das Konzept einer Volks partei erforderlichenfalls auch innerparteilich wirklich durchsetzen zu können.

In diesem beschränkten Rahmen können nur einige Hinweise gegeben werden. Zur Erarbeitung eines geeigneten Gesamtkonzepts bleibt noch viel zu leisten. Wenn die Politik auf den verschiedenen Gebieten als Ordnung der Gesellschaft verstanden werden soll, dann müssen zur Klärung der Probleme alle verfügbaren modernen Erkenntnisquellen einschließlich der einschlägigen wissenschaftlichen Disziplinen herangezogen werden. Dazu muß sich die ÖVP energisch von ihrer Feindschaft gegenüber allem Theoretischen, die nicht selten von ihren sich als Praktiker gefallenden Exponenten zur Schau getragen wird,frei machen. Eine fruchtbare innerparteiliche Diskussion ist dazu ebenso notwendig wie eine Plattform der Meinungs- und Willensbildung über den einzelnen Bünden, die Heranziehung von Fachkräften ebenso unerläßlich wie der Mut, ein solches Konzept zu entwickeln und sich daran auch zu halten.

Die derzeitige österreichische Steuerpolitik fordert wegen ihrer manchmal geradezu kon-zeptiv wirkenden vielfältigen Verletzung der Steuergerechtigkeit zur Kritik heraus. Mit Recht wurde der wachsende Anteil der indirekten Steuern (zum Beispiel Umsatzsteuer) zugunsten der direkten Besteuerung (zum Beispiel Einkommensteuer) als unsozial angegriffen. Eine gewisse Differenzierung der Umsatzsteuer nach Warengruppen wäre wünschenswert. Die unverhältnismäßig großzügige steuerliche Entlastung hoher und höchster Einkommen zu Lasten der mittleren steht in krassem Widerspruch zu den programmatischen Erklärungen. Auch die Familienerhalter mußten bisher vergeblich auf eine gerechte Verteilung der Steuerlasten warten. Auch hier sind Schwierigkeiten (Umstellung auf modifiziertes Splitting-Verfahren) kein Alibi für eine Verweigerung der Gerechtigkeit! Dies gilt nicht minder für zahlreiche Forderungen nach einer wettbewerbsneutraleren Besteuerung verschiedener Unternehmungsformen.

Eine der wichtigsten Aufgaben der staatlichen Wirtschaftspolitik ist es, ein stetes Wachstum unserer Volkswirtschaft, das in entsprechenden Zuwachsraten des Sozialprodukts Ausdruck findet, langfristig sicherzustellen. Hiezu müßten zum Beispiel langfristige Entwicklungspläne für Landstriche mit ungenügenden Verkehrs- und Nachrichtenverbindungen, unerschlossenem Baugelände, Anschlüssen an Energieversorgungsnetze u. a. aufgestellt werden. Überhaupt darf auch die Wichtigkeit einer optimalen Ausnützung des vorhandenen Bodens und der Naturschätze nach den Gesichtspunkten der modernen Raumforschung und Landesplanung für eine lang-ristige Entwicklungspolitik nicht unterschätzt .verden. Die berechtigte Sorge vor den Methoden einer sozialistischen Zwangswirtschaft darf gerade die Befürworter einer freiheitlichen Gesellschaftsordnung nicht davon abhalten, sich zur besseren Erkenntnis ihrer Zielsetzungen der modernen fachlich-wissenschaftlichen Methoden zu bedienen.

Die schon viel propagierte Streuung des Eigentums wird um so eher und nachhaltiger ihre für die Wirtschafts- und Sozialordnung mit Recht erwarteten Früchte tragen, je konsequenter der Erwerb von Eigentum, an Produktionsanlagen, Eigenheimen, Eigentumswohnungen und dauerhaften Konsumgütern (vor allem zur Rationalisierung des Haushaltes) durch Private mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln zum gesellschaftspolitischen Konzept erhoben wird. Keineswegs darf diese Absicht auf eine einzige Maßnahme allein beschränkt bleiben. Den ersten, sicherlich nicht leichten Schritten, die wohl auch die Initiatoren nicht ganz befriedigen konnten, müssen unbedingt weitere folgen, die den Weg zu einer wirklich weiten Eigentumsstreuung noch klarer erkennen lassen.

Der Mut zur Ordnungspolitik fehlte besonders auf dem Gebiete der Wohnbaupolitik. (Der komplizierten Problematik Rechnung tragend, die durch die ständige Verschleppung ausgelöst wurae, wird die „Furche“ in der nächsten Zeit einen richtungweisenden Beitrag dazu bringen.)

Eine der gefährlichsten Klippen hat die ÖVP wohl auf agrarpolitischem Gebiet zu überwinden. Noch bei keiner der beiden Regierungsparteien zeichnet sich bisher in der Öffentlichkeit ein Konzept ab, dem von allen Interessenten das erforderliche Minimum an Vertrauen entgegengebracht werden kann. Darin liegt angesichts der sehr widersprüchlichen, rein auf parteipolitischen Erfolg abgestellten Agrarpolitik der SPÖ zugleich die Chance für den Koalitionspartner.

Wege zu einer Agrarpolitik, die konzeptiv ist und allgemeines Verständnis erwarten darf, könnten durch eine Verpflichtung der Bundesregierung zu einer regelmäßigen Berichterstattung über die Ertragslage nach Größe, Lage usw typischer Betriebe der österreichischen Landwirtschaft geebnet werden, wie sie im Kernstück des vorgeschlagenen Landwirtschaftsgesetzes beantragt wurde. Eine solche objektive Berichterstattung könnte die agrarpolitische Diskussion versachlichen und müßte in erster Linie als Grundlage für eine systematische Reform der Agrarstruktur (durch Aufstockung, Grundstück-zusammenlegung, Änderung der Produktionspläne) dienen, die einen rationellen Einsatz von Arbeitskräften und Maschinen in der Landwirtschaft ermöglicht und eine Erhaltung und Sicherung einer möglichst großen Anzahl von gesunden bäuerlichen Familienbetrieben gewährleistet. Auf dem Gebiet der Forstwirtschaft sind gesetzliche Maßnahmen überfällig, die eine nachhaltige Bewirtschaftung des österreichischen Waldbestandes, insbesondere auch des Bauernwaldes, durchsetzen können.

Die Anpassung der Wege und Ziele der Sozialpolitik an die gesellschaftliche Situation von heute ist zweifellos ein internationales Problem, das nicht nur für die ÖVP noch ungelöst ist. Was man von den zuständigen Stellen heute erwarten darf, ist, daß sie sich ernstlich um ein neues Sozialkonzept bemühen. Sicherlich ist eine gesunde Wirtschaftspolitik nicht nur eine unabdingbare Voraussetzung für eine erfolgreiche Sozialpolitik, wirtschaftspolitische Maßnahmen können zur Erreichung bestimmter sozialpolitischer Zielsetzungen unter Umständen vielleicht sogar zweckmäßiger sein als der Einsatz typischer sozialpolitischer Instrumente. Die Sozialpolitik kann sich aber um so weniger allein in wirtschaftspolitischen Maßnahmen erschöpfen je mehr sie als umfassende Gesellschaftspolitik verstanden wird.

Für eine auf naturrechtlichen Überlegungen basierende, am Grundwert der Freiheit orientierte Gesellschaftspolitik ist eine Neugestaltung der Sozialpolitik deshalb so notwendig, weil die Überlassung der sozialpolitischen ■ Initiative an den Koalitionspartner todsicher den totalen Versörgungsstaat bringt.'

Noch immer ist in den antimarxistischen Parteien-im-•Bereiche -der-Sozialpolitik efin gewisses Ressentiment >mcht berwunden, so daß die *Dtef! fensivstellung einer an einem eigenen Konzept orientierten Initiative vorgezogen wird. Daher liegt eine der großen Chancen des Sozialismus immer noch in der Sozialpolitik — wenn man ihn allein gewähren läßt.

Der zunehmende Vermachtungsprozeß hat bewirkt, daß die Sozialgesetzgebung in der Regel nicht nach klar erarbeiteten Ordnungsgrundsätzen, sondern auf Drängen politisch und beruflich organisierter Gruppen durch punktuelle Maßnahmen verwirklicht wurde. Sinnvolle Sozialpolitik setzt aber grundsätzliche Überlegungen voraus, wie sie heute etwa unter der Bezeichnung „Soziälplan“ verlangt werden.

Gerade die Sorge vor dem totalen Versorgungsstaat müßte zu neuen sozialpolitischen Initiativen Anlaß geben, die sich die U m-strukturierung des Sozialbudgets (zum Beispiel Erhöhung der Renten und Familienbeihilfen zu Lasten der Preissubventionen) zum Ziel setzen. Unser Sozialsystem ist ein Nebeneinander von sozialen Leistungen, die noch unzureichend sind (Altersversorgung und Familienlastenausgleich), und solchen Leistungen, die Arbeitsfreude und Leistungswillen beeinträchtigen und daher bereits dem Instrumentarium des Versorgungsstaates angehören, wie zum Beispiel die Art und Weise der heutigen Arbeitslosenversicherung. Auf der Ebene der Betriebe bestehen viele Möglichkeiten zur Verwirklichung der Partnerschaftsbestrebungen. Auf familienpolitischem Gebiet ist die Gefahr, daß sich die Volkspartei in der Initiative von der SPÖ überrunden läßt, besonders akut. Immer wieder kommt es vor, daß sich selbst die auf diesem Gebiete spezialisierten Mandatare nicht an das Konzept halten, das sie seinerzeit selbst in 1 sehr vielversprechender Weise im Motivenbericht des Familienlastenausgleichsgesetzes verankern konnten. Um die derzeit festgefahrene Idee eines familienpolitischen Beirates bei der Bundesregierung wieder flottzubringen, könnten sich doch wenigstens die von der ÖVP dominierten Landesregierungen offizielle und der ÖVP angehörende Bundesminister persönliche Familienbeiräte schaffen. Die Öffentlichkeit erwartet, daß die einmal als richtig erkannten Ziele nicht nur grundsatzgetreu und energisch, sondern auch mit wendigeren und politisch phantasievolleren Mitteln verfolgt werden.

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