Zivilgesellschaft: Chance für die Zukunft

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Eine Umsteuerung der globalen Entwicklung scheint unabdingbar. Wirtschaft und Politik sind allerdings bei deren Bewältigung überfordert

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Eine Umsteuerung der globalen Entwicklung scheint unabdingbar. Wirtschaft und Politik sind allerdings bei deren Bewältigung überfordert

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Die menschliche Gesellschaft steht vor der existentiellen Herausforderung, die eskalierenden materiellen Wachstumsprozesse durch geeignete Maßnahmen zähmen zu müssen. Staat und Wirtschaft, welche die Macht in unserer Gesellschaft verkörpern, erscheinen als Akteure für eine Umsteuerung kaum geeignet, weil ihr Einfluss immer noch eng mit den Energie- und Stoffströmen zusammenhängt und sie deshalb kaum an deren Einschränkung interessiert sein werden.

Denn auch in Zukunft können aus diesen Strömen, die nach bisheriger Praxis aus primär kostenlosen Naturressourcen gespeist werden, nur wirkliches (und nicht nur virtuelles) Geld erwirtschaftet werden, solange diese nicht versiegen.

Der Herausforderung wird deshalb nur erfolgreich begegnet werden können, wenn sich neben dem Staat und der Wirtschaft eine geeignete dritte Kraft formiert und sich die Lösung der damit verbundenen Aufgaben zum Ziel macht.

Wie soll ein Umsteuern gelingen? Es besteht in den führenden Industrienationen wenig Neigung vom bisherigen wirtschaftlichen Dogma abzuweichen, da doch gerade erst die westliche Wirtschaftsform in der Auseinandersetzung mit der östlichen Kommandowirtschaft eindeutig als Siegerin hervorgegangen zu sein scheint. Damit sei sie nun, so glaubt man, hinreichend als die schlechthin angemessenste Wirtschafts- und Lebensform ausgewiesen. Dies ist ein gefährlicher Trugschluss, da die westliche, wachstumsorientierte Wirtschaftsform mit ihrem aufwendigen und verschwenderischen Lebensstil im krassen Widerspruch zu den Bedingungen einer sozialen und ökologischen Verträglichkeit steht.

Es fehlt der Überblick In einer liberal-kapitalistischen freien Marktwirtschaft ist nämlich nicht jeder Bedürftige ein möglicher Kunde am Markt, sondern nur derjenige, welcher über ausreichend Geld verfügt. Bei steigender Arbeitslosigkeit fallen immer mehr - und hierbei gerade die Bedürftigsten - als verhandlungsfähige Käufer aus. Doch auch die Kauffähigen haben nur geringe Chancen, das ihren Wünschen Angemessene und das für sie beste Produkt herauszufinden, weil ihnen die dazu nötige Information fehlt.

Durch eine massive schönfärberische Werbung wird der Kunde auf wissenschaftlich ausgeklügelte Weise zum Kauf von Produkten verführt, die zunächst kaum in seinem Interesse liegen. Auch wird er über den eigentlichen Wert des Produktes getäuscht.

Der unerbittliche Wettbewerb zwischen den Produzenten und Anbietern verleitet doch dazu, die Bürgerinnen und Bürger über Fernsehen, Radio und Printmedien zu verdummen anstatt sie als aufmerksame und gewissenhafte Kunden zu einer informierten, kompetenten Entscheidung zu befähigen, wie dies eigentlich in den Lehrbüchern der freien Marktwirtschaft als Idealfall beschrieben wird.

Trotz der oberflächlichen Pluralität der angebotenen Produkte triumphiert am Ende die mächtige Einfalt über die differenzierte Vielfalt, da sich diese nur all zu oft als nur verschiedene "Verpackungen" von Wohlbekannten entpuppen.

Die meisten Produzenten werden im unerbittlichen Konkurrenzkampf immer mehr genötigt, sich weniger um eine hohe Qualität ihrer Produkte, als mehr um deren möglichst umfangreiche Vermarktung zu kümmern. Damit scheidet die Wirtschaft praktisch als eine innovative Kraft für die Neuorientierung der Gesellschaft in Richtung auf eine bessere Nachhaltigkeit aus.

Die durch die vergangenen Erfolge gut gestützte Gewohnheit, gesellschaftliche Schwierigkeiten durch technische Neuerungen auflösen zu wollen, also im Wesentlichen neue Freiräume zu schaffen (Going West!) und nicht auf Schlichtung von Konflikten zu drängen, ist eine der Gründe, warum die Technik immer weniger, wie ursprünglich konzipiert, dem Menschen und der Befriedigung seiner Grundbedürfnisse dient.

Statt dessen wird eine Entwicklung neuer Lebensformen des Menschen gefordert, die nun umgekehrt den Menschen auf diese, von einer kleinen Minderheit entwickelten und mit der Mehrheit gar nicht abgestimmten und unterstützten Technik ausrichten und anpassen soll. Die großen Opfer an einer wirklich gelebten Humanität, wie sie angeblich den homo sapiens sapiens auszeichnen soll, werden dabei von einer triumphierenden Minderheit, die einfach den primitiven wissenschaftlich-technischen-wirtschaftlichen Fundamentalismus als geschichtlich unausweichliche Heilslehre für alle verkündet, der großen Mehrheit - im Sinne etwa des Gorbatschowschen Auspruchs: Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben! - mitleidlos aufgebürdet.

Zahnlose Staatsmacht Der Staat, der zweifellos den Verfassungsauftrag hat, die Rahmenbedingungen der gesellschaftlichen Entwicklung im Lande vorzugeben, kann meines Erachtens nicht nur de facto sondern auch grundsätzlich diese Aufgabe unter den heutigen Bedingungen nicht mehr leisten. Durch die globale Einbindung fehlt ihm dazu vielfach die notwendige Kompetenz und Souveränität.

Durch die Vielzahl und Komplexität der Sachverhalte und die wachsende Geschwindigkeit der Veränderungen sind die verantwortlichen Politiker auf den fachmännischen Rat von Wissenschaft, Industrie, Wirtschaft und mächtiger Interessengruppen wesentlich angewiesen, die sich als Suffleusen, im Hintergrund und für die Öffentlichkeit unbemerkt, auf diese Weise unentbehrlich gemacht haben. Versuche, die Wissenschaft, Industrie und Wirtschaft direkt auf die Bewältigung der drängenden Probleme einzuschwören, scheitert mit dem Hinweis auf die Richtlinienkompetenz der Politik. So wandert der ,schwarze Peter' von einem zum anderen und keiner fühlt sich für die Untätigkeit wirklich verantwortlich.

Eine "vierte Gewalt" Verständlich ist deshalb, dass von mancher Seite die Notwendigkeit einer "vierten Gewalt", in Form etwa einer "Konsultative" (neben der Exekutive, Legislative und Judikative), gefordert wird, deren Aufgabe es wäre, sich vornehmlich der Zukunftsfragen anzunehmen. Doch kommt hierbei sofort die Frage auf, wer nun eigentlich so eine "Konsultative" repräsentieren soll. Denn es ist doch eher unwahrscheinlich, dass durch ein wie auch immer intelligent ausgeklügeltes Ausleseverfahren die Weisheit im Lande verlässlich in geeigneten Persönlichkeiten verankert werden könnte.

Andererseits ist es für jeden offensichtlich, der sich aktiv an den vielfältigen und mit großem Engagement betriebenen, öffentlichen gesellschaftspolitischen Diskussionen beteiligt: Die Gesellschaft verfügt über ein großes Potential an profunden Einsichten und erprobtem Sachverstand, an konstruktiven Zukunftsvorstellungen und praktischen Umsetzungsvorschlägen, sowie an persönlichem Verantwortungsbewusstsein und ethischer Standfestigkeit. All dies ist in einem Maße vorhanden, das weit über das im politischen Raum erkennbare Niveau hinausgeht.

Die Aufgabe müsste deshalb darin bestehen, das in der Gesellschaft verborgene intellektuelle, geistige und sittliche Potential für die Gesellschaft geeignet zu mobilisieren.

Letzten Endes heißt dies wohl: Die sich in unzähligen Initiativen formierende Zivilgesellschaft als ernst zu nehmende dritte globale Kraft neben Staat und Wirtschaft voll zu etablieren und als konstruktives, lebendiges, kreatives, kritisches Element in die Gestaltung der zukünftigen Weltgesellschaft einzubinden.

Grundvoraussetzung der Zivilgesellschaft ist nicht primär die demokratische Legitimierung von Hierarchien, die das Staatswesen ordnen sollen, sondern die Partizipation aller an der Gestaltung des für sie relevanten Lebensbereichs. Der jeweilige Einfluss des Einzelnen ist hierbei nicht ganz demokratisch austariert, sondern durch den Grad der Partizipation gewichtet, was nicht ganz unproblematisch ist.

Die Zivilgesellschaft beschreibt eine solidarische Gesellschaft intellektuell und emotional befähigter, ethisch und moralisch kompetenter, emanzipierter und engagierter Individuen. Sie orientiert sich in ihrer Organisation in gewisser Weise an der biologischen Evolution, bei der die Teilnahme unterschiedlichster Fähigkeiten an einem gemeinsamen Plussummen-Spiel die besten Voraussetzungen für höhere Flexibilität und damit eine Weiter- und Höherentwicklung des ganzen Systems ermöglicht. Sie strebt nicht die straff ausgerichtete, machtvolle Einfalt an, sondern die chaotisch-evolvierende, differenzierte Vielfalt.

Die Ausbildung eines funktionierenden Gemeinwesens und seine dynamische Stabilisierung benötigt unter solchen Umständen eine geeignete Steuerung. Wichtig ist dabei vor allem eine ausreichende Flexibilität und Reaktionsfähigkeit seiner Glieder. Dies kann nur bei einer weitgehenden Dezentralisierung der Gesamtstruktur erreicht werden.

Denn Flexibilität verlangt notwendig eine umfassende und unabhängige konstruktive Partizipation seiner Menschen, was nur in relativ kleinen Strukturen (Small is beautiful!) funktioniert, da sie intensive, wechselseitige Dialoge voraussetzt. Mit der modernen Informationstechnologien braucht dies vielleicht nicht notwendig kleinräumigen, regionalen Strukturen zu entsprechen, sondern könnte sich auch in der Ausbildung einer globalen Vernetzung von Gleichgesinnten widerspiegeln.

Die Kleinheit schafft die Voraussetzung, dass Informationsaustausch nicht inhalts- und bedeutungsleer bleibt, sondern zu echter Kommunikation führt, also ein Informationsaustausch, der Betroffenheit erzeugt, zu Verständnis und Wissen führt und in der Folge Verantwortungsbereitschaft bei den Teilnehmern generiert. Die Beziehung zwischen den Menschen darf sich nicht nur in wechselseitiger Toleranz erschöpfen, wo man die Andersartigkeit des anderen "erträgt", sondern verlangt wechselseitigen Respekt vor anderen Sicht- und Lebensweisen, die als Bereicherung der eigenen Erfahrung im Sinne eines "das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile" empfunden wird.

Die großen Konferenzen der Vereinten Nationen in Rio de Janeiro (Umwelt und Entwicklung), Kopenhagen (Soziale Probleme), Kairo (Bevölkerung), Peking (Frauen) und Istanbul (Habitat) haben für die globale Zivilgesellschaft hervorragende Plattformen für erste und weiterführende intensive internationale Kontakte geboten, die auch nach diesen Treffen über die elektronischen globalen Informationsnetze mannigfach verbreitert und vertieft werden konnten. Sie findet heute ihren lebendigen Ausdruck vor allem in den vielfältigen Aktivitäten der kommunalen Agenda 21.

Der Autor ist Professor emeritus am Max-Planck-Institut für Physik in München. Er hält den Eröffnungsvortrag der diesjährigen Pädagogischen Werkttagung, die dem Thema "Heimat in einer globalisierten Welt" (siehe Seite 4) gewidmet ist.

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