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Forschung im politischen Gelände

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Längst fälliges Nachziehverfahren

Zur Frage 1: Die Einrichtung von Lehrkanzeln für Politische Wissenschaft ist ein längst fälliges Nachziehverfahren, das Österreich auf einem weiteren notleidenden Gebiet den Anschluß an die internationale Entwicklung sichern helfen würde, von der man sich auf die Dauer nicht ausschließen kann, ohne den Vorwurf der Provinzialität auf sich zu laden. Es gibt keinen vernünftigen Grund, warum für Österreich in dieser wie in mancher anderer Beziehung vom Forschungs- und Ausbildungsstand der meisten Länder abweichende Sachnotwendigkeiten gelten sollten. Die Etablierung

der Politischen Wissenschaft als selbständige Disziplin wäre eine Entlastung überforderter akademischer Nachbardisziplinen.

Zur Frage 2: Österreich ist einer Politischen Wissenschaft, die die relevanten Lebensbereiche dieses Landes durchdringt und nüchtern analysiert, sogar in höherem Maße bedürftig als andere Länder. Der Mangel einer politikwissenschaftlichen Fachkonzentration ist dafür verantwortlich, daß kaum geeignete wissenschaftliche Grundlagen über die politisch ins Gewicht fallenden Faktoren unseres Staates und unserer Gesellschaft jenseits der rein juristischen Betrachtung existieren. Sowohl der empirische als auch der ideengeschichtliche Zweig der politikwissenschaftlichen Forschung sind noch schwach entwickelt, die meisten umfassenderen Untersuchungen und Deutungen über österreichische Probleme sind an ausländischen, besonders amerikanischen Universitäten zustande gekommen. Eine so stiefmütterliche Behandlung zum Verständnis der politischen Probleme dieses Landes wichtiger Materien aber ist ein Luxus, den sich gerade Österreich nicht leisten darf. Ohne sich der Illusion hingeben zu wollen, daß sich Politik wissenschaftlich betreiben lassen kann und Handeln in Einsicht auflösbar ist, kann man bei Betrachtung der österreichischen politischen Szene doch sehr wohl der Meinung sein, daß diese eine wissenschaftliche Erhellung nötig hat. In einem Land, in dem die Demokratie an einem Mangel an Alternativen und Elastizität leidet, muß die Wissenschaft das ihre tun, um aus diesem Engpaß herauszuhelfen. Österreich, das nach den Worten Günther Nennings Traditionen besitzt, aber keine Tradition, muß alle Möglichkeiten ausschöpfen, um die Erarbeitung eines Konsensus zu

fördern. Eine solche Förderung besteht konkret in der wissenschaftlichen Erfassung der politischen Phänomene und in der Aufzeigung ihrer vielfachen Bedingtheit.

Norbert Leser, Dr. iur., Assistent für Politische Wissenschaft am Institut für Höhere Studien und Wissenschaftliche Forschung, Wien

Chance für Österreich

Zur Frage 1: Und ob! Seit je ist die Politik als rechtliches Ordnen und Steuerung des menschlichen Zusammenlebens das wirksamste Mittel zur Sicherung des Bestandes, der Entfaltung und der Heilung des Menschengeschlechts. Die Politik und die Wissenschaft von ihr sind das große Apriori von heute: Nur wenn das menschliche Zusammenleben menschenwürdig geordnet und gesteuert wird, ist Fortschritt in Zivilisation, Kultur, Wissenschaft und im Handeln gewährleistet; ansonsten ist das Ende des Menschengeschlechts sicher, damit das Ende der Zivilisation, Kultur, Wissenschaft und jeglichen Handelns. Schon ist es ein Gemeinplatz, daß der Krieg kein Mittel mehr ist, die Sorgen der Völkerfamilie angemessen zu meistem. Wenn aber Gewalt nicht mehr das rechte Mittel ist, so bieten sich einzig Rechtsnormen und hinter ihnen Moral und Ethik als Alternative an. Dieses Gelände zu erforschen, ist Sache der Politischen Wissenschaft.

Zur Frage 2: Und ob! Ich halte es für ein Unglück, daß sich in der Bundesrepublik Deutschland und anderswo die Historiker und Philosophen der Politischen Wissenschaft bemächtigt haben. Erstens sind ihre Aspekte, wie die Methode ihrer Wissenschaft es erfordert, partikulär-einseitig, beschränkt, unzulänglich; zweitens wenden sie sich — die zukünftigen Lehrer ausgenommen — an einen Kreis, der kaum ansprechbar ist, während sie jenen Kreis, auf den es bei der Gestaltung der Politik hauptsächlich ankommt,

überhaupt nicht erreichen — nämlich die Juristen, die Staat, Gesellschaft und Wirtschaft tragen und prägen. Die Jurisprudenz ist erwiesenermaßen mit der Politischen Wissenschaft nicht nur die erste Form reflektierenden Denkens, sondern allemal die am meisten universelle. Infolgedessen hat Österreich die Chance, mit Originalität der Politischen Wissenschaft eine neue, bessere Wendung zu geben. Die Lehrstühle dafür sollten in erster Linie an den Rechts- und Staatswissenschaftlichen, in zweiter Linie an der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen, in dritter Linie an den Philosophischen Fakultäten errichtet werden.

Die Politische Wissenschaft steht in der Mitte zwischen der Soziologie, die in Uferlosigkeit sich verliert und von Natur diffus ist, und der Jurisprudenz, der unerbittliche Strenge und vollkommene Undurchlässigkeit eignen.

Renė M ar cic, Dr. iur., o. ö. Universitätsprofessor, Vorstand des Instituts für Rechts- und Staatsphilosophie und Politische Wissenschaft an der Universität Salzburg, derzeit Dekan der Philosophischen Fakultät, Universitätsdozent für Allgemeine Staatslehre und Österreichisches Verfassungsrecht an der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Innsbruck.

Kein Zufall

Ich halte es für wichtig, daß Sie die Frage nach der Notwendigkeit wissenschaftlicher Befassung mit politischen Haltungen, Organisationen und Taktiken in Österreich aufwerfen. Es ist kein Zufall, daß wir eine solche Forschung nicht besitzen. Will man in einem Land, das 1933 Einrichtungen demokratischer Selbstregelung aufgab und 1938 seine politisch staatliche Identität verlor, um sie unter dem Dach der

Besatzung 1945 wieder aufzubauen, gründliche und unerschrockene Forschung treiben, wird man auf eine Vielzahl und Vielfalt von verdrängten und tief verletzten Gefühlen stoßen müssen, die natürlich auch politisch wirksam geworden sind. Sie zu beschreiben und zu erklären heißt nach fast allen Seiten hin Unannehmlichkeiten machen, Wunden aufreißen, Undank ernten und als Forscher in seiner Redlichkeit bestritten werden.

Das kann sich jedoch nur der leisten, der durch ein klares wissenschaftstheoretisches Konzept und eine feste Kenntnis empirischer, das heißt die Validität und Reliabilität ihrer Ergebnisse nachweisender Methoden vor sich selber und vor seinen Kritikern einen festen Stand

hat. Haben wir in Österreich Politologen, die diese Voraussetzungen erfüllen? Können wir, von den bestehenden Einrichtungen aus, Menschen zu solchen Qualifikationen heranbilden? Die Forschung über politische Themen müßte zumindest die folgenden Voraussetzungen erfüllen:

1. Sie sollte eine politische Systemanalyse sein, das heißt von erkannten Zusammenhängen zum Beispiel zwischen der Struktur der Wählerschaft und ihren Haltungen einerseits und den Formen der Organisation, Rekrutierung und Werbung der Parteien anderseits ausgehen. Dabei müssen theoretische Ideen die Forschungshypothesen leiten.

2. Die Politische Wissenschaft muß auf empirische Methoden der Erfassung politischer Haltungen und Organisationsformen unter Berücksichtigung der diese Haltungen bestimmenden Werte, Normen und Symbole gegründet sein. Dies bedeutet die Analyse von Verhaltensmerkmalen und Entscheidungsprozessen mit Hilfe mathematischformaler Verfahren (zum Beispiel der Spieltheorie bei Verhandlungsund Strategieanalysen) und unter •Einsatz statistischer Techniken bei Erhebungen, Befragungen, Panel- Untersuchungen usw. Inhaltsanalysen der Massenkommunikationsmittel, Tiefeninterviews vor Schlüsselpersonen, Experimente mil kleinen Gruppen aus verschiedenen sozialen Milieus zum Beispiel über die Internalisierung von Spielregeln gehören zu den benötigten Forschungseinrichtungen.

3. Die Politische Wissenschaft muß für ihre erklärend-theoretische Arbeit auf der Basis der Empirie natürlich auch historisch vorgehen, damit das Zustandekommen bestimmter Haltungen sozialer Gruppen und Mengen verständlich wird. Politische Ideengeschichte oder Ideologiekritik sind in Verbindung mit der Politischen Wissenschaft notwendig.

Leopold Rosenmayr, Dr. phil., o. ö. Universitätsprofessor, Vorstand des Instituts für Soziologie und Leiter der Sozialwissenschaftlichen Forschungsstelle der Universität Wien

soviel wie möglich zu tun, damit das geistige Existenzminimum im Volke erhalten bleibe, ohne das eine Demokratie nicht lebensfähig ist.

Franz-Martin Schmölz OP., Dr. phil., o. ö. Univ.-Prof., Ordinarius für Katholische Soziallehre an der Katholisch-theologischen Fakultät der Universität Salzburg

Ernstes Gebot

Wissen über das Politische ist stets sozial- und zukunftsbezogen. Besonders in einer komplexen, pluralistischen und verpolitisierten Welt erhält jenes Wissen neue Bedeutung. Das vielverzweigte politische Handeln und die vielfachen politischen Entscheidungen verlangen sowohl Kunst wie Können, Integrität wie Vernunft.

Österreich stellt ein Gemeinwesen im Modernisierungsprozeß dar. Die angewandte Politische Wissenschaft verbürgt, daß eine Gestaltung der Zukunft ohne lebensgefährliche Erschütterungen ermöglicht wird. Es ist daher die massive Einführung der Politischen Wissenschaft in die Lehrpläne aller österreichischen Bildungsstätten ein ernstes Gebot der Stunde. Für die Universitäten sind allerdings nicht Lehrkanzeln, sondern interdisziplinäre Abteilungen zu befürworten. Politische Wissenschaft kann allzu leicht zum Werkzeug des „establishment“ degradiert werden und somit die wichtige Funktion des kritischen Spie-

Wirksamstes Mittel

Wir sind durch die Ereignisse der praktischen Politik zu der Erkenntnis gelangt, daß Demokratie an bestimmte Voraussetzungen gebunden ist. Die wichtigste dieser Voraussetzungen scheint die Bildung des Volkes, genauer gesagt: die politische Bildung des Volkes zu sein. Um dem einzelnen aber die Möglichkeit zu verschaffen, diese Bildung an sich zu vollziehen, fehlt in Österreich, wie es auch in meinem Beitrag zur Schrift „Die Bedeutung der

Bildung in der industriellen Gesellschaft der Gegenwart“ des „Instituts für Sozialpolitik und Sozialreform“ ausgeführt ist, fast alles. Ein Blick in die übrige westliche Welt belehrt uns, daß Österreich das einzige Land ist, das sich zwar für die demokratische Regierungsform entschieden hat, das aber die dazugehörige Politische Wissenschaft nicht miteingeführt hat.

Ideologien jeder Art, seien es sozialistisch, seien es „naturrecht- lich“ orientierte, tragen zur Lösung

der Probleme der Politik nichts bei. Ihr möglichst rascher Abbau ist eine Existenznotwendigkeit für die Demokratie. An Stelle der ideologischen Argumentation muß das sachbezogene Denken treten. Wirksamstes Mittel im Kampf gegen den ideologischen Zersetzungsprozeß ist die Institutionalisierung der Politischen Wissenschaft auf der gesamten Breite des Bildungswesens. Solange staatlicherseits diesem Kardinalproblem zuwenig Aufmerksamkeit geschenkt wird, solange der einmal angelaufene Bildungsprozeß noch nicht die breitesten Schichten des Volkes erreicht hat (das ist ein Generationenproblem), sind private Institutionen, Gruppen, Vereinigungen, Einzelmenschen verpflichtet, den Staat an seine Aufgabe zu mahnen und selbst in der Zwischenzeit

gels der jeweiligen politischen Realität nicht erfüllen. Insofern ist die Institutionalisierung der Politischen Wissenschaft nicht nur für die kritischen Gesellschaftswissenschaften befruchtend, sondern ein markanter Baustein für die Festigung der österreichischen Nation, welche uns allen aufgetragen ist.

Ernst Florian Winter, PhD, Direktor der Diplomatischen Akademie in Wien, ehern. Professor für Politische Wissenschaft an der Columbia-Universität, New York

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