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Für eine Fxpansion des Bildungswesens

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Picht geht von der am 14. März 1963 von den Kultusministern der elf Bundesländer vorgelegten „Bedarfsfeststellung 1961 bis 1970“ aus und weist (in Einzelheiten bezweifelt, im Ganzen überzeugend) nach, daß eine alarmierende Diskrepanz zwischen den gewaltig expandierenden Bildungsanforderungen und den für deren Bewältigung vorgesehenen öffentlichen Maßnahmen besteht. Er vergleicht mit anderen Ländern und stellt fest, „daß der durchschnittliche Bildungsstand und die durchschnittliche Bildungsqualifikation der großen Mehrheit der Bevölkerung (Westdeutschlands) für lange Zeit unter dem Durchschnitt jener Länder liegen werden, mit denen wir wirtschaftlich und politisch konkurrieren müssen“. Er geht von der Zahl der Abiturienten aus, die „das geistige Potential eines - Volkes“ bestimmen; denn „von dem geistigen Potential sind in der modernen Welt die Konkurrenzfähigkeit der Wirtschaft, die Höhe des Sozialproduktes und die politische Stellung abhängig. Die Gewichtsverhältnisse in Europa werden für den Rest des 20. Jahrhunderts dadurch bestimmt sein, daß Frankreich trotz kleinerer Bevölkerungszahl während einer noch nicht absehbaren Reihe von Jahren fast dreimal soviel Abiturienten ausbilden wird wie die Bundesrepublik; dabei kann niemand behaupten, das Niveau der französischen Schulen sei niedriger als das der deutschen.“

Unsere gegenwärtigen Bildungsbemühungen sind durch objektive, in unserer gesellschaftlichen Situation liegende und durch soziale Motive bestimmt. Es sind nicht nur „Weltgeltung und wissenschaftliche Leistung heute fast identisch geworden“, wie Dr. Mikat, der Kultusminister des Landes Nordrhein-Westfalen und Vorsitzender des deutschen kulturpolitischen Ausschusses sagte; unsere Gesellschaft braucht, um die ihr gestellten Aufgaben zu bewältigen, eine den jeweils anderen Fähigkeiten des einzelnen gemäße, aber sie voll entfaltende Expansion des Bildungswesens. Demgegenüber besitzt Westdeutschland ein Bildungswesen, wie Helmuth Becker es schon 1957 ausgesprochen hat, „das ebenso wie das französische eine Antwort auf die geistige und gesellschaftliche Situation vor hundert Jahren darstellt“. Becker referiert in seinem Buch „Bildung zwischen Plan und Freiheit“ (Deutsche Verlagsanstall Stuttgart) über den Plan Billere (des Erziehungsministers der Regierungen Mollet und Bourges-Mau-noury), der folgende allgemeine Grundsätze enthält:

„ ,Die Nation garantiert den gleichen Zugang des Kindes und des Erwachsenen zum Unterricht, zui Berufsausbildung und zur Allgemeinbildung' (culture)... Zu der Gedanken der Ausdehnung des Bildungswesens und dem Gedanker der sozialen Startgerechtigkeit triti als dritter Ausgangspunkt die Forderung, das Bildungswesen müsse der Vielfalt der geistigen Begabungen gerecht werden... An Stelle dei Auswahl einer kleinen Elite so! eine allgemeine Förderung treten die jedem die seiner Begabung entsprechenden Wirkungsmöglichkeiter eronnet. Ais vierter urunageaanKe tritt die Forderung hinzu: Das Bildungswesen soll in Inhalt und Methoden der strukturellen Differenziertheit der modernen Arbeitswelt gerecht werden. Von hier aus ergeben sich für die Stoffzusammenstellung, die Didaktik und Schul-und Bildungsorganisätion vielfältige neue Perspektiven“ (11 f.).

Leistungsgruppen statt Klassenstruktur

Was die soziale Seite des Problems betrifft, so zitiert Picht den deutschen Bundeskanzlers Erhard, der in seiner Regierungserklärung gesagt hat: „Es muß dem deutschen Volk bewußt sein, daß die Aufgaben der Bildung und Forschung für unser Geschlecht den gleichen Rang besitzen wie die soziale Frage des 19. Jahrhunderts“ (96). Picht spricht von einem die wissenschaftlichtechnische Zivilisation wesentlich mitbestimmenden neuen Prinzip der klassenähnlichen Schichtung: „Durch das Schulsystem werden schon die zehnjährigen Kinder — und zwar in der Regel — in Leistungsgruppen eingewiesen, die durch das Berechtigungswesen einer entsprechenden Gruppierung der sozialen Positionen zugeordnet sind. Die so geschaffene Klassifizierung durch Bildungsqualifikationen überlagert mehr und mehr die noch fortbestehende Klassenstruktur der bisherigen industriellen Gesellschaft. Die Interferenz zwischen diesen beiden Schichtungsprinzipien ergibt dann jene gesellschaftliche Wirklichkeit, mit der es die Sozialpolitik heute zu tun hat. Die Schule ist deshalb ein sozialpolitischer Direktionsmechanismus, der soziale Struktur stärker bestimmt als die gesamte soziale Gesetzgebung der letzten fünfzehn Jahre“ (231 f.). Der Verfasser verweist in diesem Zusammenhang auf das erstaunlich starke Bildungsgefälle in der deutschen Bundesrepublik hin, deren Schulwesen durch die Kulturautonomie der Länder föderativ ist, und sagt: „Die Entscheidungen der Unterrichtsverwaltungen beziehungsweise der Landtage verfügen darüber, wie groß die Sozialchancen der Bevölkerung eines Bundeslandes sind“ (33) Besonders das ländliche Schulwesen sei zu modernisieren; sonst „kanr unsere Landwirtschaft im Rahmer der EWG nicht konkurrenzfähig werden“ (35).

Auch für Österreich ist wichtig was Picht in bezug auf die Planung sagt. Er hebt vier Arbeitsgänge hervor, „die man nicht durcheinanderwerfen darf: Planung, Gesetzgebung, ausführende Verwaltung und Finanzierung“ (46). Er betont daß Planung nur im gesamtstaatlichen Rahmen möglich sei (47) und findet, nicht nur an dieser Stelle Worte herber Kritik an den Ländern: „Es herrschte nämlich vor Anfang an die absurde Doktrin Föderalismus sei nichts anderes ali ein kollektiver Kampf der Ländei gegen den Bund“ (48). „Es ist abei die Gesellschaft des 20. Jahrhunderts, der man zumutet, an den bornierten Partikularismuö einei kleinen Gruppe von Neofeudalister zugrunde zu gehen“ (48). Picht erwartet sich viel von dem soeber gegründeten Max-Planck-Institu für Bildungsforschung und hofft daß es „über die wissenschaftlich! Ausstattung verfügt, ohne derer Hilfe heute keine Behörde arbeitet kann“ (60). Und vom Politiker sag er: „Ein Politiker, der Verstand hat weiß, daß er ohne die Wissenschaf nicht mehr auskommen kann“ (61).

Staatliche Bildungsplanung

Die Bildungsforschung bedürfi jedoch der Ergänzung durch einei vom Gesamtstaat zu aktivierendei Planungsapparat, an dem die Ex ponenten aller gesellschaftliche Institutionen mitwirken müßten „Die Kulturverwaltungen verfügei nämlich weder über den Sachver stand noch über die Informationen die für eine Bildungsplanung erforderlich sind. Zu den eigentümlich« Vorurteilen, an denen t die deutsch Kulturpolitik so reich ist, gehör auch die Meinung, der pädagogische Sachverstand reiche aus, um jene Grundprobleme der modernen Gesellschaft zu lösen, über die durch den Aufbau des Bildungswesens entschieden wird“ (58). „Die staatliche Bildungsplanung muß sich der

Hilfe der Wissenschaft in weitestem Umfang bedienen, aber einen unentbehrlichen Bestandteil jener Informationen, auf die sich ihre Planung stützen muß, kann sie nur von Zentralinstanzen der staatlichen Exekutive erhalten“ (61). Jedes einzelne Bundesministerium muß zu einer Planungsarbeit veranlaßt werden, „die bisher in sämtlichen Ressorts auf unbegreifliche Weise vernachlässigt worden ist“ (62).

Was die gewaltige Finanzierung angeht, die zur Realisierung eines Bildungsplanes erforderlich ist, so hebt Picht den Beitrag des bayrischen Abgeordneten Dr. Franz Joseph Strauß an der Parlamentsdebatte hervor, die sich mit der von

Picht aufgeworfenen Problematik beschäftigt hat und im Dokumentationsteil wiedergegeben wird, in der Strauß sagt: „Ich glaube..., daß eine langfristige Finanzplanung des Bundes gemeinsam mit den Ländern notwendig ist, eine Finanzplanung nicht nur auf kulturpolitischem Gebiet, eine Finanzplanung unter Einbeziehung all der heute genannten Schwerpunkte und damit auch eine Aufstellung klarer Prioritäten ...“, und er schließt seine Ausführungen mit den erwägenswerten Worten: „Wir müssen endlich einmal nicht nur den Mut haben, es auszusprechen, sondern uns auch in der politischen Praxis dazu bekennen, d£.ß der Konsumverzicht von heute das notwendige Opfer für die Erreichung der Ziele von morgen ist“ (169).

Es drängt sich selbstverständlich der Einwand gegen die Verplanung unseres Bildungswesens auf, die aus dem Bewußtsein unserer westlichen gesellschaftlichen Freiheitsordnung aufsteigt. Helmuth Becker hält diesem Einwand jedoch ein starkes Argument entgegen: „In der modernen Gesellschaft bedeutet das Fehlen eines Planes oft nicht etwa Freiheit, ja nicht einmal Anarchie, sondern die Diktatur des Anonymen und daher der Verantwortungslosen“ (a. a. O., 9).

Nur durch Planung gelangt man zu einer gerecht struktuierten Steuerung der Bildungschancen, zur Ausschöpfung der vorhandenen Begabungsreserven, zur Ausbildung der in den verschiedenen Berufszweigen nötigen Arbeitskräfte.

Wenn es Österreich gelingt, eine universelle, wissenschaftlich unterbaute, staatlich organisierte Bildungsplanung in Gang zu setzen, welche die Bildungsinstiutionen richtig zu planen, einzurichten und zu entwickeln lehrt, und wenn die Aufgabe einer Eltern und Jugend „orientierenden Beratung“ mit der Planungskommission in geeigneter Weise koordiniert wird, wird Plan und Methode dessen realisiert werden, was unser Schulgesetz begründet hat, zugleich aber die bildungsmäßige und berufliche Wahlfreiheit unserer Bürger — durch das differenziertere Angebot der Bildungsmöglichkeiten — vermehrt und erhöht, nicht beschränkt sein.

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