6769209-1968_47_06.jpg
Digital In Arbeit

Ordnungsruf an Parteiendemokratie? I Von Dr. F. Ritschl

Werbung
Werbung
Werbung

Ein Jahr lang beherrschte die Jugend fast das europäische Gesichtsfeld. Dabei bestritt vor allem die akademische Jugend die Szene. Dies darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß nicht die Studentenschaft allein in einen Gärungsprozeß geraten ist. Was vielmehr hier aufbrach, ist eine existentielle Unruhe, die, quer durch die soziologische, soziale und politische Schichtung, die gesamte Jugend erfaßt hat.

Worüber aber sollte eine Jugend gar so enttäuscht und unzufrieden sein, die im Zeitalter der Vollbeschäftigung bei einigem guten Willen nahezu keine Schwierigkeiten bei der Berufswahl findet, die über mehr Möglichkeiten zur Körperertüchtigung und Erholung verfügt als je eine Generation zuvor und der praktisch heute die ganze Welt offensteht?

Aber: Wer die Tendenzen unter der Jugend verfolgt, wird überrascht feststellen, daß der Wohlstand gar nicht das zentrale Anliegen der Nachwuchsgeneration bildet. Das erscheint den Älteren paradox: Sie, die die entbehrungsreiche Kriegsund Nachkriegszeit mitgemacht haben, erblicken in der gesteigerten und anteilsgerechten Verteilung materieller, insbesondere technischer Güter, eben im wachsenden Wohlstand, den eigentlichen Fortschritt. Die Jugend akzeptiert den Wohlstand nur bedingt und schätzt ihn zumindest weniger hoch ein. Für sie ist er zur Selbstverständlichkeit geworden. Losgelöst von einer solcherart eingeengten Perspektive wendet sich die Jugend vor allen den prinzipiellen Fragen der Gesellschaft und Politik zu. Notwendigerweise geraten hiebei die Schwächen, Inkonsequenzen und Unaufrichtigkeiten der im Westen geübten Demokratie ins Zielfeld. In weiterer Folge richtet sich ihr Unmut gegen die Repräsentanz der heutigen Gesellschaft in der Politik, im institutionellen Bereich, und schließlich gegen die geltende Gesellschaftsordnung überhaupt. Die Jugend — soweit es sich nicht um jene Minorität handelt, die sich zum Vollzugsorgan ferngesteuerter Aufträge hergibt — lehnt die Diktatur ab. Aber sie ist auch gegen die Formaldemokratie, deren einziger Vorzug der Meinungspluralismus ist. Sie besteht auf einer lebendigen Demokratie, die aktuelle Gesellschaftsprobleme effektiv löst. Dazu gehören nicht nur Wirtschafts- und Finanzfragen, nicht nur die Steigerung des Nationaleinkommens und die Verteilung des Sozialproduktes. Auch die Gesellschaft selbst ändert sich ja unter dem Einfluß der Umweltsveränderungen ständig. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit eines fortschreitenden Anpassungsprozesses des funktionellen Organgerüstes der Gesellschaft, der in einer kontinuierlichen Umformung der sozialen, bildungsmäßigen und kulturellen Grundlagen und im Ausbau der Grundrechte der menschlichen Person zwecks Abschirmung des Individuums vor der wachsenden Macht des anonymen Apparates besteht.

Andere Probleme führen vielleicht nicht zu offenen Revolten, aber sie verbreiten ein Klima des Unbehagens und Mißtrauens unter der Masse, das sie für politische Irrwege jeder Art, auch des Totalitarismus, aufnahmebereit macht. Die Strafrechtsreform; die Erneuerung der Grundlagen des Spitalswesens; eine zeitgemäße, den Bedürfnissen der Patienten und einer rationellen Betriebsführung entsprechende Form der Krankenversicherung; das Problem der Sozialberufe; die Unterbringung und Betreuung pflegebedürftiger alter Menschen.

Gute Gesetze brauchen zu ihrer Ausarbeitung eine angemessene Frist. Das versteht der Staatsbürger. Nicht versteht er hingegen, daß bei einer solchen Fülle ungelöster Aufgaben die Interessen der Bevölkerung oft so wenig sächlich, sondern eher nach Gesichtspunkten des Prestiges, des Ausbaues von Machtpositionen (Proporz!) und der Stimmenwerbung behandelt werden. Selbst meritorisch einfache Angelegenheiten, die mit Vernunft und gutem Willen rasch zu bereinigen sein müßten, werden künstlich hochgespielt und jahrelang als Treibstoff für die Parteimaschinerie verwendet. Die Jugend hat die Schwächen dieser Demokratie klar erkannt und reagiert scharf darauf. Ihre Revolte stellt somit einen drastischen Ordnungsruf an die Parteien dar, sich auf ihre Aufgaben zu besinnen.

Der zweite Gedanke, der dem Verhalten der Jugend ganz deutlich abzulesen ist, besagt, daß der Wohlstand, bloß ein Mittel zum Ausleben, abgelehnt wird. Die demonstrative Bedürfnislosigkeit der Gammler und verwandter Gruppen, ihr Verzicht auf die von der heutigen Gesellschaft angebeteten Güter, seien es der technische Komfort, die Mode oder die verfeinerte Wohnkultur, und der primitive Versuch des Aufbaues einer eigenen Gesellschaft auf den einfachsten Prinzipien einer natürlichen Humanität macht die Absicht deutlich, im Gemeinschaftserlebnis den Sinn des Lebens zu erfahren.

Wo hingegen der Jugend Gelegenheit geboten wird, ihren Leistungswillen zu beweisen, tut sie es mit Begeisterung: etwa bei der Bergung von Kunstschätzen aus einer brennenden Kirche in Antwerpen, welche Gammler spontan und unter Lebensgefahr durchführten. Oder beim Hochwassereinsatz der Soldaten, um zwei Beispiele zu nennen. So lassen sich in vielen, nicht allen Verhaltensweisen der Jugend Hinweise dafür feststellen, daß im Vordergrund der Impuls steht, dem Leben Sinn und Inhalt zu geben. Die Jugend fühlt sich hinreichend gereift — und ist es ja auch —, den ihr zufallenden Anteil an der Gestaltung des Lebens auf sich zu nehmen und zu verantworten.

Insgesamt ergibt sich also, daß eine nachdrängende Jugend impulsiv nach sinnvoller demokratischer Mitarbeit und Selbstverantwortung strebt. Es tritt hier an die verantwortlichen Politiker aller Parteien und an die Volksvertretung die ernste Frage heran, in welcher Form die absolut legitimen und positiven Ansprüche der Jugend zu befriedigen sind.

Es gibt eine Reihe ungelöster, insbesondere sozialer Aufgaben, die vielleicht überhaupt nur mit der Energie und dem Idealismus der Jugend zu lösen sind. Diese Aufgaben zu konkretisieren und der Jugend als Betätigungsfeld zu erschließen, ist vielleicht das Kernproblem überhaupt. Die Jugend verlangt nach vernünftigen Zielsetzungen. Worauf es ankommt, ist jedoch, daß nicht ein simpler paramilitärischer Apparat aufgezogen wird, in den die jungen Menschen hineingesteckt werden, ohne Rücksicht auf Eignung und Neigung. Auch soll die soziale Dienstleistung die Berufsausbildung nicht wesentlich unterbrechen oder beeinträchtigen. Die Jugend selbst sollte durch geeignete Repräsentanten an der Ausarbeitung eines solchen Konzeptes mitarbeiten und die Leitung der Organisation, weitgehend unbeeinflußt, im Rahmen gesetzlicher Bestimmungen ausüben. Hier scheint die jüngste Grazer Rede des Bundeskanzlers ein vielversprechender Anfang zu sein. Denn die Parteien als zuständige Träger der politischen Wil- lensbildung haben sich mit derlei Gedanken noch kaum beschäftigt. Man verließ sich bisher lieber auf andere Mittel, die Jugend „zur Vernunft” zu bringen. Gefährdung der Jugend bedeutet Gefahr für die Demokratie. Die Demokratie aber wird nur dann, wenn sie sich den Zeitproblemen gewachsen erweist, auch die Jugend für sich gewinnen.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung