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„Revolutionär“ ist nur noch ein Schlagwort

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Das Wort „Revolution“ spielt im russischen Wortschatz eine große Rolle. Es bedeutet allerdings nicht, daß man die verschiedenen Probleme der sowjetischen Gesellschaft — mögen sie innen- oder außenpolitischer Natur sein — mit revolutionären Mitteln lösen soll. „Revolution“ im sowjetischen Sprachgebrauch bezeichnet das historische Faktum der Oktoberrevolution, welche die gründlegenden gesellschaftlichen Probleme „ein für allemal“ gelöst hat. In diesem Sinne wird die sowjetische Jugend erzogen — ihre Aufgabe besteht darin, die Ziele der Revolution materiell zu verwirklichen. Von frühester Kindheit an, also bereits im Kindergarten, werden die Kinder zu Liebe und Verehrung für Lenin, den Vater der russischen Revolution, erzogen. Im Schulalter liegt das Häuptgewicht der ideologischen Erziehung darauf, den Kindern klarzumachen, daß sie am „Bau des Sozialismus“ mitarbeiten sollen. Diese Arbeit soll „im Geiste des Kollektivismus“ durchgeführt werden. Außerdem ist es die „patriotische Pflicht“ des jungen Sowjetbürgers, durch Ableistung des Wehrdienstes zur Verteidigung der sowjetischen Heimat beizutragen.

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Das Wort „Revolution“ spielt im russischen Wortschatz eine große Rolle. Es bedeutet allerdings nicht, daß man die verschiedenen Probleme der sowjetischen Gesellschaft — mögen sie innen- oder außenpolitischer Natur sein — mit revolutionären Mitteln lösen soll. „Revolution“ im sowjetischen Sprachgebrauch bezeichnet das historische Faktum der Oktoberrevolution, welche die gründlegenden gesellschaftlichen Probleme „ein für allemal“ gelöst hat. In diesem Sinne wird die sowjetische Jugend erzogen — ihre Aufgabe besteht darin, die Ziele der Revolution materiell zu verwirklichen. Von frühester Kindheit an, also bereits im Kindergarten, werden die Kinder zu Liebe und Verehrung für Lenin, den Vater der russischen Revolution, erzogen. Im Schulalter liegt das Häuptgewicht der ideologischen Erziehung darauf, den Kindern klarzumachen, daß sie am „Bau des Sozialismus“ mitarbeiten sollen. Diese Arbeit soll „im Geiste des Kollektivismus“ durchgeführt werden. Außerdem ist es die „patriotische Pflicht“ des jungen Sowjetbürgers, durch Ableistung des Wehrdienstes zur Verteidigung der sowjetischen Heimat beizutragen.

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Die ideologische Erziehung der Jugend ist vor allem Aufgabe der Schule, weniger der Jugendorganisationen. Zwar ist die Jugend fast hundertprozentig organisiert — im Alter von acht Jahren werden die Jungen und Mädchen „Pioniere“ und tragen als solche ein rotes Halstuch zur Schuluniform. Mit 14 Jahren beginnt die Komsomolmitgliedschaft, die bis zum Alter von 28 Jahren weiterläuft. Die breite und umfassende Beeinflussung der Jugend vom frühen Kindesalter an hat zur Folge, daß die sowjetischen Jugendlichen in einem Maße apolitisch sind, wie sich das im Westen kaum vorstellen läßt. Für innenpolitische Probleme, wie etwa die Wirtschaftsreform oder die Verstärkung der Konsumgüterproduktion, besteht zwar ein gewisses, wenn auch nicht übermäßiges Interesse, aber Vietnam oder Angela Davis sind für einen jungen Russen etwa von gleicher Bedeutung, wie die Existenz der Marskanäle für einen jungen Mitteleuropäer.

In Diskussionen mit westlichen Ausländern ist dieses Desinteresse an politischen Problemen deshalb nicht so spürbar, weil meist der westliche Gesprächspartner auf dem politischen Thema besteht. Meist versuchen die russischen Jugendlichen anfangs die Diskussion mit ironischen Bemerkungen aufzulösen — gelingt das nicht, so ist ihre politische Bildung auf jeden Fall genug, um jede Diskussion einigermaßen durchzustehen. Während die jungen Russen das sowjetisch-marxistische Vokabular meist ziemlich gut beherrschen und es auf jedes Thema anwenden können — was ihnen in Diskussionen mit politisch weniger gründlich gebildeten Ausländern natürlich zum Vorteil gereicht —, sind sie eindeutig benachteiligt durch ihre ungenügende Informiertheit über viele wesentliche politische Probleme. Wunde Punkte für die Russen sind nach wie vor die Tschechoslowakei 1968, die Pariser Mairevolte und die Politik der westlichen kommunistisehen Parteien in bezug auf diese Ereignisse. Den verschiedenen Aspekten und Zielsetzungen der westlichen Studenten- und Jugendbewegungen stehen sie — ebenfalls wegen mangelnder Information — fast völlig verständnislos gegenüber. Allerdings ist die sowjetische Gesellschaft auch in einem Maße immobil und autoritär durchorganisiert, daß hier für das Entstehen einer vergleichbaren Aktivität in der sowjetischen Jugend keinerlei Raum besteht. Beim Durchblättern sowjetischer primitiver Propagandaformeln und dem völligen Fehlen jedes Ansatzes, dem Schüler irgendeine — wenn schon keine kritische — Denkmethode nahezubringen, wird das klar.

Wer schläft in welchem Bett?

Beobachtet man das Privatleben sowjetischer Studenten in einem Studentenheim, so fällt vor allem die ständige Kontrolle und Reglementierung auf, der die jungen Menschen unterworfen sind. Ohne Ausweis darf kein „Unbefugter“, etwa eine Freundin, das Studentenheim betreten. Um ein Uhr nachts werden alle Eingänge geschlossen. Alkoholische Getränke sind nicht gestattet, Verstöße gegen das „trockene Gesetz“ werden mit Hinauswurf geahndet. Ewaige Besucher haben das Heim bis 12 Uhr nachts zu verlassen. Nicht selten finden Sonntag früh Kontrollen statt, bei denen festgestellt wird, wer in welchem Bett schläft und ob etwa Außenstehende hier unberechtigterweise übernachten. Natürlich lassen sich alle diese Einschränkungen irgendwie umgehen — man kann sich für die Freundin den Ausweis einer Studentin ausleihen, man kann bei verschlossenen Türen eine Flasche Wein trinken und die Tür nur auf ein besonderes Klopfzeichen öffnen, man kann sich mit einem der morgendlichen Kontrolleure anfreunden und so immer erfahren, wann und wo demnächst Kontrollen stattfinden — doch sind alle diese Prozeduren ziemlich erniedrigend und entwürdigend. Die Studenten wohnen zu dritt oder mehr in einem Zimmer, Einzelzimmer gibt es nur für Doktoranden. Man kann sich vorstellen, welche Formen die Intimsphäre sowjetischer Jugendlicher unter diesen Umständen annimmt. Um ein Leben nach eigenem Gutdünken zu führen, muß man entweder reiche Eltern haben, die einem eine Einzimmerwohnung mieten, oder man lebt ständig kriminell. Jugendliche und Studenten, die in ihrer Heimatstadt arbeiten oder studieren, haben kein Recht auf Zuweisung eines eigenen Zimmers, sie müssen bei den Eltern wohnen.

So ist das Privatleben junger Russen in erster Linie ein Problem des freien Zimmers und so verschiedene Erscheinungen wie die große Zahl der Frühehen (und der Scheidungen) oder der weitverbreitete Tourismus der Jugendlichen haben ihre Ursache eben im fehlenden Zimmer.. Westliche Jugendliche sind im Vergleich zu jungen Russen sehr viel unabhängiger von ihren Eltern und in ihrem Privatleben viel freizügiger. Wohl tragen junge Sowjets auch lange Haare und hören Beatmusik, doch darf man solche Äußerlichkeiten nicht dahingehend verallgemeinern, als entwickle sich die westliche und die sowjetische Jugend in derselben Richtung. In Europa und Amerika waren oder sind lange

Haare, exotische Kleidung, Beat und Pop, Haschisch und Demonstrationen Teile der Protestbewegung von Jugendlichen gegen eine Gesellschaftsstruktur, die mehr oder weniger bewußt abgelehnt wird. Die sowjetische Jugend ist bis jetzt weder geistig noch materiell zu einer ähnlichen Haltung imstande.

Eine allgemeine Frustration

Das erstarrte Sowjetsystem, dessen autoritär-stalinistische Grundstruktur sich nur in Randgebieten in etwas humanere Formen aufgelöst hat, enthält so viele miteinander verzahnte und verkoppelte Reproduktionsmechanismen, daß die Möglichkeit gesellschaftspolitischer Mutationen auf ein Minimum eingeschränkt ist. Eine Bewußtseinsbildung über die Natur des Systems und damit eine schöpferische Mitarbeit an seiner Veränderung wird damit bereits im Keim erstickt. Die überwiegende Mehrzahl der jungen Russen verhält sich deshalb passiv gegenüber der Gesellschaft. Die Zahl derjenigen, die über das System reflektieren, ist sehr gering. Bei einem Teil dieser Wenigen artet die Reflexion sehr schnell in haßerfüllte Opposition aus — es sind das jene Ginzburgs und Bukow-skijs, die politischen Samisdat herstellen und vertreiben und die CIA (zum Unterschied vom sowjetischen KGB) für eine Organisation der christlichen Nächstenliebe halten.

Bei einem ziemlich beträchtlichen Teil der gebildeten Jugend führt die allgemeine Frustration, die das starre System im lebendigen Individuum hervorruft, zu völliger politischer Abstinenz, die so weit geht, daß nicht einmal mehr politische Witze erzählt werden. Dafür findet man junge Physiker, die Dante oder deutsche Barocklyrik im Original lesen. Sehr verbreitet ist das Interesse für russische Poesie, klassische wie moderne, altrussische Ikonenkunst und überhaupt ganz allgemein für Kunst und Literatur. Es gibt kaum gebildete russische Jugendliche, die nicht einen Großteil der russischen Poesie, darunter auch wenig verbreitete oder schon lange nicht verlegte Autoren wie Achmatowa oder Mandelstam, auswendig kennen. Diese Flucht in das Reich der schönen Künste ist in Rußland ein weitverbreitete und ziemlich typische Erscheinung. Sie mag im Einzelfall nicht sehr sinnvoll und nützlich erscheinen, bewirkt aber, sozusagen als Massenbewegung, eine allgemeine Vertiefung des ästhetischen und ethischen Bewußtseins, die sich nur positiv auswirken kann.

Und die Arbeiterjugend? Wie steht sie zum Regime und der postulierten „sozialistischen Moral“ als Prinzip der „sozialistischen Gesellschaft“?

Der autoritäre Totalitarismus wirkt sich nicht nur in äußerlichem Terror und Zwang aus, sondern bewirkt tiefgreifende Deformationen sowohl der individuellen Persönlichkeit als auch der gesellschaftlichen und politischen Institutionen, die ebenfalls autoritär strukturiert sind.

Verschärft wurde die Vergewaltigung des moralischen Ideals dadurch, daß die Führung den Zwangscharakter der Produktionsweise nicht als solchen bezeichnen konnte, da er sich in einem zu eklatanten Widerspruch zu dem befand, was die Menschen von einer sozialistischen Gesellschaftsorganisation erwarteten. „Zwangsläufig“ mußte deshalb die Führung diesen entbehrungsreichen Abschnitt, welcher der endgültigen Errichtung einer kommunistischen Gesellschaft vorangehen sollte, mit den umgekehrten Vorzeichen versehen und ihn möglichst nahe an den zu erreichenden Glückszustand heranzurücken. Diese von der offiziellen Propaganda unaufhörlich wiederholte Verkehrung der Wirklichkeit führte zu einer tiefgreifenden Bewußtseinsspaltung, die sich natürlich auch auf dem Gebiet der Moral auswirkt und eine Spaltung derselben in eine offizielle und eine private, dem staatlichen Zugriff weniger zugängliche, Moral hervorrief.

Damit steht die sowjetische Gesellschaft vor dem Dilemma, mit der Entwicklung der Schwerindustrie zwar die materielle Basis für die Errichtung einer sozialistischen Gesellschaft geschaffen zu haben, anderseits ist durch den autoritären Modus dieser Entwicklung eine Bewußtseinsstruktur entstanden, welche die Verwirklichung einer solchen Gesellschaft illusorisch werden läßt. Auch begann die autoritäre Bewußtseinsstruktur bald auf die Produktionsweise zurückzuwirken, was sich vor allem in einer entscheidenden Verschlechterung der Arbeitsmoral zeigte. Trotz der offiziell üblichen verbalen Verbrämung, die sich in Titeln wie „Held der kommunistischen Arbeit“, „Stoßarbeiter der kommunistischen Arbeit“, „Brigade der kommunistischen Arbeit“ und ähnlichen zeigt, wird sehr uneffektiv, achtlos und qualitativ schlecht gearbeitet. Die strenge Befehlshierarchie in den Betrieben — von demokratischer Mitbestimmung kann keine Rede sein — führt zu weitgehenden Entfremdungserscheinungen, für die der Arbeiter nicht wie im Westen mit erweitertem Konsum, sondern hauptsächlich mit Phrasen und eher geringfügigen materiellen Entschädigungen abgespeist wird. Die seit einigen Jahren eingeführte Wirtschaftsreform ist vor allem darauf angelegt, Mißstände in der Planung zu beseitigen, auf die autoritäre Betriebshierarchie wirkt sie sich hingegen kaum aus und kann deshalb auch keine wesentliche Verbesserung der Arbeitsmoral herbeiführen. Eine ganz allgemein verantwortungslose Lebenseinstellung der arbeitenden Bevölkerung und eine Flucht in die Trunksucht, die immer erschreckendere Ausmaße annimmt, sind die Folge. Denn obwohl die Arbeiter etwa im Vergleich zur Intelligenz relativ gut verdienen, spüren sie doch genau, daß ihr Verdienst nicht von der Leistung abhängt, sondern unabhängig von dieser ein für allemal festgesetzt ist, die verschiedenen Prämien dagegen hauptsächlich von einer geschickten Betriebspolitik, auf die sie wiederum keinen Einfluß haben. Die Folge: allerorts wird gestohlen, ein beträchtlicher Teil der Produktion wird verschlampt, verkommt und verrottet aus Achtlosigkeit oder wegen Strukturfehlern in der Planung. Daß überhaupt gearbeitet wird, hat seinen, Grund nicht im freien Wollen der Arbeiter, sondern in einer ausgetüftelten Arbeitsgesetzgebung, die einem Dolcefarniente sehr enge Grenzen setzt. So ist etwa das sowjetische Kündigungsrecht sehr viel rigoroser als in westeuropäischen Ländern, Arbeitslosenunterstützung wird keine bezahlt, da es ja offiziell keine Arbeitslosigkeit gibt, und wer nicht oder nur unregelmäßig arbeitet, kann wegen „Nichtstuns“ — In der Sowjetunion ein Strafbestand — zu Arbeitslager verurteilt werden.

Eine solche Diskrepanz zwischen den offiziellen ethischen Maßstäben und ihrer konkreten Realisierung läßt sich in fast allen Lebensbereichen wie Erziehung, Mitgliedschaft in gesellschaftlichen Organisationen wie Komsomol, Partei und Gewerkschaft, in der Familie und natürlich auch am Arbeitsplatz beobachten. Sie macht es dem einzelnen schwer, sich zwischen totaler Ablehnung der offiziellen Sphäre und einem prinzipienlosen Opportunismus die moralische Integrität zu bewahren, ohne die ein befriedigendes Leben nicht zu führen ist.

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