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Rußlands zweite Generation

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Die Saat der russischen Oktoberrevolution fiel auf den Gärboden sozialer Ungerechtigkeiten, rassischer Differenzen und religiöser Wirrnisse. Einer Schicht von Adeligen und reichen Bürgern stand die Masse der besitz- und rechtlosen Land- und Industriearbeiter gegenüber, ohnmächtig ballten die nationalen Minderheiten einschließlich der Juden die Faust gegen das anmaßende Großrussen-tum, und die starowerzy — die „Altgläubigen“ — predigten in Wäldern und Sümpfen Haß gegen die „vom Satan besessene“ orthodoxe Staatskirche.

Rasgrom (Zerstörung), likwidazija und tschistka (Säuberung) waren die begierig aufgenommenen Schlagworte, die nun galten, freie Bahn für den Jahrzehnte und Jahrhunderte aufgespeicherten Haß. Rachedürstend machten fanatische Revolutionäre ganze Arbeit. Der Zarenhof, die Adeligen, die Popen wurden liquidiert. Es folgten die Offiziere, gehetzt vom Schlachtruf „beitje solotopogonni-kow“ — „erschlagt die Goldepauletten-träger!“ —, es folgten die pomeschtschiki (Großgrundbesitzer), die fabrikanty und kupzy (Kaufleute), die tschinowniki (Beamten) und nicht zuletzt die Akademiker aller Bildungsrichtungen — mit einem Wort die Bourgeois. Als die Angehörigen dieser greifbaren Gruppen dann liquidiert und gesäubert waren, soweit sie nicht während des Bürgerkrieges ins Ausland flohen, und die Kolchosierung nur langsame Fortschritte machte, wurde für die Widerstrebenden, die wirklich keine „Bourgeois“ mehr waren, der Begriff „kulak“ (Faust) geprägt, unter dem ein Mann zu verstehen ist, der es wagt, der allgemeinen Gleichschaltung seine Faust entgegenzuhalten. Hinfort gab es nur mehr zwei Klassen: Arbeiter und

Bauern. Alle anderen Unterschiede waren ein für allemal ausgelöscht!

Damit hatten die Revolutionäre allerdings ihre Norm erfüllt. Es zeigte sich nämlich, daß sie beim Wiederaufbau nicht so geschickt waren wie bei der Zerstörung. So mußte wieder irgend jemand, ob in der Kolchose oder in der Fabrik, eine Art Oberbefehl erhalten, es mußte wieder irgend jemand als Händler tätig sein, es müßte wieder irgend jemand verantwortliche Posten der Verwaltung einnehmen, und es mußte wieder Juristen und Ärzte, Forscher und

Ingenieure geben. So wurde eine große Zahl junger Menschen proletarischer Abstammung langsam wieder eingeführt in die Rechte, die vor ihnen die verhaßten Bourgeois innehatten. Auf dem Gebiet der Wissenschaft wurde sogar der Säuberung Einhalt geboten, um die Heranbildung sowjetischer Gelehrter zu sichern. Unter dem Druck der wirtschaftlichen Verhältnisse wurden diesen jungen, zuverlässigen Führern in Wehrmacht, Wirtschaft und Handel schließlich sogar Rechte über ihre Untergebenen verliehen, die kein bürgerlicher Unternehmer je hatte. Es kehrten, um die Unterschiede auch äußerlich zu zeigen, die Goldepauletten wieder, bis in den zivilsten Bereich der Wirtschaft hinein gibt es wieder Uniformen und Rangabzeichen, es wimmelt nun von Generaldirektoren L, II. und III. Klasse, von Justizräten und allen möglichen Gattungen hoher, mittlerer und niedriger Amtspersonen, und auch Kunst und Wissenschaft verachten Titel und Auszeichnungen nicht.

Die so aus der Masse Herausgehobenen empfinden es als durchaus in Ordnung, daß sie zu befehlen haben, die anderen zu gehorchen. Die „Kommandeure der Wirtschaft“ und der Wissenschaft sind sich ja bewußt, daß sie den Staat vertreten, der sowieso die Interessen des Volkes vertritt. Sie gehören alle, ohne Ausnahme, vom kleinsten Parteifunktionär bis zum Präsidenten der Akademie der Wissenschaften, zum Kreis der sowjetischen Intelligenz. Sie fühlen auch ihre besondere Zusammengehörigkeit, und es gibt keinen amtlichen Aufruf an das Volk, in dem nicht neben Arbeitern und Bauern auch die intelli-genzija besonders angesprochen wird.

Die höchsten Partei- und Regierungsstellen mußten sich sogar schon mit der Frage befassen, ob der Sowjetstaat nun nicht doch eine dritte Klasse erhalten habe. Zwar wurde diese Frage mit „Nein“ beantwortet, aber jene andere Frage eines deutschen Kriegsgefangenen, welcher Klasse nun der Sohn eines hohen Offiziers des politischen Dienstes angehören werde, der eben in Moskau die höhere Parteischule besuchte, der Klasse der Bauern oder der der Arbeiter, diese Frage blieb doch unbeantwortet, und der Fragesteller entging mit knapper Not einem Gerichtsverfahren wegen „diver-sionistischer Tätigkeit“.

Die privaten Interessen dieser neuen Oberschichte zielen auf nichts anderes hin als auf eine Gestaltung des Lebens nach bürgerlichem Vorbild. Sie haben es zuwege gebracht, daß man heute offiziell ein Haus mit fünf Zimmern besitzen darf, während noch vor 20 Jahren ein Bauer, der es wagte, sich ein neues Blockhaus mit zwei Räumen zu bauen, unweigerlich als Kulak zu langjähriger Zwangsarbeit verurteilt wurde. Sie haben eigene Kaufläden, sie können Dienstboten beschäftigen, sie sind in erster Linie Besitzer der Autos und Motorräder, der Radioapparate und Haushaltsgeräte, sie sind die Besucher der großen Theater und Konzerte, der Luxusrestaurants und der Kurorte, sie sind die Passagiere der Schnellzugs- und Luftlinien, sie sind die Gäste der Bibliotheken und Leser schöngeistiger Bücher. Sie sind es auch, die dem Ausland mit Stolz als die Bürger ihres Landes vorgeführt werden, keine Revolutionäre, sondern gut angezogene und gut genährte, durchaus „bourgeoise“ Erscheinungen.

Nur noch die Stachanow-Leute, die „Schwitzmeister“ der sowjetischen Arbeiter — ehrgeizige Streber, wie überhaupt die Sowjetunion ein Paradies der Streber ist —, können sich mit ihnen vergleichen. Die einfachen Arbeiter und Bauern aber warten immer noch auf eine versprochene Befreiung. Sie spüren es ja am eigenen Leib, daß nicht weniger, sondern mehr Arbeitsleistung verlangt wird, daß die sogar in der Verfassung festgelegte siebenstündige Arbeitszeit längst zur Utopie geworden ist. Sie kennen alle irgendeinen Fall, in dem ein Arbeiter für eine ganz geringe Verletzung der Arbeitsdisziplin zu mehrjähriger Zwangsarbeit verurteilt wurde, denn nun ist das ja Auflehnung gegen den Staat selbst, auf die sogar wieder die Todesstrafe gesetzt ist. Und die Berufsorganisation der Arbeiter, die einst mächtige Gewerkschaft, ist zu einem Verein satter Funktionäre geworden, die nur mehr über weitere Möglichkeiten zur Ausbeutung der Arbeitskraft zu beraten haben.

Auch die Generation jener nationalistischen Führer, die sich der Revolution verschrieben hatten, um Rußlands Joch abzuschütteln, ist längst liquidiert. Die Leitung ihrer „autonomen“ Staaten haben, soweit Sie noch bestehen, geschulte russische Beamte übernommen, die sich keineswegs besonderer Beliebtheit erfreuen. Man lese doch die Namen der maßgebenden Personen in den östlichen nationalen Republiken, in Litauen, Lettland und Estland, man erinnere sich an die verschwundene Republik der Krimtataren, deren Bevölkerung „in der überwiegenden Mehrheit“ ihre auf selten der Deutschen kämpfenden Männer unterstützte und dafür nach Zentralasien umgesiedelt wurde, wo den Tatarenfamilien „ihren Sitten entsprechende Wohnstätten bereitet waren“. Und zeugte es etwa Von einer Lösung der Nationalitätenfrage, wenn auf dem russischen Basar beim Er scheinen eines Juden offen der alte Haßvers ertönen konnte: „Bei schidow, spasoi Rossiju“ — „Erschlag' die Juden, rette Rußland!“ — oder wenn für eine Judfen-beschimpfung im Jahre 1946 nicht nur der Schuldige mehrere Jahre Zwangsarbeit erhielt, sondern auch seine unschuldige Frau, die doch durch die Revolution befreit worden war und völlige Selbständigkeit erlangt hatte, fristlos aus dem öffentlichen Dienst entlassen wurde.

Und die „Altgläubigen“, die in der Zeit der gemeinsamen Verfolgung und gemeinsamen Not sich der orthodoxen Kirche wieder genähert hatten, führen heute, da skh die offizielle Kirche in den Schutz des Staates begeben hat, ihr Katakombenleben weiter, während dife katho1-lische Kirche, deren wenige Gemeinden nur kurze Jahre an der kaum mehr vör-stellbaren Gnade eines ungestörten

Gottesdienstes Anteil hatten, nun niederschmetternde Schläge in Ergebenheit hinnimmt, da Ihr die Waffe des Hasses fehlt Urld ein gewichtiges Apostelwort sie zum Glauben zwingt, daß jede Obrigkeit von Gott ist.

So stehen in der zweiten Generation der Revolutionäre, wie überall auf dieser Welt, die Mächtigen den Machtlosen, die Besitzenden den Armen, die Zufriedenen den Unzufriedenen gegenüber. Und niemand möge uns Österreichern verargen, daß wir, soweit es auf uns ankommt, keine Neigung haben, unser Hell in einer Revolution zu suchen.

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