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Auftakt zur Weltrevolution

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jliib russisone jiKiouerrevuiuiiiiMi wurde von drei Hebammen aus der Bluttaufe gehoben.

Die erste Wehmutter war der Große Krieg: Die ausgebluteten Bauernvölker des Zarenreiches verlangten Frieden. Die Entente aber forderte Fortsetzung des Krieges, forderte neue Offensiven, und verkannte völlig den Grad der Erschöpfung, der Ausblutung, den Drang nach Frieden, der die Massen ergriffen hatte. So wurde der Westen durch den Krieg zur ersten Hebamme der Oktoberrevolution. „Das Volk verlangte Frieden und Land, und diesem Verlangen kamen nur die Parolen des Bolschewismus entgegen“ (Valentin Gitermann).

Die zweite Hebamme der Oktoberrevolution wird durch die vereinigte Unfähigkeit, durch den Nicht-Willen der an sich und in sich zerstrittenen antibolschewistiischen politischen * Gruppen gebildet: Diese sind sich nur in einem Negativum einig: Sie wollen den Krieg weiterführen, und sie wagen die Lamdreform nicht, die seit Generationen diskutiert, gefordert, programmiert worden war.

Die dritte Hebamme trägt, ein vielköpfiges Monstrum, die Köpfe deutscher Generale. Diese hatten es

durchgesetzt, daß Lenin aus der : Schweiz in die Zarenlande befördert wurde. Allein die Bolschewisten wagen es, am 3. März 1918 den Frie- '< densvertrag von Brest-Litowsk au j unterzeichnen: Rußland verliert ein Viertel seines Territoriums, ein Viertel des anbaufähigen Bodens, ein Viertel des Eisenbahnnetzes, ein Drittel der Textilindustrie, drei Viertel der Eisenerz- und Kohlenbergwerke. Die Deutschen besetzen, trotz des Friedensvertrages, weitere Gebiete des Zarenreiches und bemächtigen sich der Erdölquellen des Nordkaukasus.

*

Die russische Oktoberrevolution hat das Denken und Handein, das Hoffen und Fürchten von gläubigen Anhängern und ungläubigen Gegnern in allen Kontinenten dieser Erde zutiefst beeinflußt: bis in die Gestaltung ihrer Träume.

Lord Moran, Churchills Leibarzt, berichtet in seinem Tagebuch von einem Traum Churchills aus dem Jahre 1953: „In Rußland war eine Gegenrevolution im Gange, und wir hatten Spezialbomben, nicht größer als eine Streichholzschachtel, von örtlich begrenzter Wirkung. Mit ihnen vernichteten wir die Russen, einen nach dem anderen, bis keiner übrigblieb. Die Gegenrevolution war ein voller Erfolg. Der Traum dauerte ziemlich lange.“

Diese Träume Winston Churchills mögen hier als Chiffre den ungeheuren Prozeß andeuten, der die Einbildungskraft, die „Phantasie“, alle seelischen Vermögen und Innenräume des Menschen gerade auch in gegnerischen Hemisphären zutiefst ergriffen hat: Römische Päpste, Schweizer Bürger, portugiesische Kinder (Fatima!), französische Frauen, Menschen aller Rassen, Klassen, religiösen Konfessionen, sind in dem letzten halben Jahrhundert in ihren Tiefenschichten gebildet (und verbildet) worden durch ihre Vorstellungen, durch ihre Schreckbilder von der Oktoberrevolution. Das geistige, seelische, mentale Klima der Welt, und gerade auch in Europa, würde durch die stete Gegenwärtigkeit des ungeheuren Prozesses, der da in Rußland im Oktober 1917 begonnen hatte, grundlegend beeinflußt. Alle Untergangsängste, die sich seit über tausend Jahren um den Pol eines „Antichrists“, später eines „Untergangs des Abendlandes“, eines Weltenbrandes, der die „Christenheit“, die „Zivilisation“ verschlingen werde, kristallisiert hatten, konzentrierten sich auf diesen Pol: „Bolschewismus“. Millionen Menschen, gerade im „nichtbolschewistischen“ Europa, erfuhren die apokalyptische

Vision: „Oktoberrevolution“ als Beginn der Weltrevolution.

Wir wissen heute sehr genau: Im Bannkreis dieser ungeheuren Ängste, die nicht selten Personen und Gruppen bis in ihren Zellkern hinein ergriffen, mit Schreckensmacht faszinierten und bannten, vollzog sich der Aufstieg und Sieg präfaschistischer, rechtstotalitärer, dann nationalsozialistischer Regime, zunächst wieder in Europa, von Polen bis Portugal.

In demselben Jahr 1953 erklärt Thomas Mann: „Ich habe keine politischen Glaubensbildiungen und bin kein Kommunist. Das vielzitierte Diktum ,Der Antikommunismus ist die Grundtorheit unserer Epoche' meint nichts anderes, als daß die Verwirklichung der Fernziele der Menschheit: Weltregierung, gemeinsame Verwaltung der Erde und ihrer Güter, Völkerfriede, ohne kommunistische Züge kaum vorzustellen ist.“

1932 vermerkt Thomas Mann: „Der Bürger ist verloren und geht des Anschlusses an die' neu heraufkommende Welt verlustig, wenn er es nicht über sich bringt, sich von den mörderischen Gemütlichkeiten und lebenswidrigen Ideologien zu trennen, die ihn noch beherrschen, und sich tapfer zur Zukunft zu bekennen. (Ich füge hier erläuternd ein: &#9632; Im Schatten der Oktoberrevolution erstarben in Millionen .bürgerlicher* Menschen die schwachen Funken etaes Glauibens an gute Zukunft der Menschheit!) Die neue, soziale Welt,

die organisierte und Planwelt, in der die Menschheit von untermenschlichen und nicht notwendigen, das Ehrgefühl der Vernunft verletzenden Leiden befreit sein wird; diese Welt wird1 kommen, und sie wird das Werk jener großen Nüchternheit sein, zu der heute schon alle in Betracht kommenden, alle einem verrottenden und kleinbürgerlich-dumpfen Seelentum abholden Geister sich bekennen.“

In diesem Sinne ist das Bekenntnis des Thomas Mann von 1950 zu verstehen: „Ich möchte keinen Zweifel lassen an meiner Ehrerbietung vor dem meiner Zeit angehörigen historischen Ereignis der russischen Revolution. Sie hat in ihrem Lande längst unmöglich gewordene, anachronistische Zustände beendet, ein zu 90 Prozent analphabetisches Volk intellektuell gehoben, das Lebensniveau seiner Massen unendlich menschlicher gestaltet. Sie ist die große soziale Revolution nach der politischen von 1789 und wird wie diese ihre Spuren zurücklassen in allem menschlichem Zusammenleben.“

Der letzte großbürgerliche Dichter eines deutschen bürgerlichen Zeitalters, das von Lessing bis zu den Brüdern Mann reicht, sieht hier die russische Revolution im Zusammenhang jener großen Emanzipationsbewegung, die in der Hochaufklärung des 18. Jahrhunderts beginnt und

sich in den industriellen, kulturellen, : technischen, künstlerischen Revolu- : tionen des 19. und 20. Jahrhunderts ausfaltet: die politischen Revolutio- '. nen bilden da nur einzelne beson- i ders dramatische (und dramaturgisch ausgearbeitete) Akte des gro- ! ßen Menschheitsdramas; andere i Akte, die aber in den Emanzipationsbewegungen der Frau, der Arbeiterschaft, der „erwachenden“ Ras- ! sen und Völker in Asien, Afrika und in beiden Amerika, sich — wie die Kunst heute von Griechenland bis Mexiko zeigt — mit den politischen -revolutionären Bewegungen vielfach verbinden, in hochdramatischen und nicht selten tragischen Prozessen.

Die Weltrevolution des Menschen, der Sprung aus Jahrtausenden einer agrarischen, frühtechnischen Welt in das nukleare Zeitalter, ist älter, umfassender, weitausholender als die „sozialistische Weltrevolution“, die Lenin am 26. Oktober 1917 proklamiert. Diese Weltrevolution erscheint aber im Bewußtsein der farbigen und der außereuropäischen Völker untrennbar verbunden mit der russischen Revolution. Die chinesische „Kulturrevolution“ und die weltpolitische Propaganda und revolutionäre Praxis der Rotchinesen versucht nicht zuletzt dies: sich als einziger legitimer Erbe der Oktoberrevolution, als Führer der totalen Revolution des Menschen zu proklamieren. *

Im windstillen Basel sieht Friedrich Nietzsche ein Zeitalter heraufkommen, in dem der Mensch in großem Stile Weltgeschichte, nämlich Experimente mit dem Menschen, mit Völkern, mit der Menschheit, machen wird. Die Oktoberrevolution ist das erste große weltgeschichtliche Experiment des Menschen mit dem Menschen im 20. Jahrhundert. Bedeutsam für ihre blutigen Schicksale, für ihr Verschlammen in einem Bürgerkriegskommunismus, für ihr jahrzehntelanges Fast-Ertrinken in den Blutbädern der stalinistischen Reaktion, ist ihre Selbstverwehrung gegenüber der Parallelrevolution, die in den Künsten, in der Dichtung, Baukunst, eine schöpferische Intelligenz vereinigt. Die Begegnung der beiden großen Experimente findet nicht statt: vielfach in Rußland versucht, in den frühen zwanziger Jahren, endet sie mit der Zerschlagung der Experimente der künstlerischen, dichtenden, formschaffenden Intelligenz, mit ihrer Austreibung in einem Exodus, der diese Dichter, Maler, Denker, Architekten nach Berlin, Paris, London, Amerika treibt

Hier setzt nun ein nicht minder dramatischer Prozeß im Westen, in den nichtsowjetischen Ländern ein: in Westeuropa, vornehmlich in Frankreich, England, in Amerika, zeitweise auch in Deutschland (vor allem im Berlin der ,.zwanziger Jahre“), sieht, nach 1918, um 1930, um 1940, eine progressive Intelligenz die russische Revolution mit der Weltrevolution des Menschen zusammen. Von Mal-raux bis Hemingway, von Arthur Koestler bis Richard Wright (um von einem Juden zu einem Neger den Regenbogen der großen Hoffnung anzuvisieren) zeigen sich europäische, amerikanische, dann asiatische und afrikanische junge Intellektuelle, Künstler, Dichter, Maler, Schauspieler, Techniker, ja, auch Industrielle (die erste neurussische Traktorenfabrik wird in der Nähe der Stadt Charkow von Henry Ford errichtet) von dem großen russischen Experiment fasziniert.

Diese westlichen Experimenteure verlieren nicht selten den Glauben an die russische Revolution, sagen sich, ebenfalls nicht selten, öffentlich von ihr los: angesichts der Moskauer Schauprozesse, aber auch bereits zuvor und wieder darnach, um 1945, um 1956. Gleichzeitig aber begibt sich dies: Bedeutende revolutionäre Kräfte verlagern sich aus den russischen Räumen nach dem weißen Westen und in die farbigen Kontinente.

Das aber ist eines der großen Phänomene, eine Kettenreaktion, ein Strahlungsprozeß, der durch die russische Revolution im Westen zunächst ausgelöst wird — ein Prozeß, der heute, 50 Jahre nach dem russischen Oktober von 1917, sich überaus vielfältig ausfaltet. Unter dem Eindruck der überaus großen Kühnheit, mit der da in Osteuropa und in den asiatischen Räumen der UdSSR begonnen wurde, mit dem Menschen zu experimentieren, werden im Westen von diesem Osten her überspringende Feuerfunken aufgenommen: da sie auf einen mental, politisch, gesellschaftlich ganz anders gearteten Boden fallen, entzünden und

inspirieren sie hier ganz andere geschichtliche Phänomene.

Bedeutsam ist da zunächst dies: Die Feuerfunken aus dem Osten werden im Westen in einem hohen Grade entpolitisiert, zunächst der Beschlagnahme durch die Partei, durch die kommunistische Bewegung entzogen. Nur relativ sehr kleine Kreise stoßen zur kommunistischen Partei, gehen in deren Kadern auf. Ungleich mächtiger ist der Zustrom in den Strahlraum der Weltrevolution, wie sie, als eine umfassende geistige, seelische, künstlerische, technische, pädagogische, urbani-stische Revolution des Menschen zunächst, 1917 bis 1923, in Rußland von Zugvögeln der Zukunft vorgedacht worden war* von Menschen, die da getötet oder ausgetrieben wurden.

Dies ist die Situation der Gegenwart: Nicht nur auf Kongressen, sondern viel umfassender im großen Geistesgespräch der heutigen Menschheit kann tagtäglich dies beobachtet werden: Männer und Frauen, Studenten, Intellektuelle, Künstler, Städteplaner usw. des Westens überholen die ihnen gegenübersitzenden Repräsentanten, die Söhne und Enkel der Veteranen von 1917, „links“: Während diese Politiker, Kulturbeamten, „verdiente Künstler der Sowjetunion“, Roma-ciers und Maler usw., Vertreter eines rot-konservativen Establishment, einer Einpassung in recht statische Gebilde wurden, in einem Groß-Staate, in dem die Revolution von 1917 institutionalisiert, klerikalisiert (im Bau der politischen Staatskirche) und verbeamtet wurde, hat die Weltrevolution sich im Westen in andere Dimensionen und Ausdrucksformen verlagert; nicht zuletzt im Geschlechtsleben, wo heute im Westen Formen proklamiert werden, die der Frühbolschewismus um Alexandra Kolontai vertrat, dann aber bald unterdrückte. Die russische Oktoberrevolution

hat dergestalt Strahlungen und Entwicklungen, ausgelöst, von denen sich Korl Marx (ein erbitterter Gegner Rußlands), Friedrich Engels und der junge Lenin, also die Kirchenväter des Weltkommunismus, nichts träumen ließen. Die analoge weltgeschichtliche Situation im Christentum springt in die Augen: Dieses nahm 50 Jahre, und 100 Jahre nach dem Tode Jesu von Nazareth bereits Formen an, von denen die ersten Jünger Jesu keinerlei Vorstellungen hatten. Das Christentum ging in den mörderischen Kämpfen der Sekten und Parteiungen zunächst im dritten und vierten Jahrhundert nicht unter, unterlag aber auf je fremden Boden, in Europa und Nordafrika, einem Gestaltwandel allergrößten Ausmaßes. Analog läßt sich 1967 mit dem Blick auf 1917 feststellen: Die Feuerfunken von 1917 sind in den 40 Jahren des Kriegs- und Bürgerkriegskommunismus in der stalinistischen Ära und der folgenden Verbeamtung nicht ertrunken; sie flogen über Land und Meer, nehmen aber in anderen Zonen, in Nordamerika und Südamerika, in Italien, Frankreich, Spanien, sehr andere Formen an. Dia Zukunft der kommunistischen Kirchen und der kommunistischen Häresien ist, in der Vielfalt ihrer Gegensätze und untergründigen Kommunikationen, so offen wie nur je die Zukunft etwa von christlichen Bewegungen war.

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