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Ost und West im Kampf um Europa

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Seit Kriegsende muß man sich mit dem Gedanken abfinden, daß in Zukunft die Großmächte Europas sich nicht mehr im Rahmen der Alten Welt in einem Gleichgewicht einigen und die übrige Welt zur Ausbalancierung dieses ursprünglich wesentlich europäischen Systems in den europäischen Kulturkreis einbezlehen können: von nun an wird es nur mehr ein Gleichgewicht der Weltmächte, Amerika und Rußland, geben und im Rahmen der Balance zwischen diesen beiden Mächten, die mit Europa primär nichts zu tun hat, wird unser Kontinent, wenn er sich nicht zu einer „Dritten“ Macht von weltpolitischer Bedeutung zusammenschließt, bis auf weiteres nur ein geographisches Teilproblem sein, wie zum Beispiel der Mittlere oder der Ferne Osten.

Daß auch die Welt den Primat Europas nicht mehr anerkennt, daß sie nicht mehr um Europa als Schwerpunkt schwingt, wie bis vor kurzem, zeigt auch die Entwicklung am Kontinent selber. Nach dem Krieg hielten so gut wie alle europäischen Länder Ausschau nach Krediten, um den Wiederaufbau des eigenen Landes zu finanzieren, sich bei der Rekonstruktion Europas zu beteiligen und den Anschluß an ihre Kolonialreiche wiederzufinden. Natürlich ist dieser Wiederaufbau durch die Entwicklung in den Kolonien, die sich nicht mehr rückgängig machen läßt, bereits prä-

judiziert. Dies Kredite wurden von Amerika zu sehr günstigen Bedingungen, teilweise sogar als Geschenke, gegeben, freilich mit der Auflage, daß die für dieses Geld an- zuschaffenden Waren in Amerika gekauft werden müßten. In Europa vollzieht sich somit heute ein ähnlicher Prozeß, wie er durch das Lend-Lease-Programm Roosevelts in den europäischen Kolonien während des Krieges initiiert worden ist. Amerika ist zu dieser Politik gezwungen, weil es während des Krieges seine industrielle Kapazität in einem ungewöhnlichen Ausmaß ausgebaut hat. Es stand vor der Alternative, sein Kriegspotential wie 1918 wieder zu zerstören und wieder in Isolation zu versinken, oder seine Produktion zu exportieren Man entschloß sich zu letzterem, schon weil ansonsten die zweite Weltmacht, Rußland, prädominierend geworden wäre. Dazu kam noch, daß sich die amerikanische Industrie von heute auf morgen auf Friedensproduktion umstellen konnte, während andere Produktionsapparate, wie zum Beispiel der englische, Jahre zu dieser Umstellung brauchten. Diese und andere Einflüsse bewirkten jedenfalls, daß auch Westeuropa sich zu „amerikanisieren“ beginnt. Die ganze historisch gewordene, soziale und nationale Gliederung der Alten Welt verliert somit, wenigstens vorübergehend, ihren Sinn. Die einzelnen sozialen Schichten und nationalen Einheiten büßen in unserer amerikanisierten Atmosphäre ihre Rolle als Trägerinnen klassenmäßig oder national bedingter Kultur ein, sie werden immer mehr das Produkt der Aufgliederung der europäischen Menschheit durch den Produktionsprozeß, ohne kulturelle oder politische Bedeutung und nehmen demgemäß an unserer mehr oder weniger standardisierten Zivilisation immer gleichmäßiger teil. Die im politischen und kulturellen Sinne „klassenlose Gesellschaftsfor m“, wie sie sich in den USA herausgebildet hat, die amerikanische „Demo- k r a t i e“, ist auch in Westeuropa auf dem Wege, und der vom Marxismus gepredigte politische Klassenkampf mag eines Tages obsolet werden. Um so bedeutsamer wird der Kampf der verschiedenen Wirtschaftsorganisationen um die zweckmäßige Verteilung des Produkts der gemeinsamen Arbeit, wobei auch der Staat seine Ansprüche sehr energisch angemeldet hat: die Bedeutung der Gewerkschaften, der Bünde der sogenannten Wirtschaftsführer und der staatlichen Bürokratie ist im Steigen.

Der nivellierenden Tendenz des Amerikanismus, der nur bei einer ständigen Hebung des allgemeinen Niveaus der materiellen Zivilisation lebensfähig ist, weil er ja gerade dadurch die Massen fasziniert, daß er ihnen einen ständig höheren technischen Lebensstandard verspricht und sogar bringt, setzt Rußland eine andere Taktik entgegen: es spielt die soziale und die nationale Karte aus, die Amerika so lange als Trümpfe ignorieren kann, als es aillgemeine Prosperität garantiert und den Lebensstandard der Massen tatsächlich hebt. Rußland hingegen wartet auf eine Depression, um dann sein Blatt auf den Tisch zu legen. Ebenso wie Lenin das Studium der sozialen Revolution und die Möglichkeit der Auswertung der dieser inhärierenden Dynamik zu seinem Lebenswerk gemacht hat, so ist Stalin der Fachmann für die nationale Frage, ohne deren befriedigende Lösung Rußland selber niemals hätte zusammengehalten werden können. Solange der Weltkommunismus als Träger des Nationalismus auftreten und dessen Dynamik sich selbst nutzbar machen kann, wird dieser kein Hindernis für die Zusammenfassung einmal unter kommunistische Herrschaft gelangter Staaten unter russischer Führung sein. Im Gegenteil, er wird diese Entwicklung befördern. Heute wird man sich wohl in Moskau bereits mit der Theorie der nationalen Revolution ebenso intensiv befassen, wie man sich unter Lenin mit der Theorie der sozialen Revolution befaßt hat. Rußland rechnet darauf — vielleicht mit Recht —, daß die nationalen, klassenmäßigen, kulturellen und ideologischen Gegensätze wieder virulent und dann Trümpfe in der Hand Stalins werden, wenn die von Amerika promovierte Aufwärtsentwicklung der materiellen Zivilisation stockt, wenn das allgemeine Niveau, so hoch es auch sein mag, nicht mehr gehalten werden kann, wenn also der Amerikanismus in eine Krise verfällt — und man bereitet sich heute schon vor, diese Trümpfe dann auszuspielen. Die Träger der Idee der sozialen und heute schon der nationalen Revolution sind die kommunistischen Parteien innerhalb der europäischen Nationen. Als Techniker der sozialen und nationalen Revolution streben sie danach, die Führung jeder Revolution an sich zu reißen. Der erste Versuch, auch ohne Revolution, auf evolutionärem Wege an die Spitze der Arbeiterbewegung zu gelangen und auch die Intelligenz für sich zu gewinnen, ist mißlungen. Die Voraussetzungen für diesen Versuch, angesichts des wirtschaftlichen Chaos und des sozialen und nationalen Elends der unmittelbaren Nachkriegszeit und der damit verbundenen Deklassierung und Vermassung der Menschen, zuerst „Volksfronten“ zu bilden und diese dann mit Hilfe des in Moskau geschulten kommunistischen Personals unter die Führung einer kommü- nistischen Minorität zu bringen, waren günstig. Diese Taktik wurde jedoch schon während des Krieges von der englischen Labour Party durchschaut und durch eine enge Kooperation mit den emigrierten Führern der kontinentalen sozialistischen Emi gration durchkreuzt. Heute besitzt die Labour Party einen nicht unbedeutenden Einfluß auf den kontinentalen Sozialismus selber und benützt diesen Einfluß, um den Kampf gegen den Kommunismus zu organisieren. Im Zuge der erwähnten Volksfrontpolitik gelang es den Kommunisten jedoch, wichtige Schlüsselstellungen innerhalb der sozialistischen Arbeiterbewegung durch Kommunisten zu besetzen. Auf Grund dieser Teilerfolge der „Volksfront“ wurde dann der Versuch unternommen, die Prosperität des Amerikanismus zu kopieren und Krisen in nationalem Rahmen durch Streiks und Arbeiterunruhen zu provozieren. Auch dieser Versuch mißlang angesichts der durch die erwähnten amerikani . sehen Kapitalinjektionen widerstandsfähig gewordenen europäischen Wirtschaftskörper. In Moskau hat man sich offenbar damit abgefunden, daß eine künstliche Krise des Amerikanismus nicht hervorgezaubert werden kann. Man hat sich daher auf eine Politik des Zuwartens verlegt und begnügt sich vorläufig damit, die kommunistischen Parteien in Europa und in letzter Instanz Rußland selber, ails Träger der Idee des Klassenkampfes und des Nationalismus und aller in diesen Rahmen gehörigen Gegensätze und Machtbestrebungen, die gegenwärtig durch die Prosperität maskiert sind, zu konstituieren und diese so lebendig zu erhalten. Daher die betont ideologische Ausrichtung der kommunistischen Parteien Westeuropas und deren in der jüngsten Zeit übertrieben offenes Bekenntnis zu Rußland, das sich sogar als eingestandene Illoyalität gegen den eigenen Staat äußert.

Unterdessen wurde die innere Organisation des Ostblocks so weit aufgelockert, daß die einzelnen Satelliten, vorläufig wenigstens, in steigendem Maße und sogar auf Kosten der Durchführung des kommunistischen Programms, an den Benefizien des Wiederaufbaues Westeuropas teilnehmen können. Ein Beispiel hiefür ist der Handelsvertrag Polens mit England, der die polnische Regierung veranlaßte, ihr Agrarprogramm sogar auf Kosten der Parteiziele zu modifizieren. Ebenso der Umstand, daß in der Europakommission die Vertreter der östlichen Satelliten einstimmig für Ausweitung der Handelsbeziehungen zwischen Ost und West eingetreten sind. In dieses Kapitel mag auch der in Verhandlung stehende englisch-jugoslawische Handelsvertrag gehören.

So hält sich gerade im gegenwärtigen.Moment Osten und Westen in Europa die Waage. Es wird sich zeigen, ob die Prosperität des Amerikanismus langlebig genug ist, die historische Zerklüftung der Alten Welt nach sozialen und nationalen Gesichtspunkten durch den Fortschritt der materiellen Zivilisation zu heilen. Ein anderer Weg wäre der der europäischen Einheit, den zu beschreiten wir jedoch die Kraft in uns selber finden müssen.

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