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Europäische Gewissenserforschung

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Eine Welt ist heute im Aufbruch — eine “Weltgeschichtliche Tatsache, die von uns Europäern und Christen in der Fülle der durch s'e auch für uns aufgeworfenen Probleme noch lange nicht genug gewürdigt wird. Die „Furche“ gibt nun in der heutigen Bolge nach dem Missionär dem Senior der Schweizer Sozialisten, Felix Stössinger, dem bekannten außenpolitischen, Rundfunkkommentator, das Woit, Der Autor war der engste Mitarbeitei Joseph Blochs, der in seinen „Sozialistischen Monatsheften* (Berlin) vom Anfang dieses Jahrhunderts bis in die Jahre nach dem ersten Weltkrieg seine weltpolitische Konzeption der „Fünf Imperien“ entwickelte — eine kühne, aber auch sachlich, ■wirtschaftlich und wissenschattlich tief fundierte weltpolitische Theorie unserer Epoche: sein Gedankengut wurde adoptiert von Hitler, von den japanischen Großraumnationalisten, ausgezogen von Gral Couden-hove-Calergi in seiner „Paneuropaidee“ — heute stützen sich Theoretiker und Praktiker der Europabewegung auf sie. Stössin-gers Aufsatz gibt einen Einbilde in Zusammenhänge, die auch von dem Andersgesinnten Aufmerksamkeit und Nachdenklichkeit beanspruchen.

Chinas dröhnendes Entree in die Weltpolitik hat Europa einen Schock versetzt. Bleibt es ein Angstschock, so wird er uns wenig nützen, denn die'Furcht zieht in der Politik, nach einem Wort Napoleons, gerade die Ereignisse herbei, die sie verhindern möchte. Hilft uns dieser Schock aber zu einem besseren Verständnis der Weltgestaltung, so werden wir auch unsere eigene europäische Lage besser begreifen und besser gestalten können.

Zunächst taudien alte Geschichtserinnerungen auf. Noch immer beherrscht uns die mittelalterliche Erfahrung, die Angst vor dem Ansturm Asiens. Aber mit solchen Tatarenassoziationen werden wir dem Geschehen nicht gerecht. Offenbar spielt uns da unser böses Gewissen einen Streich. Mit Recht erinnern wir uns an die Verbrechen, die Europa an den weisen und tiefsinnigen Völkern Asiens einst begangen hat. Sollen wir nicht schaudern, beim Gedanken an den sogenannten Opiumkrieg, in dem die europäischen Sieger China gezwungen haben, der Einfuhr von Opium, der Vergiftung von Millionen Menschen, keinen Widerstand mehr zu leisten? Heute, da es internationale Rauschgiftkonventionen gibt, haben wir selbst das Urteil über diese Vergangenheit gesprochen. Aber auf den gelben Tod von 1840 folgt in Japan der weiße Tod der antikonzeptionellen amerikanischen Industriepropaganda, die autgezeigt zu haben, ein Verdienst mehr der „österreichischen Furche“ ist. Wir lesen zwar jetzt öfter, niemals habe es in den Parks von Schanghai die berüchtigte Tafel gegeben: „Chinesen und Hunden ist der Eintritt verboten.“ Aber Nora Waln, die amerikanische Schriftstellerin, die lange in China lebte, erzählt in ihrem ergreifenden „House of Exile“, daß Chinesen in der europäischen Niederlassung auf Sha-meen in Kanton sich nicht einmal zum Zuknöpfen eines Schuhbands auf eine Bank für Europäer setzen durften. Gewiß hätte die Polizei auch für Lao-tse keine Ausnahme geduldet. Wir haben also Grund zu moralischer Verzweiflung, und wenn es auch schön ist, daß viele Amerikaner und Engländer heute einen ehrlichen Kampf gegen den Rassenhochmut führen, so können wir doch nicht erwarten, daß Asien auf Rechnung einer zukünftigen besseren Entwicklung die Erinnerung an hundert und mehr Jahre Kulturschande aus dem Herzen löscht.

Dennoch wäre es verfehlt, allein von der Stimme des schlechten Gewissens eine Antwort auf das Ereignis China zu erwarten. Auch das Schlagwort: Befreiung vom Kolonialimperialismus wird dem Phänomen nicht gerecht, da wir uns unter Kolonialimperialismus eher die Ausbeutung alten Stils vorstellen als die moderne, die vom öffentlichen Bewußtsein noch nicht recht erfaßt worden ist. Wir müssen uns daher erst einmal klarmachen, welche inneren Wandlungen die Kolonialpolitik seit dem 18. Jahrhundert mitmacht und wie ihr doch in den verschiedensten, anscheinend ganz geläuterten Formen noch immer der alte Grundgedanke anhaftet: Unterdrückung der fremden Produktionskräfte. Das ist das Wesentliche. Nur darum handelt es sich.Nun darf man sich aber unter Produktionskräften keine Wirtschaftswerte vorstellen. Man kann Produktionskräfte unterdrücken, auch wenn die Statistiken einen giganten Aufstieg der Rohstoffgewinne oder der Fertigwaren bezeugen. Denn die eigentliche, die einzige echte Produktionskraft ist der Mensch, und Ausbeutung besteht letzten Endes in nichts anderem als in der Bindung der menschlichen Produktionskraft. Eine solche Unterdrückung schändet den Menschen und die göttliche Weltordnung, denn das erste Gebot der biblischen Schriften ist das Gebot der Arbeit, das dem ersten Menschenpaar aus Gottes Mund verkündet wurde.

Die Amoralität der Kolonialpolitik besteht aber nun gerade darin, die Produk-lionskräfte eines Landes, eines Volkes zu binden, ihnen aus Konkurrenzfurcht Fesseln anzulegen. Diese Fesseln sind im Laufe der Jahrhunderte immer lockerer geworden, aber nur, wenn wir sie in ihrer ursprünglichen Enge sehen, kommen wir ihrem Sinn nahe. Das Grundprinzip der britischen Kolonialpolitik des 18. Jahrhunderts, niedergelegt in den Navigationsakten, bestand darin, der Kolonie jede Tätigkeit zu verbieten, an der das Mutterland nicht verdiente oder die es allein hätte ausüben können. Die Kolonie durfte nur für den Kolonialherrn arbeiten. Austausch von Rohstoffen und Halbfertigwaren zwischen den Kolonien war verboten, wenn die Waren nicht ein oder zweimal London passierten. Im englischen Unterhaus schrie der ältere Pitt auf:„England wird nicht dulden, daß in den Kolonien auch nur ein Hufnagel hergestellt wird!“ Jägern war es verboten, Pelze erlegter Tiere für eigene Mänteloder Mützenproduktion zu verarbeiten.

Das hat sich im 20. Jahrhundert langsamer geändert, als man vor Augen hat. Aber heute hat das Prinzip gesiegt, die Kolonialvölker zu einer eigenen Produktion zu erziehen, die Kolonialländer zu großen Absatzmärkten der Weltindustrie zu entfalten. Der Kolonialimperialismus überläßt den Natives alle Produktionen, die nur von Massen durchgeführt werden können, und beschränkt sich auf Ausbeutungsmethoden, die man von einem Luxushotel aus leiten kann. Er besetzt die Schlüsselpositionen eines Landes mit Vertrauensleuten, die womöglich der herrschenden Schicht des Landes entnommen werden und die er sich dienst-. bar macht, indem er sie mitverdienen läßt. Die Kolonialpolitik wird von Juniorpartnern des fremden Landes organisiert, aber immer so, daß sie dem fremden Lande nicht schadet. Ja, um dieser Politik jeden Schein des Kolonialimperialismus zu nehmen, werden die fremden Länder selbständig gemacht: sie werden Dominien, erhalten Selbstverwaltung, ja sie werden sogar „selbständig“ und kommen in die UNO, und ihre Verteidigung gegen fremde Angriffe, vor allem gegen konkurrenzierende Imperialisten einer anderen Nation obliegt dann den Vereinten Nationen.

Allen diesen Befreiungen liegt aber nun immer dasselbe Prinzip zugrunde: die neuen „freien“ Länder werden außenpolitisch und militärisch unter die Vormundschaft eines kolonialimperialistischen Mutterlandes gestellt.

Vor geradezu unlösbare Probleme hat aber Ostasien mit seinen Völkermassen die Kolonialmächte gestellt. Die Not war in China und Japan so groß, daß beide Länder Befreiung von jeglicher Kolonialausbeutung suchen mußten, um ihren Hunger zu stillen und ihre unabhängige industrielle Entwicklung zu fördern. Da stellte sich nun vor allem für Japan eine andere Form des Wirtschaftegoismus verhängnisvoll in den Weg. Japan ist seiner Form nach ozeanisch, es suchte Siedlungsland für seine Bevölkerung, Absatzmärkte und Produktionsmöglichkeiten in den ozeanischen Gebieten und in Amerika. Das Commonwealth und Amerika verschlossen aber auch ihre ganz oder relativ leeren Länder der asiatischen Einwanderung. Die antichinesischen und antijapanischen Einwanderungsgesetze von Australien und Amerika, mit steigender Sdü'rfe seit 1924 angewandt, das Verbot für Chinesen und Japaner, Siedlungsland zu erwerben, zwangen Japan, das mit dem Rücken zum Festland liegt, eine Kolonialexpansion in China zu suchen, um sich vor allem in Korea und der Mandschurei eine Produktionsbasis zu schaffen und die euramerikanischen Mächte aus dem chinesischen Produktionsund Konsumtionsmarkt zu verdrängen.

Japan lernte aber von jenen Mächten nicht bloß den Kolonialimperialismus, sondern auch die ungeheure, heute entscheidende Bedeutung von Wirtschaftsimperien. Die japanische Politik begriff, daß die sogenannte Befreiung von Kolonialgebieten durch Umwandlung eines jeden einzelnen Landes in einen „selbständigen“ oder sich selbstverwaltenden Staat Illusion ist, solange es den befreiten Völkern verwehrt ist, sich durch eine selbständige Außenpolitik den eigenen Schwerpunkten der modernen Produktionskräfte, der eigenen Marktbildung zuzuwenden. Solange England und Amerika, neuerdings Rußland, einen Haufen von Kleinstaaten verhalten, ihre ganze Wirtschaftspolitik nach diesen Großmächten zu orientieren, solange sie verhindert werden, sich selbst zu Großräumen zusammenzuschließen, ■ verbleiben sie außenpolitisch, militärisch, wirtschaftlich, kulturell in einem gebundenen Zustand. Denn die moderne Entwicklung hat gezeigt, daß die heutigen Produktionsmittel nur in großen Wirtschaftimperien zur vollen Entfaltung gelangen können.

Die Theorie der Uberwindung des bisherigen Nationalstaates und der Bildung von Wirtschaftsimperien, die aus föderierten Nationalstaaten bestehen, ist von meinem verstorbenen Freund und Lehrer Joseph Bloch geschaffen worden; schon zu Beginn dieses Jahrhunderts sah er voraus, daß das Recht aller Völker und Staaten auf eine volle und freie Entwicklung ihrer Produktionskräfte sowohl zum Ende der Kolonialpolitik wie zum Ende der europäischen Zwergstaaten und zur Bildung großer Wirtschaftsräume führen wird, die auch kulturell und religiös gemeinsame Merkmale besitzen, über eine relative Autarkie verfügen und große Marktbildungen gestatten, in denen unermeßliche Möglichkeiten enthalten sind.

Als solche Wirtschaftsimperien würden sich repräsentieren: 1. Das britische Commonwealth, das durch zollpolitische Vereinbarungen (wie sie 30 Jahre später in Ottawa getroffen wurden) imperialer Integrierung fähig werden sollte. 2. Das rassische Imperium. 3. Das panamerikanische. 4. Den vereinigten eurafrikani-schen Kontinent (ausschließlich aller britischen Besitzungen). Zu ihm gehören weder England noch Rußland oder gar Amerika, die alle ihre eigenen Imperien besitzen. 5. Das Imperium Ostasien.

Die Neugliederung der Welt in diese fünf Imperien ist im Werden und verspricht uns ein Jahrhundert des Friedens und des freien Schaffens — aber nur unter einer Bedingung: daß nämlich alle fünf Imperien zustande kommen. Wie ich es in meinem leider im Krieg fast restlos vernichteten Buch „Revolution der Weltpolitik“ (Prag-Paris 1939) dargestellt habe, kommt dem vierten Imperium, dem ostasiatischen, eine ganz besondere Bedeutung zu. Es bildet einen Schlußstein im Weltgewölbs, die Nabe des Erdrads. Damit aber dieses rollt, muß nun auch das letzte noch fehlende Imperium qeschaffen werden: Europa. Hier erweist sich das Vakuum eines Imperiums als furchtbare Kriegsgefahr, von der aus die ganze Welt mit Untergang bedroht ist. Ein europäisches Imperium kann allein Rußland gegen Amerika und Amerika gegen Rußland Sicherheit gewähren, ganz wie das Imperium Ostasien Rußland vom Osten und Amerika vom Westen aus unangreifbar gemacht hat. Die fünf Imperien bilden nämlich ein Weltgleichgewicht — auch dieses heute oft gebrauchte, nie recht verstandene Wort gehört zum Sprachmaterial der geschilderten Konzeptionen. Dieses Weltgleichgewicht wäre das Ziel einer wirklich schöpferischen Politik.

Wir kennen Napoleons testamentarische Weisheit: 21 ch versuchte Europa durch die Waffen zu einigen; man wird es in Zukunft nur durch Überzeugung einigen können.“ — Die Überzeugung einer kontinentaleuropäischen Einheit ist aber im Werden; möge sie nicht zu spät kommen! Jedenfalls wird der kommende vereinigte europäische Kontinent in Asien keinen Kolonialimperialismus mehr vorfinden und Afrika zu einem gleichberechtigten Teil Europas machen, zu dem auch der Vordere Orient gehört. So bedeutet also das neue Ostasien für den Anhänger der Imperienpolitik nicht Furcht und Schrecken, sondern die Bestätigung alter Hoffnungen und einen Aufruf zur Verantwortung. In diesem Sinne die Gegenwart verstehen, heißt Herr über die Wogen werden, die den Unwissenden mit Untergang bedrohen.

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