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Von Columbus bis Pandit Nehm

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.Wenn England sich auf eine andere Seite legt, empfindet es die Welt. Der Weckruf der britischen Drommeten geht rund um die Erde, alle Völker lauschen und blicken über das Ärmelmeer. Ihr Führervolk ist in Bewegung und strebt zu Neuem, Unerprobtem.“ In diesen Worten eines bekannten österreichischen National-ökonomen spiegelt sich die ganze überragende Geltung des britischen Imperiums und zugleich das Mißbehagen, das im Jahre 1910 die noch kaum merkbaren Spannungen innerhalb dieses Makrokosmos in der politischen Welt jener Tage auslösten. Diese Beunruhigung hat sich inzwischen zu einer dauernden und tiefgreifenden Unruhe verstärkt. Denn das britische Weltreich befindet sich in einer umfassenden Umgestaltung, die von manchen Beobachtern geradezu als Auflösung begriffen wird. Die Ländermassen, die im Laufe von drei Jahrhunderten unter das Zepter des britischen Königs getreten waren, streben, dieser Vorherrschaft entwachsend, nach neuen politischen Daseinsformen und zum Teil haben sie sich schon aus diesen Bindungen gelöst. Der britische Dreizack ist in die Hände der amerikanischen Vettern übergegangen, gegen deren Flotte die berühmte Royal Navy in hoffnungslose Unterlegenheit geraten ist. Kapitalmangel und Schwund der Initiative im Mutterland tun ein übriges. Mit England steht und fällt aber das die außereuropäische Welt seit 400 Jahren beherrschende Kolonialsystem: das Ende des Kolonialzeitalters ist gekommen.

Als die Karavellen der spanischen und portugiesischen Konquistadoren an ihren Zielen Anker warfen, brach die „Neue Zeit“ an. Das auf den europäischen Kontinent zurückgedrängte Abendland durchbrach seine maritime Umgrenzung und legte den Grund zu einer Vormachtstellung, die durch Jahrhunderte andauerte und das Gesicht der Welt völlig veränderte. Das Kolonialzeitalter, das mit Columbus und Vasco da Gama begann und dessen Ende wir jetzt miterleben, ordnete nach und nach alle Küsten, Länder und Erdteile der Welt Europa unter. Der Wettkampf um die außereuropäischen Herrschaften entschied nicht nur über das Aufsteigen und Absinken der direkt um sie rivalisierenden, meerzugewandten westeuropäischen Staaten. Es beeinflußte durch seine Wechselwirkungen die ganze europäische Geschichte. Kanada und Indien wurden auf den europäischen Schlachtfeldern gewonnen und verloren. Ungeheure Reichtümer strömten aus dem wechselseitigen Verkehr zwischen Europa und seinen überseeischen Besitzungen in die Alte Welt, von der kostbaren Fracht der spanischen Silberflotten angefangen bis zu den Dividenden der Randmines und der Rubber-Plantagen. Auch Österreich trachtete, sich im Zeichen und im Zeitalter des Merkantilismus in diesen Wettlauf einzuschalten, indem es unter Joseph II. an der Delagoabai und an der indischen Westküste Niederlassungen errichtete und für kurze Zeit auch die Nikobaren besetzte. Seit dem Boxerkrieg bis zum Zusammenbruch besaß schließlich die Donaumonarchie eine exterritoriale und militärisch besetzte Konzession in Tientsin. Und noch nach der jungtürkischen Revolution befaßte man sich an maßgebender Stelle mit der Absicht, Österreich-Ungarn eine Einflußsphäre am kleinasiatischen Golf von Adana zu sichern.

Die koloniale Expansion nahm an Ausdehnung und Stärke noch im ganzen 19. Jahrhundert zu, indem der größere Teil Asiens und der größte Teil Afrikas in die europäische Einflußsphäre einbezogen wurden. Bis schließlich nach dem ersten Weltkrieg die Landkarten mit den Farben einiger weniger europäischer Machte bedeckt waren: Rußland stand an der Behringstraße, über die es seine Vorposten aus Amerika zurückgezogen hatte. Das zweite französische Kolonialimperium behauptete einen selbständigen und gesicherten dritten Platz. An der Spitze lag Großbritannien, mit seinen früheren Mitbewerbern, Holland und Portugal, nahe verbunden. Jeder vierte Bewohner der Erde war Untertan des britischen Königs.

Die Liquidierung der Vorherrschaft des weißen Mannes ist deshalb eng mit der erwähnten Auflösung des britischen Empires und seiner Umformung in einen übernationalen Bund selbständiger, politischer Partner mit wechselndem Schwerpunkte verbunden. Durch diesen Vorgang hat ganz Asien südlich des mongolischen Wüstengürtels seine „Mitte“ verloren. Ungeachtet der bedeutenden Veränderungen, die er bereits ausgelöst hat, steht dieser Prozeß noch in seinen Anfängen. Die durch Jahrhunderte statische Welt, des Ostens ist vom Mittelmeer bis zum Pazifik in geistige und kulturelle Bewegung geraten, und die Völker, die dort jetzt zu eigenem politischem und zu neuem nationalem Leben erwacht sind, machen ihre ersten Schritte auf einer sehr ungewissen Bahn. Vorläufig übt auf ihren Weg noch das überkommene Erb Europas Einfluß. Die indischen Staatsmänner etwa, in Oxford graduiert, haben im Abendland die Grundlagen zu ihrem politischen Denken erworben. Eine Generation, die diese Bindungen nicht mehr anerkennt, wird ihnen entwachsen, wie heute etwa bereits der englischen Staatssprache in Indien nur mehr eine Ubergangsdauer von 15 Jahren zugemessen wurde. Wie lange wird, im ganzen gesehen, diese Synthese eigenen und fremden Denkens in Asien wirksam bleiben und wie weit wird sich die künftige Entwicklung in den Rahmen der heute noch abendländisch geführten Weltgemeinschaft fügen? Welches Gesicht wird dieser Raum tragen? Das des Kommunismus oder jenes einer autochthonen

„Dritten Kraft“? Diese Umformung eines Erdteils, in dem vorläufig noch die alten Koloniälgrenzen der Europäer eine Vielfalt heterogener Nationen und Religionen überdecken, erfolgt zudem in einem Zeitpunkt, der diesen schwierigen Vorgang in die Mitte zwischen die beiden gegnerischen ideologischen Lager des Abendlandes stellt. Längs der Nordgrenzen der früheren westeuropäischen Kolonialbereiche läuft auch die uns bekannte Grenze, die, europäisch gesprochen, „Ost“ und „West“ scheidet, bis an das Gelbe Meer weiter. Jedes dieser beiden Lager wird von einem Vierhundertmillionen-staat geführt: dem kommunistischen China und der Republik Indien. -

Die Republik Pandit Nehrus kann im abendländischen Sinn als die Ordnungsmacht Asiens, als Nachfolgerin Großbritanniens in der Bewahrung der Pax asiatica gelten. An der linken Flanke durch den schwachen, aber vorderhand noch nicht offen umkämpften iranischen Staat gedeckt, in der Herrschaft über die indische Halbinsel mit dem widerstrebenden Pakistan geteilt, steht Indien nach Osten in den an China angrenzenden oder von dort infiltrierten und nach Indien gravitierenden Ländern gewissermaßen bereits in offenem Konflikt mit dem Kommunismus. Indien hat keinen Zweifel gelassen, daß es Hinterindien als sein politisches Vorfeld ansieht. Während die Lage in Burma politisch und: wirtschaftlich gespannt bleibt, hat sie sich in Malaya verschlechtert und ist in Indo-china zu einer Verlegenheit für die französischen politischen und militärischen Stellen geworden. Die Verdrängung der Holländer aus Insulinde war nach der Rückkehr der Engländer aus Indien und Burma unvermeidlich, und sie wird wohl in näherer Zeit von einem weitgehenden Desinteressement Frankreichs an Indochina gefolgt sein. Korea steht in Flammen und im Tibet beginnen neue kommunistische den alten theo-kratischen Einflüssen zu widerstreiten: Mao-Tse-Tung macht die formale Oberhoheit Chinas über das „Dach der Welt“ geltend. Uber Sinkiang, dessen Wirtschaft nach sowjetischem Muster organisiert wird und das bezeichnenderweise in dem russisch - chinesischen Abkommen nicht genannt wird, führt eine gefährliche Einfallspforte nach Kaschmir, um das, nicht zuletzt wegen seiner großen strategischen Bedeutung, ein die beiden indischen Sukzessionsstaaten Pakistan und Indien entzweiender Streit entstanden ist. Indien hält das zweigeteilte Pakistan nicht für einen genügend starken Wächter an diesem Tor in das gemeinsame indische Tiefland, zumal Pakistan auch von gewissen afghanischen Grenzansprüchen bedroht ist.

Indien hat aber aus der britisdien Erbschaft neben vielen Aktiven, die ihm die vorläufige Einrichtung eines modernen Staatsapparats ermöglichten, auch eine Reihe von wirtschaftlichen Hypotheken übernommen. Es muß fast die Hälfte seines Budgets an militärische Ausgaben wenden, wie sie die eben skizzierte unklare Lage erfordert. Indien ist eine der größten Gläubigernationen der Erde, da ihm Großbritannien aus dem letzten Kriege 960 Millionen Pfund schuldet, von denen es bis 1951 nur über 160 Millionen wird verfügen können. Auf der anderen Seite muß Indien jährlich wenigstens vier Millionen Tonnen Getreide einführen, um wenigstens den jetzigen kargen Lebensstandard des Großteils seiner Bevölkerung aufrechtzuerhalten. Und diese wächst alljährlich um fünf Millionen Köpfe! Amerika hat in, den beiden letzten Jahren, wie während des Krieges, das indische Nahrungsmitteldefizit ausgeglichen. Durch die Abwertung der an das Pfund gebundenen Rupie ist der indische Nahrungsmittelimport in ernster Gefahr. Das amerikanische Weißbuch über China weist mit besonderem Nachdruck darauf hin, daß keine chinesische Regierung imstande war, die Bevölkerung ausreichend zu ernähren —, ein warnendes Beispiel! Für Indien soll da der „Acheson-Plan“ Abhilfe schaffen.

Die' jüngsten Ereignisse“ im Femen Osten haben wieder die ganze Größe der Aufgaben und Verpflichtungen aufgezeigt, die auf Indien und seinem führenden Staatsmann Pandit Nehm lasten. Sein politisches Konzept läuft parallel mit jenem Soekarnos, des Präsidenten der neuen Vereinigten Staaten von Indonesien, mit dem ihn weitgehende Gleichheit der Interessen verbindet. Ein Pandit Nehm nahestehender Diplomat sagte darüber:

„Das Ziel Nehru wie Soekarnos Ist eine asiatische Völkergemeinschaft mit genügend betontem Nationalgefühl, das auch die Russen als asiatische Eindringlinge empfindet. Sie werden versuchen, Rotchina und Viet-Nam auf die gleiche Linie zu bringen, werden auch Japan nicht ausschließen, wollen es aber nicht wieder im Vorrang sehen.“

Pandit Nehm hat auf diplomatische Anerkennung Rotchinas gedrungen und durch seinen neuernannten Botschafter in Peking seiner Hochschätzung für das chinesische Volk Ausdruck gegeben. Er hat im Kampf um Korea die Initiative zu einer Vermittlung ergriffen, die, mit Achtung gehört, den Ablauf freilich nicht ändern konnte. Wenn aber Hoffnungen auf eine friedliche Entwicklung im gesamtasiatischen Raum noch gehegt werden dürfen, so knüpfen ie sich weitgehend an das Indien Pandit Nehrus.

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