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Goa, die Großen und die Kleinen

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Nun hat also auch Indien als letzte „unschuldige“ Großmacht eine militärische Aggression gegen ein anderes Land begangen. Der Angreifer hat gegen diese Beschuldigung eine Reihe von Argumenten vorgebracht, und die Sowjetunion, die ihm in der UNO dabei sekundierte, erklärte, daß der Einmarsch in Goa eine interne Angelegenheit, sozusagen ein Einmarsch Indiens in Indien, gewesen sei. Auf ähnliche Weise hat Egon Erwin Kischs Großmutter einmal geltend gemacht, daß Salzburg nicht die Hauptstadt von Salzburg sein könne, weil Prag nicht die Hauptstadt von Prag ist.

Kolonie oder Mutterland?

Indien behauptet weiter, daß es dringend und sofort die 650.000 in Goa lebenden Inder befreien mußte. Wir wollen gerne zugeben, daß diese 650.000 Inder Inder sind, obwohl Portugal nicht dieser Meinung ist, sondern daß jene seit 450 Jahren portugiesische Staatsbürger sind, und daß Portugal nach so langer Herrschaft dort das Recht in Anspruch nehmen könne, Goa portugiesisch zu nennen und Indien kein Recht mehr darauf habe.

Die UNO stellte sich (mit Ausnahme der Sowjetunion, Liberias — seltsam sind die Wege der Politk — und Ägyptens) auf den Standpunkt der Charta der Vereinten Nationen, daß Indien, welchen Anspruch auf Goa auch immer es erhebe, kein Recht habe, ihn mit anderen als den für Mitglieder der UNO vorgeschriebenen Mitteln durchzusetzen. Und das sind friedliche Mittel und nicht solche de militärischen Einmarsches und der Gewalt, deren Anwendung die UNO verpönt hat. Denken wir hierbei zunächst nicht an das üble Beispiel, das alle anderen Großmächte in dieser Beziehung bereit geliefert haben, und hören wir weiter auf Indiens Argumentation.

Es hat tatsächlich 14 Jahre lang vergeblich auf friedliche Weise von Portugal die Rückführung Goas in den indischen Staat verlangt. Einige Zeit, nachdem Großbritannien das indische Gesamtterritorium geräumt hatte, hat auch Frankreich seine Besitzungen in Indien aufgegeben. Nicht so Portugal. Es hat hierfür außer der oben erwähnten auch die Begründung geliefert, daß Goa — wie überhaupt jedes von Portugal beherrschte Gebiet — nicht als Kolonie anzusehen sei, da dort das gleiche Regime herrsche wie in Portugal selbst. Außerdem kenne Portugal als katholisches Land keine rassischen Vorurteile gegen Farbige. Das zweite trifft in gewissem Maße zu. In bezug auf das erste ist aber zu sagen, daß das in Portugal bestehende Regime nicht einmal den Bürgern portugiesischer Nationalität die Möglichkeit zu politischer Selbstbestimmung läßt. Daß ein solches Regime anderen und noch dazu geringer entwickelten Nationalitäten unter seiner Herrschaft kaum ein anderes als ein Kolonialregime sein kann, ergibt sich daraus ziemlich logisch. Aus Goa geflüchtete portugiesische Opponenten der gegenwärtigen Regierung erklären, daß in Goa seit 1953 bis 1957 dreitausend Einwohner aus politischen Gründen eingesperrt und daß 87 erschossen oder im Gefängnis zu Tode gefoltert worden seien.

Das sind die Dinge, die Indien gegen die portugiesische Herrschaft in Goa vorbrachte. Trotzdem hat Indiens Vorgehen die westliche Welt schwer schockiert. Und damit sind nicht nur jene Länder gemeint, die zwar kaum mehr als Kolonialmächte anzusprechen sind, die aber immer noch irgend etwas in dieser Hinsicht zu verlieren haben und es — zumindest nicht auf solche Weise wie Portugal — verlieren möchten. Wenn schon depossediert, dann nicht auf so unelegante Weise. Ernsthaft gesagt, werden die von verschiedenen dieser Mächte vorgebrachten Einwände gegen solche Methoden stark durch die Vorkommnisse im Kongo unterstützt, nämlich darin, daß ein nur gradueller Übergang von kolonialer zur Selbstverwaltung immer noch besser als ein Chaos ist.

Wir wollen jedoch im Falle Indiens von diesem Argument absehen. Hier ging es just ums Umgekehrte, nämlich, daß ein Land, das uns politisch nahezu reifer als alle anderen, uns eingeschlossen, erschienen ist, auch Menschen in Ländern, wie dem unsri-gen, dem kaum koloniale Interessen nachgesagt werden können, zutiefst enttäuscht hat. Keine Großmacht hat sich so wie Indien zu dem in der UNO-Charta enthaltenen Grundsatz der ausschließlich friedlichen Bereinigung von Gegensätzen zwischen den Staaten bekannt. Nun hat es das gleiche getan wie die andern vor ihm: die UdSSR in Ungarn, Großbritannien und Frankreich in Suez und zuletzt die USA in Kuba: militärische Intervention.

Kaschmir-Schlinge um Nehrus Hals

Gegen Indien muß hierbei insbesondere vorgebracht werden, daß es durchaus nicht all die Möglichkeiten in Anspruch genommen hat, die ihm für eine Regelung im Rahmen der UNO zur Verfügung standen, bis zu jenem Punkt, an dem es mit Recht hätte sagen können, daß es alle friedlichen Alternativen erschöpft habe.

Indien hat keine Untersuchung der von ihm als unerträglich dargestellten Verhältnisse in Goa durch UNO-Beamte verlangt. Es hat weiter keine von der UNO überwachte Volksabstimmung in Goa darüber verlangt, ob die 650.000 goanesischen Inder lieber von Nehru als von Salazar regiert werden und ob sie tatsächlich heim ins Reich kommen wollten. Wir wissen bis zum heutigen Tag nicht, was das Volk von Goa über diese Dinge denkt. Wir wissen nur, was die indische Regierung und ihre Propaganda sagen, was das Volk von Goa denkt. Und dieser Art von Information haben wir in der Vergangenheit zu mißtrauen gelernt.

Tatsächlich hatte Indien gewichtige Gründe, jene Alternativen nicht in Anspruch zu nehmen. Es wäre nämlich dadurch für Pakistan ein Anlaß geschaffen worden, die Berechtigung seiner Ansprüche auf Kaschmir, die von Indien bestritten wird, durch UNO-Kommissionen und Volksabstimmungen prüfen zu lassen. Das will Nehru, der seiner Sache hier gar nicht sicher ist, lieber nicht riskieren.

Ein noch viel stärkerer Grund hat jedoch Nehru dazu gebracht, die Vorstellung von Indien oder seiner Regierung als einer der Gewaltlosigkeit zu zerstören und uns annehmen zu lassen, daß Indien seine nationalen Interessen auch mit den Mitteln der Gewalt wahrzunehmen bereit ist: dieser Grund besteht in dem überaus starken indischen Nationalismus, dessen Vorhandensein die Welt lediglich über Nehrus kosmopolitisch-versöhnliches Verhalten vergessen hat. Der indische Nationalismus hat zwar einiges dazu beigetragen, damit Großbritannien sich entschloß, Indien aufzugeben, aber anscheinend doch nicht genug. Denn vielleicht gerade deshalb, weil diese Befreiung auf so friedlichem Wege vor sich gegangen ist, war diesem Nationalismus nie ganz wohl zumute: er fühlte sich nie richtig bekämpft. Und gerade in der letzten Zeit wurde sein nicht allzu starkes Selbstbewußtsein ganz besonders heftig lädiert: durch China. Die indischen Nationalisten mußten hilflos zusehen (mußten sie wirklich, Mr. Mennon?), wie China Indiens Verbindung zu Tibet kupierte, weite indische Grenzgebiete besetzte, Indien von anderen asiatischen Nationen, zum Beispiel durch Verträge mit Nepal und Burma, politisch isolierte und sogar durch Bereitschaft, mit Pakistan über Kaschmir zu verhandeln, Indiens Besitzrecht auf dieses Gebiet schwächte.

AH das hat zu immer stärkeren Angriffen sowohl asiatischer und afrikanischer als der indischen Nationalisten gegen Nehru und -eine versöhnliche Politik geführt. Der gegenüber der öffentlichen Meinung äußerst empfindliche Nehru entschloß sich daher — da er dem indischen Nationalismus nicht den anderen und militärisch strammeren Riesen China vorwerfen konnte, ihn auf das schwächliche portugiesische Kolonialregime in Goa zu hetzen.

Sicherlich ist dem weitsichtigen und mit der Gandhischen Tradition verbundenen Nehru diese Entscheidung höchst widerwärtig gewesen. Dennoch fiel ie ihm nicht allzu schwer, weil sie gegen den Kolonialismus gerichtet war, den niemand mehr zu verteidigen wagt.

Dennoch darf Indien sein Vorgehen nicht ohne Tadel und Verurteilung (etwas anderes wird kaum mehr zu machen sein) durchgelassen werden. Wendeil Wilkie hatte zu Recht vor mehr als 15 Jahren festgestellt, daß unsere Welt eine unteilbare Welt geworden ist. Das Schicksal ieder ihrer Nationen wirkt unmittelbar auf alle anderen und auf den Zustand de Weltfriedens zurück. Heute gilt da noch in viel stärkerem Maße, da der leichteste Konflikt die Tendenz hat, sich zu Weltkatastrophen auszuweiten. Alle jene, welche in den letzten Jahren das Gebot der UNO-Charta, Gegensätze nur mit friedlichen Mitteln auszutragen, gebrochen haben, beschworen damit alsogleich immer die Möglichkeit der ultimativen fürchterlichen allgemeinen Konflagranon zwischen den beiden großen Systemen herauf.

Kann man aber wegleugnen, daß die Welt heute in drei große Gruppierungen gespalten ist, von denen jede das Sein oder Nichtsein ihrer Völker von einem bestimmten politischen Axiom abhängig macht? Die Demokratien können und wollen sich eine gegenwärtige und künftige Existenz nicht ohne Behauptung gegenüber dem Totalitarianismus vorstellen. Die kommunistischen Regime glauben an eine Zukunft ohne Privatwirtschaft auf der ganzen Welt. Und die ehemaligen oder noch immer kolonial oder sonstwie abhängigen Länder glauben, daß es keine menschenwürdige Existenz ohne nationale Selbstbestimmung und ohne Abschaffung noch des letzten Restes von Kolonialismus geben könne. Alle drei Gruppierungen basieren aber heute physisch und übrigens auch in bezug auf die Verwirklichung ihres spezifischen geistigen und politischen Strebens darauf, daß sie sich der allen gemeinsamen ausnahmslosen Voraussetzung der Gewaltlosigkeit ihrer Beziehungen untereinander unterordnen. Nur so können sie hoffen, die von ihnen erstrebten Endziele — wenn auch vielleicht nicht in der von ihnen visualisierten Form, aber doch im wesentlichen zu erreichen — und nicht das Nichts atomarer Zerstäubung. Dieser Voraussetzung müssen sie sich alle unterwerfen. Was geschieht aber, wenn ein Land wie Indien 14 Jahre vergeblich versucht, ein für es wichtiges Anliegen durchzusetzen? Daß Indien gar nicht alle friedlichen Möglichkeiten in Anspruch genommen hat, ehe es beim Punkte „es geht nur mit der Gewalt“ anlangte, ist hier gar nicht so wichtig. Es darf nämlich unter keinen Umständen zu diesem Punkt kommen, er gilt nicht als Alternative, auch wenn das bedeutet, daß man eben vorläufig sein Anliegen nicht durchsetzen kann, sondern auf eine Veränderung in der Lage warten muß. die es dann schließlich doch ermöglicht. Die UNO-Charta schließt die Alternative der Gewalt für einzelne Länder ausdrücklich aus. Es mag etwas an ihr schadhaft und ab-änderungsbedürftig sein, da sie lediglich dazu da ist, den Status quo — auch einen zugegebenermaßen schlechten wie den des Kolonialismus, aber auch sofern jene nicht bereit sind, sich von sich -law. ,-W'tef orrrüeren, was in .feeiden,, Fällen schon vorgekommen ist. Im besonderen Falle Goas konnte Indien tatsächlich nicht geltend machen, daß es nicht vielleicht schon ziemlich bald zu entscheidenden Veränderungen in der Lage jenes Landes kommen wird, welche dann eine friedliche Einigung in der Goa-Frage ermöglicht hätten. Auch konnte Indien nicht erklären, daß es sehr geschadet hätte, wenn Goa erst später befreit worden wäre.

Der böse Geist von Belgrad

Immerhin hat sich bei dieser Angelegenheit wieder eines erwiesen: Daß es wiederum „nur“ eine Großmacht gewesen ist, die zu dem gefährlichen Mittel der Gewalt gegriffen hat. (Gefährlich hier weniger in seiner direkten Auswirkung und Reaktion des Angegriffenen — der hier viel zu schwach war —, sondern in der Wirkung auf das Verhalten anderer Völker, deren Infektion zu ähnlichem Handeln und damit der Gefahr der Kumulierung und Kettenreaktion von Konflikten. Daß nun auch die letzte verbliebene Großmacht zur Gewalt wie zu einem nur den Mächtigen entsprechenden Laster gegriffen hat, hat nahezu etwas Beruhigendes und Günstiges an sich. Erfassen doch die Machtlosen hierdurch viel leichter, daß ihrer die wahre Macht in dieser Zeit ist: die der Ungefähr-lichkeit für andere. Das gilt allerdings nur, sofern sie nicht von den Großen militärisch ausgerüstet und gegeneinander gehetzt werden. Es ist schon lange ein Beschluß der UNO-General-versammlung fällig, der sowohl die Beistellung als auch den Empfang von Kriegsmaterial von einer Macht an die andere verbietet. Hier fänden die Kleinen Gelegenheit, ihren Friedenswillen zu zeigen und zu beweisen, zumal den Großen noch immer keine bessere Ausrede einfällt, als daß sie den Frieden schützen müssen, indem sie für den Krieg rüsten.

Es hat keinen Sinn, sich auch bezüglich der Kleinen allzu stürmischen Hoffnungen hinzugeben. Nehrus Verhalten in Goa ist sicherlich nicht unbeeinflußt von der Kurzsichtigkeit der Belgrader Konferenzteilnehmer gewesen, die ihren Antikolonialisinus für wichtiger befanden als die Grundlage der Erreichung aller Gruppenziele: den Weltfrieden.

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