6654539-1959_21_10.jpg
Digital In Arbeit

Sieger ohne Waffen

Werbung
Werbung
Werbung

I.

Indien ist noch immer ein von Religion durchtränktes Land, wo es Wunder gibt und „Sadhus“, die Heiligen. Einer davon ist der Nachfahre einer tiefreligiösen uralten Brahmanenfamilie aus Ma- haraschtra, der Indien nach der Art der alten Propheten durchstreift: wandernd und predigend. Sein Name ist Acharya Vinoba Bhave. Der heute unerhört populäre politische Heilige hatte keineswegs daran gedacht, eine Bodenreformbewegung ins Leben zu rufen. Erst ein Bauernaufstand brachte ihn zu diesem Entschluß. Er war in allen Disziplinen der klassischen Hinduphilosophie unterrichtet worden, entschloß sich aber, vor dem Examen in den Himalaja zurückzuziehen, um dort die Erlösung zu suchen. Er fand sie aber nicht dort, sondern er begegnete vorher Mahatma Gandhi. Dieser lebte nämlich in dem Dorfe Wardha und dort blieb auch Vinoba bis zum Jahre 1940 in völliger Zurückgezogenheit. 1940 rief Gandhi seine Landsleute aus Protest gegen die Teilnahme Indiens am zweiten Weltkrieg zum „zivilen Ungehorsam“ auf. Vinoba wurde bestimmt, als erster — quasi symbolisch — das Gesetz zu brechen, eine Ver haftung zu provozieren. Bis 1945 wurde er dreimal wegen zivilen Ungehorsams verhaftet, kehrte aber dann in den Ashram (eine Einsiedelei) im Dorf Wardha zurück. Dort fegte er in einem Nachbardorf drei Jahre lang die Straßen als Protest gegen das noch immer allenthalben wirksame, obwohl von der Verfassung für bedeutungslos erklärte Kastensystem in Indien. Denn Straßenfegen ist eine Beschäftigung, zu dem nur „Unberührbare“ verurteilt sind.

II.

Vielleicht fegte er heute noch die Straßen, wenn nicht der Bauernaufstand in Haiderabad ihn aus der Einsiedelei herausgerissen und er daraufhin die „Bhudanbewegung“ gegründet hätte. Im Jahre 1951 kam es zu schweren Unruhen, bei denen die drangsalierten Pächter und und die hungernden Landlosen die Grundbesitzer überfielen, ermordeten und das Land aufzuteilen begannen. Die Paschaallüren verschiedener reicher Grundbesitzer, wie die des Nizarn von Haiderabad, haben das Maß zum Ueberlaufen gebracht. Der Nizam hatte als reichster Mann der Welt gegolten. 1948 wurde sein Staat der Indischen Union einverleibt, trotzdem blieb er noch unermeßlich reich. Von der indischen Regierung erhält er noch heute bedeutende Zuwendungen für seine 300 Frauen, die ihm die Moslems aus aller Welt schenkten. Vor der Unabhängigkeit Indiens gab er seinen Freunden große Ländereien. Sie kannten aber diese ebensowenig selbst wie früher die russischen Großfürsten ihre Güter gekannt hatten. Verwalter preßten die Pächter unbarmherzig aus. Die Steuereinnehmer, die „Zamindaris“, waren überall verhaßt. Die Bewegung schwoll schließlich zur alles mitreißenden Flut an. Regierungstruppen griffen ein. Es gab 3000 Tote, meistens unschuldige Dorfbewohner.

Vinobas Stunde war gekommen. Er wanderte ins Aufruhrgebiet. Man kann sagen: er kam, sah und siegte. Aber ohne Waffen. Er predigte Nächstenliebe und Gewaltlosigkeit. Es gelang ihm, allenthalben die Grundbesitzer zu überzeugen, daß sie den Landlosen einen Teil ihrer Besitzungen abzutreten hätten. Er argumentiert nicht mit ökonomischen Tatsachen, sondern mit einer höchst simplen theologischen Beweisführung, die vielleicht im Westen ein gewisses Lächeln erregt hätte. Das Land gehöre, so postuliert er, wie Luft und Wasser Gott. Wenn die Eigentümer einen angemessenen Teil, also ein Sechstel der Fläche, abträten, sei es nicht etwa ein Geschenk an die Armen, vielmehr ihre verdammte Pflicht und Schuldigkeit. Beide seien dadurch Gewinner, die Armen wie die Reichen. Die einen gewännen sittlich, die anderen materiell.

in.

In den letzten fünf Jahren hat die gewaltlose Bodenreform einen Aufschwung genommen, den niemand vorauszusagen gewagt hätte. In den letzten fünf Jahren hat Vinoba fast zwei Millionen Hektar von Grundbesitzern jeder Größenordnung zur Verteilung an landlose Bauern geschenkt bekommen, die ihn als „auferstandenen Gandhi“ bezeichnen und ihn wie einen „Sadhu"

verehren. Die Schenkungen werden an Ort und Stelle grundbücherlich registriert, die Neuverteilung später vorgenommen. Der Tagesanfall geschenkten Bodens betrug etwa 250 Acres (1 Acre = 4046 Quadratmeter). Nach der Beilegung des Aufstandes wollte Vinoba wieder in die Einsiedelei zurück. Die Regierung in Neu- Delhi lud ihn ein, sie schickte ein Flugzeug, das Vinoba nicht bestieg. Er legte die 1200 Kilometer zu Fuß zurück; täglich etwa 20 Kilometer. Unterwegs sammelte er 18.000 Acres Land. In etwa zwei Monaten erreichte er die Hauptstadt.

Acharya („Meister") Vinoba Bhave mit seiner Filgertruppe führt ein asketisches Leben. Alle sind wie er, und wie es Gandhi war, in selbstgewebte Baumwolltücher gehüllt. Sie hausen in Hütten, schlafen auf Matten auf dem Boden und suchen sich ganz mit den Armen zu identifizieren. Denn nur so mitzuleidend sei es möglich, anderer Schicksal zu verstehen. Die Nahrung ist denkbar einfach: Vinoba, schon wegen seiner Magengeschwüre, nimmt nur flüssige Nahrung zu sich, für die anderen besteht das Frühstück aus geschrotetem Getreide und Milch. Um halb vier Uhr morgens beginnt dann der Marsch, während dessen Land gesammelt wird. Wandern, pilgern, zu Fuß gehen — es sind Fortbewegungsarten, deren sich fast alle der 400 Millionen des indischen Subkontinents bedienen. Fahren ist fast allen Indern unerschwinglich. Unterwegs schließen sich Ratsuchende an. Jede Frage wird während des Gehens genau studiert und gründlich beantwortet. Abends um neun Uhr geht man zur Ruhe, am nächsten Tag beginnt das gleiche Tagewerk. Vinoba ist heute unerhört populär. Populär in einem anderen Sinne als in Europa. Der von Natur aus religiöse Inder verehrt ihn wie einen Heiligen — denn das ganze Leben Indiens ist von Religion durchtränkt.

IV.

1951 wollte Vinoba, als er von Haiderabad aufbrach, einen bloßen persönlichen Beitrag leisten. Heute ist er der unumstrittene Führer der großen Erneuerungsbewegung, deren jüngste Aktion „Gramdan“ heißt. Eine in ihrer Konzeption an das Urchristentum erinnernde Idee. Die Besitzenden aller Größenordnungen übereignen ihren Besitz Vinoba, der ihn zu gleichen Teilen wieder verteilt. 3000 Dörfer sind bis jetzt auf genossenschaftlicher Basis entstanden. Die zivilisatorischen Errungenschaften haben das Lebensgefühl der Einwohner gehoben, Hunger und Krankheit sind gebannt. Vinoba Bhave erstrebt die Dorfautarkie. Am liebsten würde er wohl, und damit eigentlich in Gegensatz zu Nehru stehend, die Geldwirtschaft durch Naturalwirtschaft ersetzen. Mit .Mißtrauen sieht er auf die in Asien wachsenden Riesenstädte, deren Hochhäuser heute bereits teilweise an die grauen Schluchten New Yorks erinnern und in denen der sippenverbundene Inder rasch wurzellos und zur Masse wird.

Mit der Gramdan-Bewegung plant er 600.000 Dörfer zu errichten, wo 85 Prozent der indischen Bevölkerung leben soll. Sein Endziel ist, 50 Millionen Acres zu verteilen (das ist ein Sechstel von Indiens fruchtbarer Bodenfläche, größer als Großbritannien). 50 Millionen Landloser bekämen dort das Existenzminimum. Im Dienste dieser Mission haben sich nun Inder aller Schichten zur „Jeevandam“-Bewegung zusammengefunden, die den Bhudan-Kreuzzug forcieren soll. Wohlhabende Inder geben ihre bisherigen Berufe auf, verzichten auf jeden persönlichen Besitz und schließen sich Vinoba an. Als Aerzte, Ingenieure und Anwälte stellen sie ihre Kenntnisse unentgeltlich zur Verfügung. Manche vorübergehend, manche dauernd. Einige haben europäische Universitäten besucht, andere amerikanische Kollegs. Es wäre falsch, sie als bloße Helfer zu bezeichnen, ihre ganze Dynamik und die absolute Zielsetzung verleiht ihnen etwas von glühender Hingabe.

V.

Der „Acharya", dürr und weißhaarig, mit der gleichen unscheinbaren, weit auf die Nase gerutschten Nickelbrille, wie sie Gandhi besaß, spricht neben zehn indischen Sprachen auch noch englisch, französisch und arabisch. Er versteht aber auch die Sprache der Armen. Und Armut und Hunger bedeutet in Indien etwas völlig anderes als in Europa. Hunger ist dort etwas, das gerade noch vor dem Sterben trennt. Dabei ist er von tiefer Skepsis gegen die materielle Geisteshaltung erfüllt, doch auch nüchterner Betrachter. Die Welt ist so, wie sie ist, und nichts liegt ihm ferner, als sie durch eine rosarote Brille zu sehen. Vor allem weiß er selber, daß durch Budhan allein das Problem der Bodenreform in Indien gar nicht gelöst werden kann. Indes hofft er mit seiner Bewegung, die sozialen Auseinandersetzungen, die zu blutigen Aufständen geführt hatten, auf eine friedliche Basis zu bringen und einer unblutigen Besitzverteilung den Weg zu ebnen.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung