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Hirten auf dürren Feldern

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Rückflutung von politischen und gewerkschaftlichen Kadern, wie auch von Technikern und Facharbeitern in den jungen Staat erfolgt — 45.000 zusätzliche algerische Arbeiter In Frankreich. In den letzten Wochen beobachtete man ein sprunghaftes Anwachsen der Zuwanderungen, deren tägliche Durchschnittszahl mit 1000 angegeben wird. Den bisherigen Rekord erreichte der Monat Februar, der eine Zuwanderung von 65.000 Algeriern aufweist. Dieses Phänomen findet seine Erklärung einerseits in den wirtschaftlichen Schwierigkeiten des neuen Staates und anderseits im raschen Ansteigen der algerischen Geburtenziffer.

Angesichts derartiger Bedingungen kann es niemanden wundern, daß Paris hinsichtlich seiner Einwohnerzahl zur dritten algerischen Stadt — nach Algier und Oran und vor Constantine! — geworden ist.

Ein neues Lumpenproletariat

Das Gros der in südfranzösischen Häfen und Flugplätzen täglich eintreffenden Kontingente rekrutiert sich aus Menschen ohne jede berufliche Ausbildung, die dazu noch meist Analphabeten sind und die zwangsläufig in den unbeliebtesten und schmutzigsten Arbeitsbereichen Beschäftigung finden: bei der Müllabfuhr, der Straßenreinigung, bei Erdarbeiten und im Straßenbau und schließlich als Handlanger im Baugewerbe. Erfahrungsgemäß weisen diese Zuwanderer starke Assimilie-rungsschwierigkeiten durch ihre Sitten, Traditionen und Uberzeugungen auf. Sie bleiben ungeachtet der Tatsache, daß rassische Diskriminierungen in Frankreich wegen einer langen Kolonialerfahrung weniger in Erscheinung treten als in vielen anderen Ländern ein Fremdkörper, dem weite Bevölkerungsschichten mit Vorurteilen und Mißtrauen begegnen. Das ist fraglos eine nicht zu unterschätzende Voraussetzung für Zwischenfälle und Gesetzesübertretungen. Dazu kommt die durch die Art der Arbeitsleistung und ihre Vergütung bedingte soziale Schlechterstellung der Algerier im Vergleich zu den qualifizierten französischen und anderen ausländischen Arbeitern. Da der seit jeher bestehende freie Reiseverkehr zwischen Algerien und Frankreich durch das Abkommen von Evian bestätigt wurde, strömen die Nordafrikaner praktisch unkontrolliert In die französische Metropole ein, ohne Rücksicht auf die besonders in den Großstädten herrschende angespannte Wohnraumlage. Das zwingt viele der Zuwanderer, in unbeschreiblich primitiven Elendssiedlungen, In sogenannten „Kanisterstädten“, im Weichbild von Paris und anderer Städte als „Lumpenproletariat“ kaum menschenwürdig zu hausen.

Die einzige staatliche Kontrolle, die sich Frankreich für die Zuwanderung auch nach Evian gesichert hat, ist die ärztliche Untersuchung, die in den Hafenstädten — vor allem in Marseille und Port-Vendres — ausgeübt wird. Wer mit anstek-kenden Krankheiten behaftet ist, deren Durchschnittszahl von der Presse mit zehn Prozent angegeben wird, muß wieder nach Algerien zurückkehren. Natürlich bedeutet dies, sozial gesehen, eine Härte, die von einem Teil der französischen Linkspresse und auch von algerischen Publikationsorganen wie „Le Peuple“ und „Alger Republicain“ zum Anlaß scharfer Kritiken und Proteste genommen wird. Um die illegale Einwanderung einzudämmen und vielen nordafrikanischen Zuwanderern nutzlose Investitionen für die Uberfahrt zu ersparen, haben sich die französischen und algerischen Behörden darüber geeinigt, daß in Zukunft die ärztliche Kontrolle auf algerischem Bodenerfolgen soll. Dabei kann es sich aber nur um eine Zwischenlösung handeln, da die auf ihre Souveränität bedachte Regierung Benbella darauf besteht, die ärztlichen Untersuchungen in ihre eigene Regie zu nehmen, während Frankreich wenig Neigung zeigt, eine Maßnahme, die die Gesamtheit der französischen Bevölkerung tangiert, Ausländern zu überlassen.

Algerische Gestapo

Eine starke Beachtung fand eine am 16. Februar in Aix-en-Provence unter dem Vorsitz des Botschafters der Algerischen Volksrepublik, Bou-alera Moussaoui abgehaltene Ver-

sammlung, an der rund 2000 Algerier teilnahmen. Dabei ergriff ein Mann namens Ait El Hocine das Wort, der sich selbst als „politischer und militärischer Chef in Frankreich“ bezeichnete. Die algerischen Arbeiter müßten — so sagte der Redner — weiterhin Militanten der revolutionären Sache ihres Landes sein. Sie sollten die Vereinigung der algerischen Arbeiter in Frankreich als einen Zweig der algerischen Befreiungsarmee FLN ansehen. Nach diesen Erklärungen entbrannte in der französischen Öffentlichkeit erneut die Diskussion über den Nutzen oder Schaden einer algerischen

Schattenpolizei auf dem Territorium Frankreichs, deren rücksichtsloses Terrorregime aus den sieben Jahren des Algerienkrieges noch in aller Einnerung ist. Rechtsoppositionelle Zeitschriften — vor allem „Rivarol“ und „Minute“ — berichteten über Leichenfunde in Paris und Lille, bei denen es sich um summarische Exekutionen der FLN-Polizei handeln soll. Menschenentführungen seien überdies an der Tagesordnung, „als ob man sich in der Bundesrepublik Deutschland befinde“!

Um das algerisch-französische Verhältnis keiner zusätzlichen psychologischen Belastung auszusetzen

— die Verstaatlichungspraxis des ' jungen, sich auf den Sozialismus berufenden nordafrikanischen Landes hat ohnehin viel böses Blut ausgelöst — galt bisher das Problem der Gesetzesverletzungen durch algerische Arbeiter als tabu. Unter dem Druck der öffentlichen Meinung läßt sich jedoch das ernste Problem nicht mehr verschweigen. Mit der Veröffentlichung der Statistiken haben die französischen Behörden jetzt zum Ausdruck gebracht, daß man gewillt ist, nach Mitteln und Wegen zu suchen, um den Zustand der wachsenden Unsicherheit in den Großstädten zu beenden.

Der durch die periodische Dürre berüchtigte Nordosten Brasiliens hat sich zu einem entscheidenden Kampffeld der „Kubanisierung“ Lateinamerikas entwickelt. Ein Blick auf die Landkarte genügt, um die Angriffsspitzen zu erkennen. Nicht umsonst hat Carlos Prestes sein Hauptquartier nach Recife, der Hauptstadt Pernambucos, verlegt. Strategische Gründe leiteten ihn; nebenbei konnte er dadurch nach außen hin die Trennung seiner linientreuen Partei von der von Peking geführten dokumentieren. Im Grunde genommen liegt dazu kein Anlaß vor, denn beide Richtungen zeigen hier das wilde Gesicht jenes Angreifers, der um ein Haar mit Kuba einen Weltbrand entzündet hätte: Chruschtschow.

Im Schatten dieser Bedrohung kann es für die heute ganz Brasilien beherrschende Agrarpolitik nur einen Gedanken geben: Durch ein mustergültiges Beispiel der Agrarreform dem Kommunismus den Wind aus den Segeln zu nehmen. Dafür bedarf es nicht erst der Experimente, denn es gibt Vorbilder. Die bedeutendsten sind von Bischöfen

ins Leben gerufen worden. Die Ehrentafel des brasilianischen Episkopats muß verlängert werden, und darauf ist auch das Hilfswerk der deutschen Katholiken eingezeichnet. Der Kreuzzug, den vor Jahren Dom Helder Cdmara, Weihbischof von Rio de Janeiro, gegen die „favelas“, die Elendshütten auf den Hügeln der ehemaligen Bundeshauptstadt, unternahm, ist weltbekannt.

Und dann Dom Jose Delgado, Erzbischof von Fortaleza. Es ist schon einige Zeit her, seit der Korrespondent dieses Blattes die Ehre hatte, mit ihm in ein Gespräch zu kommen. 1952 Erzbischof von S. Luis (Staat Maranhäo), begann er seine Agrarreform, als die Leiden des Nordostens noch nicht vor das Weltforum gedrungen waren.

Schwerer Anfang

„Wie fingen Sie an?“

„Nur zwei Instrumente standen mir zur Verfügung: unsere Bauernbank und mein Katechismus der Erde. Weiter nichts. Vom Vater Staat...“ Seine Handbewegung genügte.

„Ist dieser Katechismus eine Art kleiner Leitfaden, wie ihn die Kommunisten hier verbreiten?“

„Sehr gut. Nur habe ich aus dem Minuszeichen ein Plus gemacht. Das Abc-Buch beantwortet Grundfragen. Zum Beispiel: Was für Schätze überließ Gott dem Menschen? Der wichtigste Schatz ist die Erde. Ist nicht das Geld noch wertvoller? Nein, ohne Arbeit ist Geld nichts wert. Außer den Naturschätzen braucht der Mensch Erziehung. Er

muß lesen und schreiben lernen, seinen Lebensunterhalt finden, lernen, mit Gott zu leben, mit seinen Mitmenschen zusammenzuarbeiten, einen Beruf auszuüben. Wenn er das Land bebaut, muß er wissen, wie. Die letzten Fragen zielen alle auf die Genossenschaft; sie bringt die Lösung aller Schwierigkeiten den Bewohnern, die bis jetzt nur das billige Werkzeug der Latifunda-rios waren, den Sklaven gleich, wie es hier bis vor 75 Jahren noch die Neger waren.“

„Es war gewiß schwierig, die Ländereien zu erwerben?“

„Schwierig insofern, als diese sehr oft ohne Besitztitel waren, besonders bei Land, das die Eigentümer verlassen hatten. Es gelang mir, zusammen mit einem Agronomen der Regierung, allerdings in einer fast unzugänglichen Zone, 13.000 Hektar zu kaufen. Mit 20 Familien begann ich.

Nach und nach errichtete ich in der Einöde notdürftig eine Schule, eine Kapelle, eine Art Kooperative. Wir bauten einen zwölf Kilometer langen Straßenanschluß und einen Landeplatz für Lufttaxis. Und schließlich maßen wir jeder Familie Land aus. Vor zwei Jahren nahmen wir, unterstützt mit kirchlichen Geldern, mit 3900 Hektar und 126 Familien unsere zweite Etappe in Angriff. Eines Tages bot uns ein edelmütiger Grundbesitzer seinen Besitz von 35.000 Hektar, von 1300 Familien bewohnt, billig an. Wir griffen zu. Sofort gründeten wir eine Genossenschaft. 800 Landarbeiter erwarben sich eigenes Land. Das war die dritte Etappe. Schon prüfen wir ein neues Angebot mit 2500 Familien auf 50.000 Hektar. Unsere Erfolge in Maranhäo, Früchte der Konferenz der brasilianischen Bischöfe, ermutigen uns.“

Bischof gegen Bau einer Kathedrale

Der Mann, der den ersten zündenden Funken gegen die Bauernliga warf, die mit blutigen Revolten aus dem Nordosten ein zweites Kuba machen möchte, war ein einfacher Priester in Rio Grande (Nord), P. Eugenio Sales. Vor 14 Jahren begann er mit der Gründung einer Landwirtschaftsschule.

Zum Erzbischof von Natal erwählt, war seine erste Anordnung, vom Bau einer Kathedrale abzustehen. „Es ist jetzt wichtiger, die

Kathedrale der Seelen zu errichten, denn jede Seele braucht einen Körper, der ernährt sein will.“ Seine Kriegserklärung an die Ignoranz war ebenso originell. „Agrarreform allein genügt nicht.“ Sein Unterrichtsdienst durch Radio umfaßt heute fast den ganzen Staat Rio Grande; alt und jung werden unterrichtet; die 1328 Radioschulen zählen 25.000 Schüler.

Der „Generalstab“ in der Hauptstadt Natal dirigiert auch die

35.000 Gewerkschaftler der Bauernsyndikate, Träger der Agrarreform. Die Großgrundbesitzer sabotieren sie, wo sie nur können.

Wer mit eigenen Augen gesehen hat, wie diese Bischöfe es verstehen, das Angesicht dieser geplagten Erde zu erneuern und des Menschen Seele und Leib zu reformieren, der erkennt hier in ganzen Seiten das päpstliche Wort von „Mater et Magistra“ in Wahrheit verwirklicht.

Die Schatten von „Dreizehnlinden“

Aus den Erfahrungen dieser Unternehmungen wird sich dann auch ergeben, auf welche Weise die Agrarreform hier durchgeführt werden soll. Wahrscheinlich wird der endgültige Weg abseits der westlichen Tradition und der kommunistischen Kolchose verlaufen. Auf jeden Fall wird es hier ohne eine starke Führung nicht gehen. Doch wehe, wenn ein solcher Familienbetrieb in die Hände der Bürokratie fällt! Solche Melkkühe sind gesucht. Die Tragödie der vor drei Jahrzehnten im Hochland des Staates S. Catarina von Minister Tholer großartig aufgezogenen österreichischen Kolonie „Dreizehnlinden“ — sie lag einen Tagesritt von meiner Farm entfernt — haben die Brasilianer gerne vergessen.

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