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Sommermier Alptraum

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Die Reisezeit dieses Jahres Bat Frankreich — und vor allem i^i der Hauptstadt — alle Rekorde gebrochen:( 75 Prozent der Pariser haben in deri Monaten Juli und August die dampfende Benzinhölle verlassen, um sich an den Gestaden des Atlantik und des Mittelmeeres zu tummeln oder in einemr verträumten Dörfer im Inneren des Landes friedlich zu angeln, den Mondschein von Maubeuge zu betrachten, an der Loire zu zelten ...

Die meisten Restaurants haben geschlossen und die noch geöffneten Kaffeehäuser schließen vorzeitig ihre Tore. Nur die Rund 15.000 Taxis der Stadt scheinen ihre Aktivität nicht vermindert zu haben, wenn auch die Chauffeure bitter über stundenlanges Warten klagen. Die Touristen, die — wie alljährlich — auch in diesen Hundstagen in Schwärmen über die französische Metropole hergefallen sind, bieten den Taxifahrern keine rechte Kompensation für die Entflohenen, da ein großer Teil der Holländer, Angelsachsen, Skandinavier und Deutschen mit dem eigenen Wagen gekommen sind, während die „echten Entdecker“ wie eh und je mit entfalteten Stadtplänen zu Fuß über die Quais der Seine und die Avenuen bummeln.

Für den Durchschnittsfranzosen sind die Sommerferien eine geheiligte Zeit, in der er sich nicht gerne stören läßt und im Allgemeinen nur schwer aus der Ruhe zu bringen ist. Die Zeitungen nehmen auf diesen Nationalcharakter, so weit wie möglich, taktvoll Rücksicht und geben dem unverbindlichen „Fait divers“ mehr Raum als den politischen Problemen, in deren Wesen es bekanntlich liegt, Leidenschaften zu entfachen, die Laune zu verderben und schlaflose Nächte zu bereiten.

In diesem Jahr freilich vermag es weder der seitenlang erörterte Freitod einer amerikanischen Filmschauspielerin, noch der neue Vorstoß der Sowjets in den Weltraum von Dingen abzulenken, die den Ferienreisenden den Appetit nehmen und den zu Hause Gebliebenen Sorgenfalten auf die Stirn prägen. Es sind nicht' die unklaren und höchst unerfreulichen Entwicklungen Her in Algerien, die die Franzosen unmittelbar erregen, zumal die meisten von Anfang an nicht an ein perfektionisti-sches Funktionieren der ausgeklügelten Abkommen von Evian glaubten. Vielmehr bereiten ihnen Dinge Kopfschmerzen, die teils mit dem Exodus der Europäer aus Nordafrika, teils mit der erneut bedrohlich gewordenen wirtschaftlichen und sozialpolitischen Entwicklung zusammenhängen. Mehr und mehr beginnt man den Druck der in die Metropole gekommenen Pieds noirs zu spüren, die in den meisten Gesprächen mit dem „Mann auf der Straße“ als lästige Fremdkörper apostrophiert werden.

Immer stärker gehen die Bauernunruhen und die „Selbsthilfemethoden“. der Agrarier aus der Bretagne den Städtern auf die Nerven. Immer deutlicher wird man sich dessen bewußt, daß die Wirtschaftsstabilität der letzten vier Jahre in naher Zukunft ein Ende finden dürfte, wenn nicht in letzer Minute ein Wunder geschieht, so wie es einst von Poincare und später von Antoine Pinay vollbracht wurde. Man hat den Glauben an die Heilkraft neuer Theorien allgemein verloren, und eine Umfrage ergab, daß nur noch vereinzelte Unentwegte vom „runden Tisch“ der Sozialpartner im Oktober eine Heilwirkung erwarten. Die Arbeitnehmer sprechen — sowohl durch den Mund der Gewerkschaften, als auch in individuellen Unterhaltungen — klar aus, daß es ihnen nicht an einer „Koordinierung der Interessen“ und auch nicht an einer Gewinnbeteiligung gelegen ist, sondern einzig und allein an einem Lohnstatus, der ihren Lebensstandard zu sichern oder zu erhöhen vermag. Die Theorie des vierten Wirtschaftsplanes beginnt in der öffentlichen Meinung empfindlich zu wackeln.

Man macht sich keine Illusionen mehr darüber, daß generelle Preissteigerungen in massivem Umfang in den kommenden Monaten zu erwarten sind und daß inflationäre Entwicklungen, die dem Lande in der Periode vor 1958 beschieden waren, erneut ihre drohenden Schatten vorauswerfen. Finanzminister Giscard d'Estaing war in diesen Tagen gezwungen, zuzugeben, daß die Lebenshaltungskosten in einem Jahr um sieben Prozent gestiegen sind. Er weiß auch mit Sicherheit, daß die Preise im Baugewerbe um zehn Prozent anziehen werden und macht sich keine Illusionen darüber, daß die Auswirkungen der kürzlich erfolgten Stahlpreiserhöhung im Bereich der Konsumgüterindustrie nicht auf sich warten lassen werden. Alarmierend war auch die Mitteilung des Finanzministers, daß die Preise für Gas, Elektrizität und Kohle, wie auch die Tarife der Eisenbahn und der Post nicht vor Abschluß des Jahres erhöht würden. Logischerweise folgert man aus dieser amtlichen Erklärung, daß eine allgemeine Preissteigerung ab 1. Jänner 1963 erwartet werden müsse. Auch das Gespenst der Steuererhöhung ist bedrohlich am Horizont aufgetaucht. Und es kann niemand sagen, wie das französische Budget ohne neue Einkünfte fortfahren kann, Investierungen in Algerien zu tätigen, den Hunderttausenden von Repatriierten materiell zu helfen, ihnen, vor allem, Wohnungen zu verschaffen und die berühmte „Abschieckunqs-waffe“ zu realisieren. Man sieht außer der Steuerschraube kein anderes wirksames Mittel.

In diesem Zusammenhang verzeichnet man mit einigem Interesse die zunehmende Lustlosigkeit des amtlichen Frankreich an der bei der Realisierung des Waffenstillstandes feierlich, verkündeten französisch- algerischen Partnerschaft. Ein Teil der Presse spricht offen aus, daß die an die Thesen Fidel Castros gemahnenden Grundsätze Ben Bellas der Regierung einen willkommenen Vorwand bieten könnten, die Finanzanstrengungen Frankreichs gegenüber dem neuen algerischen Staat zu beenden. Während Ben Bella in Interviews mit kommunistischen Presseorganen Angriffe gegen den „Neokolonialismus“ führt, spricht Paris immer unverhohlener von „Verletzungen der Abkommen von Evian“. Psychologisch und faktisch empfindet man es in Paris als durchaus normal, wenn dem politischen „Degagement“ ein finanzielles folgen würde, das den Vorteil hätte, die für Algerien vorgesehenen Investitionen zugunsten der Repatriierten in Frankreich zu verwenden. Mit der Weiterung de Gaulles, der provisorischen Exekutive den erbetenen Kredit von 36 Milliarden zur Verfügung zu stellen, könnte ein neuer Weg beschritten worden sein, der vielleicht eine radikale Wandlung nach sich ziehen wird. Als Brüche des Evian-Abkommens nennt man in Frankreich die folgenden Beispiele: Die GPRA und die provisorische Exekutive unterwarfen sich widerstandslos dem Politbüro. Die Wahlen wurden verschoben. Man entdeckt plötzlich eine ungewöhnlich hohe Zahl entführter oder inhaftierter Algier-Franzosen und gibt einem militärischen Zwischenfall, bei dem vier Legionäre Opfer der ALN wurden, eine auffällig starke Publizität, die nicht absichtslos ins Feld geführt werden dürfte.

Eine Pariser Zeitung hält es für möglich, daß de Gaulle das Parlament vorschicken könnte, dem algerischen Staat grundsätzlich Kredite zu verweigern. Damit bekäme das Kabinett ein „Alibi“ bezüglich früherer eingegangener Engagements und wäre vielleicht in der Lage, auf die Erhöhung direkter Steuern am Vorabend der neuen Wahlen für die Assemblee Nationale zu verzichten, die fraglos eine äußerst schwere Belastung für das Regime der Fünften Republik bedeuten würde.

Bei allen diesen Überlegungen wird aber vielfach übersehen, daß die totale Abwendung Frankreichs von Algerien Ben Bella, beziehungsweise seine Nachfolger an der Macht des neuen Staates in Nordafrika, nolens volens zwingen könnte, zu einem Hilfsersuchen bei- gewissen ausländischen Quellen Zuflucht zu nehmen.

Niemand sollte sich einer Illusion darüber hingeben, daß Moskau auf eine solche Gelegenheit schon lange wartet. In den letzten Wochen gab es bereits einige Anzeichen dafür, daß der Kreml einige seiner Satelliten, die sich als philanthropische Idealisten tarnten, versuchsweise das Terrain sondieren ließ. Solchen Tests kann bald ein psychologischer Schock folgen, dem die enttäuschten und verbitterten Araber allzuleicht erliegen könnten. In diesem Stadium einer beängstigenden Entwicklung fällt nicht allein Frankreich, sondern der gesamten freien Welt die Verantwortung zu, die Zahl der Moskauer Satelliten nicht um den Faktor Algerien zu vermehren.

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