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Halbmond und Anker

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„DER HALBMOND ÜBER DEM MITTELMEER!“ Dieser Ruf erregte einst das Abendland. In Rom sank man in die Knie und betete, Venedig rüstete gleich anderen italienischen Seestädten seine Flotten und auch der Kaiser in Wien blieb von solchen Nachrichten nicht unbewegt. Vorbei die Zeit... Dennoch: den gelernten Historiker in der Gruppe deutscher und ' österreichischer Journalisten, die der Einladung der staatlichen Turkish Maritime Lines zur Eröffnung ihrer neuen Linie Triest—Istanbul gefolgt waren, drängten sich wohl in einer besinnlichen Stunde Vergleiche zwischen Vergangenheit und Gegenwart auf. Da fuhren sie mit dem Motorschiff „Ege“ die Adria hinunter, warfen in Brindisi noch einmal Anker, um dann gegen Sonnenaufgang abzudrehen und nach einem kurzen Aufenthalt im Piräus die Aegäis zu erreichen — Name und Ziel des Schiffes („Ege“ ist das türkische Wort für Aegäis) zugleich. Und überall, wo die rote Fahne mit dem weißen Halbmond und dem Stern sich zeigte, da grüßten auch die Fahnen der anderen seefahrenden Nationen. Die rot-weißgrüne Trikolore auf dem italienischen Frachter senkte sich ebenso zum gegenseitigen Gruß wie das Sternenbanner des amerikanischen Kriegsschiffes. Und selbst der mürrische Lotse im Kanal von Korinth — doppelt mürrisch vielleicht, weil er als Grieche kein ausgemachter Freund des aufgehenden Halbmondes ist — versagte als Seemann dennoch dem weißen Schiff und seinem Kapitän nicht seinen Salut.

„EGE“ IST EIN STATTLICHES SCHIFF. Erst vor einem Jahr lief sie von einer deutschen Werft vom Stapel. Ueber hundert Mann zählt ihre Besatzung, vom Kapitän bis zum alle zwei Stunden wechselnden Posten am Bug des Schiffes — letzte Erinnerung an den Mann im Mastkorb der alten Segler. Sechshundert Passagieren bietet sie in drei Klassen Raum. Tief unten im Bauch des Schiffes lagern aber noch Tonnen von Fracht, diesmal sind es zufällig einige Dutzend Rollen Rotationspapier aus österreichischen Papierfabriken. Während einige österreichische Tageszeitungen gerade ihren Umfang durch einige Zeit einschränken mußten, dampfen sie Istanbul entgegen. Drei Klassen hat, wie gesagt, die „Ege“. Der Mitteleuropäer tut jedoch gut daran, auf eine Fahrt in der „Holzklasse“ zu verzichten. Schlafsäle sind nun einmal, ungeachtet des verhältnismäßig günstigen Tarifes, nicht das höchste der Gefühle bei einer Ferienreise in den Orient. Wer aber etwas tiefer in die Tasche greifen kann - oder ein Jahr länger Groschen auf Groschen legt —, der ist unter Halbmond und Anker — so das offizielle Kennzeichen der staatlichen türkischen Schiffahrtslinien — wohl geborgen. (Ueber die Tarife orientiert die Agentur in Triest, Via Borsa 3). An zwei Dingen allein mag der „Effendi“ erkennen, daß sein Schiff einen fremden fernen Heimathafen hat. Da sind einmal die dem Mitteleuropäer unbekannten Spezialitäten der türkischen Küche -das Schwein ist auch nach Atatürk nach wie vor vom Speisezettel verbannt. Und dann sind auch noch die türkischen Stewards da, flinke, dienstbeflissene Burschen, die in ihrem Auftreten eher den Ordonnanzen aus einer Offiziersmesse gleichen als der unpersönlichen Nonchalance westlicher dienstbarer Geister. Auch werden sie nicht mit „Herr Ober“ oder „Ca-meriere“ 'gerufen, sondern hören auf Achmed oder Ibrahim. Auch dreimal in die Hände klatschen ist seit Karl Mays Tagen noch nicht aus der Uebung gekommen

DIE ERSTE BEKANNTSCHAFT MIT DER TÜRKEI wird schon lange, bevor bei Izmir die hohen Berge Anatoliens auftauchen, an Deck gemacht. Eine Gruppe türkischer Journalisten ist um die Gäste bemüht und gerne bereit, Auskunft über ihr Land zu geben. Allein die Konversation ist nicht einfach. Ein paar Brocken Französisch und Englisch sind nicht ausreichend für einen ernsten politischen Disput. Der untersetzte grauhaarige Chefredakteur einer Istanbuler Wirtschaftszeitung, ist als einziger deutsch sprechender Türke auf dem Schiff, ein vielbegehrter Gesprächspartner. Er muß vielen

Fragen standhalten. Seine Antworten sind höflich, klug und zurückhaltend. Die absolute Loyalität seinem Land gegenübjr im Gespräch mit Ausländern könnte manchem mitteleuropäischen — um nicht gleich zu sagen österreichischen — Journalisten als Beispiel dienen. Langsam entsteht im Frage- und Antwortspiel mit den türkischen Kollegen eine Grundskizze des politischen Lebens der heutigen Türkei.

„EIN DENKMALSOCKEL BLIEB LEER1, Sie werden ihn in Istanbul sehen!“ Der türkische

Kollege, der diesen Satz auf französisch sprach, meinte den Marmorblock für das vorgesehene Inönü-Standbild in Istanbul. Nahe dem Denkmal für Kemal Atatürk sollte auch sein Kampfgefährte und Nachfolger Ismet, der nach seinem Sieg über die Griechen bei Inönü diesen Namen annahm, ein Denkmal erhalten. Der Marmorblock war schon zugehauen und aufgestellt, da verlor Inönü und die von ihm geführte Republikanische Volkspartei, die über mehrere Jahrzehnte schrankenlos geherrscht hatte, 1950 alle Macht an die aufstrebende Demokratische Partei des heutigen Staatspräsidenten Celal Bayar und seines dynamischen Ministerpräsidenten Adnan Menderes. Einem autoritären Regime war der Uebergang zur Demokratie gelungen. So schien es lange Zeit, doch die Macht ist eine große Versucherin... Vor allem, wenn man sich, dank eines unbeschränkten Personenwahlsystems auf 495 von 550 Abgeordneten verlassen kann. Anfangs waren es sogar noch mehr. Die dreißig Männer Ismet Inönüs, der“ trotz hohen Alters die Zügel der alten Atatürk-Partei nicht aus der Hand gegeben hat, saßen ziemlich hilflos im Parlament zu Ankara. Doch dann ereignete sich die große Sezession von 31 Demokraten. Kleine Parteien kommen hinzu. So die sogenannte Millet-Partei, die zwar nur vier Abgeordnete derzeit im Parlament zählt, aber durch Massenkundgebungen von sich reden macht. Sie, wie die als Freiheitspartei konstituierten demokratischen Sezes-sionisten, sind als von der Praxis enttäuschte ehemalige Weggenossen der derzeitigen Regierungspartei anzusehen.

ES WÄRE NICHT NUR ANMASSEND, ES WÄRE AUCH TÖRICHT, nach vier Tagen Fahrt auf einem türkischen Schiff und 48 Stunden Aufenthalt in Istanbul als Experte für die verschlungenen Wege der Politik eines fremden und fernen Landes aufzutreten. So viel darf allerdings gesagt werden: die derzeitige Regierungsequipe zeigt auch für einen gut gesinnten flüchtigen Beobachter offensichtlich Abnützungserscheinungen. Man mag sie „Aufbauschwierigkeiten“ nennen — ein Wort, das der gewandte Gouverneur von Istanbul und Schüler Wagner-Jaureggs, Prof. Dr. Gökay, gebrauchte — oder schon massiver von einer Krise der betont etatistisch geführten Wirtschaft reden. Die hohen Auslandsschulden werden auch von den Regierungsangehörigen nicht verschwiegen, das türkische Pfund läuft Gefahr, einer galoppierenden Inflation zu verfallen. Widersprüche regen sich nicht nur im Parlament, wo sie massiv niedergestimmt werden, sondern vor allem in der Presse. Besser gesagt: regten sich. Das neue Pressegesetz, das gerade während des

Aufenthaltes unserer Gruppe gegen alle Proteste beschlossen wurde, läßt jede allzu freimütige Kritik nunmehr zu einem nicht unbeträchtlichen Risiko werden. Recht ansehnliche Geldbußen, Gefahr der Einstellung des Blattes für eine bestimmte Zeit, Gefängnis bis zu drei Jahren .. . Unter solchen Bedingungen wägt man seine Worte schon doppelt und dreifach. Beseitigt man aber den Druck im Dampfkessel, wenn man die unangenehm zischenden Ventile schließt? Auch ein massives „Dampfablassen“, wie es die Ausschreitungen gegen die Griechen am 6. September in Istanbul waren — der Mitteleuropäer kennt die der Ablenkung des Volkszorns dienende Funktion solcher „Kristallnächte“ nur zu gut —, kann für einen sich zur freien Welt bekennenden Staat keine Lösung sein.

WIE GEHT ES WEITER? Lauert nicht verborgen sprungbereit der Kommunismus? Der fremde Beobachter kann die erste Frage nicht beantworten, glaubt aber die zweite verneinen zu dürfen. Selbst der heftigste Kritiker des gegenwärtigen Kurses von Ankara schloß mit dem Bekenntnis: „In der Außenpolitik sind wir mit Ministerpräsident Menderes einer Meinung.“ Und Außenpolitik ist für die Türkei stets Wache gegen Rußland. Heute genau so wie in den Tagen des Padischah.

ABSEITS DER POLITIK führt der Weg des fremden Gastes durch die Straßen von Istanbul. Oder sind es die Gassen Konstantinopels, durch die er geht, oder gar die Steine von Byzanz, die sein Fuß berührt? Wie die Kulturen von West und Ost, so überschneiden sich in dieser Stadt die großen Epochen der Geschichte. Wovon soll man sprechen? Vom Goldenen Horn mit seinen Brücken und Schiffen, von engen Gassen am Hafen, wo der Orient zu Hause ist, oder von dem Höhenrücken von Galata, wo der Westen wohnt? Von dem Besuch der großen Moscheen, vor deren Pforte es auch für den Andersgläubigen nicht der Aufforderung bedurfte, achtungsvoll die Schuhe von den Füßen zu lösen? Von der alten Feldschlange vor dem Serail, auf der zu lesen steht: ,,ie-dardus Raig hat mich gössen in Graz A. D. 1684.“ Bilder und Namen steigen im Gedächtnis auf: Zenta, Belgrad, Passarowitz! Nein: sprechen wir nur von der Hagia Sophia, der Kirche der göttlichen Weisheit. Es war eine der weisesten Maßnahmen Kemal Atatürks, daß er seinerzeit den Stachel aus den Herzen der Christen zog, indem er das als Moschee dienende alte Heiligtum zum Museum dekretierte. Noch hängen die • Koransprüche in dem Kuppelraum, der seinesgleichen nicht hat. Aber wehe! Ueber dem einstigen Platz des Hochaltars haben amerikanische Archäologen in den letzten Jahren das Bild der Mutter Gottes unter alter Tünche wieder freigelegt. Und von einer Seitenwand blickt der Pantokra-tor wieder wie vor 500 Jahren, als an der Kerkaporta sich mehr als das Schicksal einer Stadt entschied.

DER ABSCHIED IST NAHE. Ein letzter Dank an die Gastgeber, ein „Auf Wiedersehen!“ zu den österreichischen Freunden im College zu St. Georg, jenem nicht zu vergessenden vorgeschobenen Posten Oesterreichs am Bosporus. Eine leichte Brise hat sich aufgemacht. In ihr bläht sich noch einmal der Wimpel mit dem Halbmond und dem Anker. „Es wird Sturm geben“, bemerkt jemand. Spricht er vpm Wetter oder haben seine Worte einen doppelten, das Land und seine nahe Zukunft betreffenden Sinn? Im Interesse des gastfreundlichen türkischen Volkes wie auch der freien Welt möchten wir hoffen, daß es sich nur um eine meteorologische Prophezeiung gehandelt hat.

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