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Hassan und Ahmet in Wien

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Wenn meine Frau und ich gelegentlich bei rotem Licht über eine Kreuzung gehen und der Verkehrsposten nach schrillem Pfeifen drohend näherkommt, dann werden wir trotzdem nicht einmal verwarnt, geschweige, daß wir Strafe zahlen müßten. Wie man das macht? Ganz einfach: Man wendet sich mit höflichem Lächeln dem Verkehrsposten zu und sagt dann etwa: „Aber lieber Herr Inspektor, was wollen Sie denn? Da sollten Sie erst sehen, wie die Leute in Istanbul über die Straße gehen! Ich weiß schon, daß man das hier nicht darf, aber deshalb brauchen Sie sich wirklich nicht aufzuregen!"

Dann geht der Wachmann mit unsicheren Schritten wieder zu seiner Kabine zurück, ohne etwas anderes als hilflose Worte gestammelt zu haben. Voraussetzung ist natürlich, ' daß man obige Worte nicht in deutscher, sondern in türkischer Sprache gesagt hat.

Die gleiche Methode verwenden meine jungen orientalischen Freunde, wenn sie zu irgendeiner Prüfung auf der Universität oder Technik antreten müssen, bloß mit der Variante, daß sie deutsch reden. Falls sie dies mit einer hinreichenden Zahl von' Grammatik- und Aussprachefehlern tun, dann zeigt der Prüfer größtes Entgegenkommen und springt auch dort hilfreich ein, wo es sich nicht bloß um Fragen der deutschen Grammatik handelt.

Die gleiche Hilfsbereitschaft zeigen nahezu alle Straßenpassanten dem Ausländer gegenüber, der eine Straße nicht findet oder über irgend etwas nicht Bescheid weiß.

Und doch scheint die Praxis nicht nur aus eitel Wonne zu bestehen, wie zahlreiche Publikationen in den verschiedensten Blättern darlegen. In seriösen und weniger seriösen Redaktionen läßt der Umbruchredakteur seine Leute tief in den Setzkasten greifen, um uns Anklagen in zollgroßen Buchstaben entgegenzuhalten, weil wir den fremdländischen Studenten — man spricht von 11.000 — so unfreundlich entgegentreten. Es ist in der Tat ein Thema, das zur Publikation wie geschaffen erscheint. Aber wenn man dabei die bloße Sensationshascherei abzieht, bleibt manches übrig, was des Nachdenkens wert ist. Besonders, wenn man — wie der Verfasser — nach zehnjährigem, fast ununterbrochenem Aufenthalt im Orient nach Oesterreich zurückgekehrt ist und seine Heimat in vielen Dingen wieder neu kennenlernen mußte.

Wie bitter schwer dies war, kann man erst verstehen, wenn man bedenkt, daß zehn Jahre weit mehr als das Resultat von 10 mal 365 Tagen darstellen. Ein Jahrzehnt im Orient vermag alle bisherigen Lebensgewohnheiten in ein neues, unbekanntes Licht zu rücken. Es läßt manches erkennen, was früher außerhalb des eigenen heimatlichen Gesichtskreises lag, und bringt es mit sich, daß man jene Probleme, die das Aufeinandertreffen von Ost und West implizite mit sich bringt, von beiden Seiten her betrachten lernt. Hier in Mitteleuropa muß den Besucher aus dem Orient eine gewisse Hilflosigkeit befallen, wenn er sich — um bloß einige Beispiele herauszugreifen — dem bis ins letzte durchorganisierten Verkehr, den wissenschaftlich ausgeklügelten Ladenschlußzeiten und der erstaunlichen Tatsache gegenübersieht, daß die Preise fix sind. Er fühlt sich — in den Geschäften und von den Plakatwänden — von einer Reizüberflutung bedroht, die größtenteils aus weiblichen Reizten besteht. Die Frau aber lebt im Orient — und dies trotz vieler propagandistischer Dementis — noch immer verborgen. Wohl stillt eine Araberin ihr Kind bisweilen in der Straßenbahn von Kairo, aber sie lächelt niemandem freundlich entgegen, wenn er sich bei ihr in einem Geschäft Unterhosen oder einen Hut kauft.

Das Tempo des Lebens und sein geregelter Ablauf imponieren dem Orientalen irgendwie, da er dergleichen nicht kennt, aber die Früchte europäischen Fleißes schätzt. Und ebenso, wie viele Europäer die Orientalen als „faul" hinstellen wollen, weil sie nicht täglich, stündlich und minütlich in der Tretmühle stehen wollen, betrachten sie uns im allgemeinen mit jenem verwunderten Staunen, das in • der kirchlichen 1 erminologie „admirandum, sed non imitandum“ heißt.

In Mitteleuropa haben die Leute „keine Zeit". Sie denken in Minuten, wo der Orientale in Tagen mißt — falls er es überhaupt tut. Der Schreiber dieser Zeilen erfährt noch immer fast täglich an sich selbst eine verwunderte Art von Erstaunen, wenn er den bis ins letzte ausgefüllten Stunden- und Lebensplan seiner Bekannten betrachtet und ihn mit seinem eigenen Tagesablauf vergleicht.

Die Orientalen haben deshalb Zeit, weil sie etwas Derartiges nicht kennen. In einer Umgebung aber, die eine Arbeit nur deshalb rasch zu Ende führt, um Zeit für eine zweit ė zu finden (und dazwischen noch eine dritte vorzubereiten), kommt er sich verlassen vor. Aehn- lich verlassen, wie sich mutatis mutandis ein alleinstehender Oesterreicher in Kairo, Damaskus, Amman oder Istanbul fühlt: von Menschen umgeben, die seine Muttersprache nicht verstehen, sondern als unverständliches Mißtönen empfinden, andere Sitten besitzen, einer fremden Religion und einer im Grunde unbekannten Lebensgemeinschaft angehören. Diese Fakta mögen bedauerlich sein, stellen aber gleichzeitig die Conditio sine qua non jedes Aufenthaltes innerhalb eines fremden Kulturkreises dar. Guter Wille allein — selbst wenn er vorhanden wäre — genügt nicht, um derart essentielle Schwierigkeiten einfach aus dem Wege zu räumen.

Ueberdies fehlt dem Mitteleuropäer eins: jene — hier stock ich schon — „brüderliche“ Einstellung zum Nächsten, die einen Orientalen im Autobus seine Knie an die des Nachbarn lehnen läßt, ihn aus seiner oft nicht ganz sauberen Wasserflasche trinken heißt und ihm abends sein bescheidenes Lager zur Verfügung stellt, um selbst irgendwo auf dem Boden zu schlafen. Der Europäer ist zu sehr Einzelmensch, Individuum.

Orientalische Studenten klagen nämlich nicht nur über mangelnden Kontakt mit Oesterreichern, sie finden auch, daß diese untereinander keine solchen Freundschaften pflegen, wie sie es gewohnt sind! Einige Oesterreicher — Mitteleuropäer also — werden niemals zu einer derart unauflöslichen Einheit verschmelzen können wie eine Gruppe von Orientalen.

Aus dieser Sicht betrachtet, stimmt auch die vernichtende Kritik, die jeder Morgenländer unserer „Gastfreundschaft" ausstellt. Vielleicht stimmt sie auch objektiv gesehen, wenn man bedenkt, wie oft wir „nicht damit gerechnet“ oder „gerade leider nichts zu Hause haben“. Wenn man aber irgendwo im Orient einen Bekannten unerwartet besucht, dann kann es einem niemals passieren, daß man nicht einmal zum Ablegen aufgefordert oder gleich unter der Tür abgefertigt wird — es sei denn, der Hausherr ist nicht daheim. Sonst wird man auf jeden Fall genötigt, eine Kleinigkeit zu sich zu nehmen oder bis zur nächsten Mahlzeit zu bleiben. Und falls der Gastgeber merkt, daß sein Besucher müde und abgespannt ist, wird er ihn auffordern, sich eine Stunde lang niederzulegen.

Darum fühlt der Fremde sich fremd bei uns. Darum wird ihn vielleicht auch das Heimweh befallen. Das Heimweh nach seiner Familie, die alle Verwandten umfaßt und ungleich enger aneinandergekettet ist als bei uns, nach den heimatlichen Sitten und Bräuchen, nach dem stetigen Sonnenklima der Sommermonate. Er fühlt sich so fremd, wie wir seine monophone orientalische Musik empfinden, die uns trotz ihrer melodiösen und rbythmischenitUnterschiede als einheitlich — nämlich schwermütig und unverständlich — vorkommt.

Hier aber kann man andererseits das Gastland für allfälliges, wenn vielleicht auch verständliches und berechtigtes Heimweh seiner Besucher kaum verantwortlich machen. Begreiflicherweise wird kaum ein Fremder zugeben, an Heimweh zu leiden — es sei denn in jenen Fällen, da es dekorativ wirkt —, sondern seinen ganzen Ehrgeiz dareinsetzen ein möglichst perfekter’Mitteleuropäer zu sein, ja: immer schon gewesen zu sein.

Ein anderes Kapitel sind die Sprachkenntnisse. Wenn man oft erlebt hat, mit welcher Sorglosigkeit ein Student nach Wien, Graz oder Leoben fährt, ohne auch nur ein einziges Wort Deutsch zu verstehen, dann wird man sich nicht wundern, wenn der Betreffende in Schwierigkeiten kommt. Zumal dann, wenn manche meinen, sie könnten Deutsch gleichsam im Vorübergehen erlernen und bei einem selbstverständlichen Mißerfolg allen anderen schuld geben, nur nicht sich selber. Wer aber ins Ausland — nicht bloß auf Ferien, sondern zum Studium — fährt, muß die fremde Sprache selbstverständlich beherrschen. Es fiele bestimmt keinem Oesterreicher ein, etwa nach Kairo an die El-Azhar-Universität zu fahren, wenn er nicht Arabisch in Wort und Schrift beherrscht.

An sich besteht an unseren Hochschulen für alle fremdsprachigen Hörer die Pflicht, eine Prüfung in Deutsch abzulegen, doch kann man aus den zweifelhaften Kenntnissen derer, die hierbei positive Erfolge aufzuweisen hatten, unschwer darauf schließen, mit welcher Genauigkeit die betreffenden Bestimmungen gehandhabt werden.

Auch jene ausländischen Studenteninspektoren, die sich um den Fortgang ihrer Schützlinge zu kümmern hätten, nehmen ihre Aufgabe mehr freundschaftlich als ernst.

Was die Motive angeht, die einen orientalischen Studenten veranlassen, außerhalb seiner Heimat zu studieren, so sind sie verschiedener Natur. Ein Teil von ihnen kommt tatsächlich, wie wir es so gerne hören, um zu Füßen der Alma mater zu sitzen, andere aber entstammen bloß Kreisen, in denen es für schick gilt, an einer europäischen Universität oder Technischen Hochschule zu studieren und ein deutschsprachige« Diplom (und eine ebensolche Frau) heimzubringen. Es sind nicht immer die besten Kreise, es sei denn, man wollte die Höhe ihres Bankkontos zum Maßstab nehmen. Manch einer findet auch keinen Platz an seiner heimatlichen Hochschule, weil er die Aufnahmeprüfung nicht bestanden hat. Hier aber braucht er keine abzulegen. (Selbstverständlich wird er in einem Gespräch diesen Grund niemals zugeben, sondern statt dessen davon sprechen, daß ihn der gute Ruf unserer Hochschulen angezogen habe.) Andere kommen wieder hierher, weil die Lebenskosten im Vergleich zu anderen Ländern relativ niedrig sind.

So stellt sich ein guter Teil derer, die den Weg in unsere Heimat finden, als negative Auslese dar: Oftmals lebenslustige Söhne reicher Eltern, die mit 2000 bis 3000 S monatlich nicht im entferntesten auskommen, semesterlang ihre Hochschule nur von außen sehen, aber sämtliche Nachtlokale gut kennen.

Selbstverständlich sind nicht alle von der geschilderten Art, doch scheint es für einen Durchschnittsmenschen schwer (und auch etwas riskant), darüber eine genauere individuelle Unter suchung anzustellen. Es ist nur schade, daß dann alle Fremden aus dem Orient — denn von Schwierigkeiten westeuropäischer Studenten hört man wenig — an jener Last mittragen müssen, die ihnen ihre eigenen Landsleute aufgebürdet haben.

Ist es unbillig, wenn das Gastland von seinem Besucher eine gewisse Anpassungsfähigkeit erwartet und verlangt? Der Orientreisende wird nolens ' volens spießgebratenes Hammelfleisch verzehren, wird die glühende Hitze ertragen lernen und es auch in Kauf nehmen müssen, daß man ihn auf Schritt und Tritt zu Übervorteilen sucht. Nur hier im Zentrum unserer gut geölten Fremdenindustrie steht man augenscheinlich nach wie vor auf dem Grundsatz, daß „immer der Kunde recht hat“.

Der Schreiber dieser Zeilen hält für seine orientalischen Freunde die Tür stets offen. Er kennt ihre und seine eigenen Fehler und ist aus diesem Grunde bescheiden geworden. Außerdem kann er sich des Gedankens nicht erwehren, daß neben echter Menschlichkeit auch die kommerzielle Gastlichkeit unserer fremdenverkehrsliebenden Heimat mitspricht, die es liebt, ihren Hunger nach Devisen und Weltgeltung an ausländischen Studenten zu stillen.

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