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St. Georg am Goldenen Horn

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In gewisser Beziehung ähneln Jubiläumsbetrachtungen jenen Nachrufen, die man am Grab „teurer Verblichener“ hält: die Wirklichkeit verklärt sich bis zur \erzerrung, und jeder Zuhörer weiß von vornherein, daß alles gleichsam nicht so ernst gemeint ist. So zieht man also von dem Gesagten 50 oder auch 75 Prozent ab und gibt sich mit dem Bewußtsein zufrieden, etwas Erbauliches gehört zu haben.

Im österreichischen Kolleg Sankt Georg am Goldenen Horn denkt man über diese Dinge anders. „Nur keine Uebertreibungen“, sagte der Direktor der Anstalt, Superior Ernst R a i d 1, zu einem Journalisten. „Berichten Sie Tatsachen und lassen Sie jede Schönfärberei. Sie können sicher sein, daß der Artikel trotzdem spannend wirdl“ Hier sind die Tatsachen:

Im Jahre 1882 erwarben Lazaristen das ehemalige österreichische Militärspital und Gefängnis zwischen dem Galataturm und dem Goldenen Horn und errichteten eine fünfklassige Volksschule nebst einem Kindergarten. Das war zu Zeiten des Sultans Abdul Hamit II., des „Beherrschers aller Gläubigen“ ...

Soll man erzählen, daß die Barmherzigen Schwestern der Mädchenschule neben dem Unterricht im Balkankrieg Verwundete pflegten, das osmanische Weltreich zerfiel und nach dem ersten Weltkrieg der türkische Freiheitskrieg unter Atatürk begann? Das Kolleg blieb vom Wandel der Ereignisse nicht unberührt: die große österreichische Kolonie bestand nicht mehr, Oesterreich wie die Türkei — die Verbündeten des ersten Weltkrieges — schufen auf den Trümmern einer geborstenen Welt einen neuen Staat.

Fünf Jahre lang war die Schule der Schwestern wie die der Patres auf Befehl der Ententemächte geschlossen, dann aber ging die Arbeit wieder weiter. Bis der zweite Weltkrieg ausbrach und die Türkei ihre diplomatischen Beziehungen zu NStDeutschland abbrechen mußte. Im August 1944 schloß das Kolleg seine Tore: die Schwestern und Patres, die eine Rückkehr nach der Heimat abgelehnt hatten, gingen für 16 Monate in die Internierung nach Mittelanatolien. Glaubt man es, daß diese Zeit allen Internierten, unter denen sich auch der Rest der österreichischen Kolonie befand, in bester Erinnerung ist? Die türkische Regierung, die einfachen Leute aus dem Volk wußten wohl zwischen den politischen Erfordernissen und „privater“ Sympathie zu unterscheiden; es ging allen, den Verhältnissen angemessen, sehr gut.

1947 eröffnete das Kolleg einige Klassen, die Zahl der Schüler betrug etwa 200 in beiden Schulen. Heuer sind es weit über 1100, davon mehr als 1000 Türken! Nur etwa 25 Oesterreicher befinden sich darunter, der Rest verteilt sich auf Jugoslawien, Griechenland, Persien und Deutschland.

Durch die verschiedenen Maßstäbe der Karten in den Atlanten hat man sich wider besseres Wissen daran gewöhnt, die Türkei als kleines Land zu betrachten. Eine Frage an die Schüler des Internates, in welchem Regierungsrat Pater Pruzcinsky 150 Schüler betreut, wo sie denn daheim seien, läßt jeden fremden Besucher staunen. Manche fahren drei Tage mit der Bahn, bis sie Istanbul erreichen, haben vier

Tage mit dem Expreßdampfer der Schwarzmeerlinie hinter sich, kommen von der russischen Grenze, aus dem Baumwollgebiet Adana, vom syrischen Grenzgebiet, der Steppe um den Großen Salzsee/ aus Smyrna — kurz, aus fast allen Vilayet (Ländern) der türkischen Republik. Manche haben noch nie im Leben Schnee gesehen und lassen die weiße Herrlichkeit erstaunt zwischen den Fingern zergehen, wenn es in Istanbul einmal schneit.

Blonde Tscherkessen sind es, dunkelhäutige Kurden, über deren Lippen selbst das Türkische ungefüg rollt, schlanke und gewandte Griechen (türkischer Nationalität), die aber nicht etwa nur die Handelsakademie bevölkern, anatolische Bauernburschen, die zum erstenmal in ihrem Leben nicht auf der Erde, sondern in einem Bett schlafen; Armenier, Lasen vom Schwarzen Meer...

Die ganze Türkei gehört zum kulturellen Einzugsgebiet des österreichischen Kollegs, und ein Teil der internen Schüler wohnt weiter, als es der Entfernung Wien—Istanbul entspricht.

Diese bunte Menge wird in einem bzw. zwei vorbereitenden Jahren von geschulten Fachkräften so weit geführt, daß sie nachher dem Unterricht in deutscher Sprache folgen kann. Weiß man, was das bedeutet? Zwischen den turkmongolischen Sprachen und der indogermanischen Sprachenfamilie gibt es keine Brücke, nicht die leiseste grammatische Aehn- lichkeit. An die 30 Stunden Deutsch steht in diesem ersten Jahr auf dem Lehrplan, eine gewaltige Aufgabe für Schüler wie Lehrer!

Denn nicht nur die Sprache, auch die Denkweise differiert erheblich von dem uns Gewohnten, die Sitten und Gebräuche sind gänzlich anders: zwei einander völlig fremde Welten stehen einander gegenüber. Das Morgenland mit seiner Orientierung zum mehr räumlichen (statt zum zeit-räumlichen) Denken und den sukzessiven, aggluttierenden Sprach- und Denkformen, dem Islam und der noch immer streng patriarchalischen Lebensform auf der einen, die mitteleuropäisch-österreichische Kultur auf der anderen Seite. Dies sind Schwierigkeiten, die über das an sich schon große sprachliche Hindernis weit hinausgehen.

Auch dieses aber ist groß genug. Während wir im Deutschen einen Nebensatz mit der entsprechenden Konjunktion beginnen, aus welcher der temporale, kausale oder konzessive Sinn schon ersichtlich ist, bevor man noch weitergesprochen hat, hört man im Türkischen den Inhalt des Satzes zuerst, bevor als letztes Wort die Konjunktion folgt.

Wenn Oesterreich an irgendeiner Stelle der Welt seiner Sendung als Mittler, seiner Mission gegen Osten, gerecht wird, dann hier, dann am Sankt-Georgs-Kolleg in Istanbul, Galata.

Hält man es für möglich, daß junge Türken mit Freude und Verständnis Grillparzer lesen, den „Teil“ und die „Iphigenie", daß ihnen moderne österreichische Novellisten, wie Emil Erti und Schönherr, Begriffe sind?

Der bekannte Reiseschriftsteller Pieter Vervoort schrieb in seinem Buch „Der bunte Teppich“ über eine Schulschlußfeier des Kollegs, welche er selbst erlebt hatte:

„Die Kinder sangen die türkische und danach die österreichische Nationalhymne, in der Programmfolge dann mehrere deutsche Volkslieder. Ein Schülerquartett musizierte . .. eine Kammermusik von Bach, ein heiteres Divertimento von Haydn und Mozarts Musik, gespielt von jugendlichen Liebhabern aus Anatolien; Werke in der Sprache europäischer Dichter von orientalischen Schülern vorgetragen; Schubert- Lieder, gesungen von Kindern aus Kleinasien! Glanzpunkt aller Darstellungen waren Szenen aus Goethes ,Faust' ... Selten hat mich die Kerkerszene so ergriffen wie auf dem österreichischen Schulhof zu Galata.“

Als Außenstehender kann man nur entfernt ahnen, was für eine ungeheure Mühe nötig ist, um die Schüler der Anstalt so weit zu bringen, kann aus eigenen Versuchen, Türken in die deutsche Sprache einzuführen, auf die Schwierigkeiten schließen, mit welchen Direktion und Professoren wohl täglich und stündlich kämpfen müssen. Meist sind es zivile Lehrkräfte, welche das Wagnis auf sich genommen haben, in der Türkei ihr pädagogisches Glück zu versuchen. Manchen gelingt es, nach dem fallweise raschen Wechsel zu schließen, augenscheinlich nicht, andere wieder werden durch die augenblickliche Wirtschaftskrise der Türkei sowie durch die schlechte Dotierung abgeschreckt.

„Etwa 600 bis 700 Türklira erhält eine Lehrkraft bei uns“, erklärt der Direktor der Anstalt mit resigniertem Achselzucken. ' „Sie werden vielleicht erstaunt sein, daß es so wenig ist. Aber die Schule kann nicht mehr zahlen, da sie sich — von indirekten Subventionen abgesehen — vollkommen selbst erhalten muß und zu einer Erhöhung des Schulgeldes eine Bewilligung des hiesigen Stadtschulrates nötig ist. Wir hoffen, daß sie uns heuer erteilt wird.“ Man überschlägt im Geist rasch die gehörten Zahlen: 600 bis 700 Türkpfund ergäben in Oesterreich einen mittleren Wert von 2100 bis 2500 Schilling!

„Ja, helfen denn die österreichischen Behörden nicht?“ fragt man erstaunt.

„Doch, einige unserer Lehrkräfte, für die wir subventioniert werden, wurden pragmatisiert, die anderen sind Vertragslehrer. Aber den überwiegenden Teil dieser Summe müssen wir für Abfertigungen auf die Seite legen, den Rest brauchen wir für die Anschaffung von Lehrbüchern fast völlig auf. Das Unterrichtsministerium tut, was es kann, aber die Möglichkeiten Oesterreichs sind eben beschränkt.“

Beschränkt. Es gibt, wie man erfährt, nicht einmal eine Krankenversicherung für die Professoren, die zum großen Teil mit ihren Familien hier leben.

Dabei hätte Oesterreich hier eine Chance, einmal wirklich etwas für seine Weltgeltung zu tun, hier, wo eine geachtete Institution seit siebeneinhalb Jahrzehnten menschliche, kulturelle und wirtschaftliche Werte pflegt. Mit Erfolg und ohne Defizit, als geistliche Privatschule.

Oder rechnet man etwa darauf, daß — hier wie daheim — in katholischen Privatschulen Selbstlosigkeit und Aufopferung zum guten Ton und zur Schulordnung gehören?

Weiß man in der Heimat, was eine Auslandsschule bedeutet? Erwin Rainalter erzählt in seiner Autobiographie von einer österreichischen Schule in Saloniki; sie und alle anderen sind verschwunden und vergessen. Wann wird man jemals einsehen, daß es nicht genügt, in den inländischen Zeitungen täglich von der alten Kultur und der Weltgeltung Oesterreichs zu sprechen, wenn man nicht Schulen und immer weitere Kulturzentren im Ausland ins Leben ruft — und unterstützt?

Vielleicht wird man einmal daraufkommen. Dann vielleicht, wenn wir beim internationalen Walzertanzen durchgefallen sind, die Wiener Friseure keinen Preis nach Hause bringen und Toni Sailer beim Abfahrtslauf um eine Zehntelsekunde zu lang braucht. Dann vielleicht!

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