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„Andere Zeiten - andere Musen“

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Das Haus zwischen dem Parlament und dem Naturhistorischen Museum, mit dem Blick über Kronen der jetzt entlaubten Ringstraßenbäume liegt nicht nur beziehungsreich am Endpunkt der Linien, die vom Parlament, dem Ballhausund Minoritenplatz, von der Universität, der Burg und den Museen herführen; dieses Haus, das der Däne Theophil von Hansen in den Jahren 1872/73 auf den ehemaligen Glacisgründen für einen Bankier erbaut hat, sah einen bunten Wechsel von Bewohnern. Ihre Zahl reicht, von der englischen Gasgesellschaft angefangen, die Wien versorgte, bis Lueger die Kommunalisierung durchführte, über den k. u. k. Verwaltungs-gerlchtshofj der am 13, Oktober 4902 dort wt- mals tagte, bis in die ersten Jahre der Ersten Republik, als der Verwaltungsgerichtshof einstweilen in das ehemalige Eisenbahnministerium am Schillerplatz übersiedelte und der Stadtschulrat für Wien im Hause Dr.-Karl-Renner-Ring 1 einzog. Im Mätz 193 8 wur'de der Wiener Stadtschulrat die sogenannte „Abteilung II der staatlichen Verwaltung des Reichsgaues Wien“ und kam in das damals aufgelassene Unterrichtsministerium am Minoritenplatz; das Haus am Ring aber nahmen Militärstellen in Anspruch, und dies war auch der Grund, weshalb es in Verwendung durch die sowjetische Besatzungsmacht (Zentralkommandantur) kam. Man könnte noch mehr Beziehungslinien ziehen, man könnte satirisch beim Blick aus den hohen Fenstern des nunmehr wieder im Besitze des Stadtschulrates befindlichen Gebäudes fragen, wohin denn die Gitter gekommen sind, die einstens bei etlichen Fenstern vorsorglich ein Entweichen unmöglich machten. Aber die Gitter am Ring sind gefallen wie die Gitter um die Freiheit der Zweiten Republik, und frei will man nun vom Hause am Dr.-Karl-Renner-Ring nach allen Seiten blicken. Tatsächlich und sinnbildlich.

Nicht nur über diesem Bau schwebten Verhängnis und Geschichte. Als in den Tagen des April 1945 noch in einzelnen Bezirksteilen Schüsse fielen, sorgten sich entschlossene Lehrer und Lehrerinnen, darunter so manche, die im Zuge der Jahrzehnte aus politischen Gründen wechselnder Couleur aus ihrem Amt entfernt worden waren, um die verwaisten, oft in unbeschreiblich traurigem Zustande befindlichen Schulgebäude. „Das ist eben der Krieg“, sagte mir ein ansehnlich hochstehender Politiker gelegentlich der Wiedereröffnung des Stadtschulratsgebäudes und vergaß nicht hinzuzufügen, daß auch in früheren Kriegslasten die Schulgebäude immer als erste von Raumheischenden okkupiert worden seien. Mag sein, daß es früher und auch andernorts so war. Wie sich aber das gesamte Schulwesen 1945 darbot, war ohne Beispiel. Es lohnt sich daher, in dem mit ungemeiner Akribie verfaßten Rechenschaftsbericht über die letzten zwölf Jahre des Wiener Schulwesens zu blättern und, nachdem man auch die neue Klassenlektüre sowie die „Bausteine der Bildungsschule“ besehen, unangemeldet und unformell in den neugebauten oder erneuerten Schulen aufzutauchen.

Mit Sinn liegt der Stadtschulrat nahe dem Parlament. Die Schule ist seit den Worten der Kaiserin Maria Theresia eh und je — ein Politikum. Was wir in den neuen Schulhäusern sehen und hören, kann nur das Ergebnis einträchtigen Zusammenwirkens aller Bundesbürger sein. Dieses Miteinander, nicht offenes oder verstecktes Gegeneinander hat im Jahre 1945 (auf das ursprüngliche Gebiet Groß-Wien bezogen) von 413 Schulgebäuden nur noch 202 verwendungsfähig vorgefunden. Die Fortbildungsschulen standen ungefähr ähnlich da (die Zentrale Mollardgasse für die metallverarbeitenden Betriebe war nahezu gebrauchsunfähig). Von den 53 Bundesmittelschulen waren acht völlig obdachlos, sieben hausten in erheblich beschädigten Gebäuden. Zu diesen rein schulischen Verhältnissen kamen die Wohnungsnot — wie sollten die häuslichen Zustände nicht auf die Verfassung der Kinder einwirken —, die Not an Brennmaterial, die Nahrungsmittelsorgen, die Jagd der Eltern um Holz und Erdäpfeln rings um Wien herum, indes die Kinder allein daheim sich selbst überlassen blieben. Wer heute über gewisse Verhältnisse die Nase rümpft, möge um zwölf Jahre zurückdenken oder, noch besser, um zwanzig. ,

Von den 413 städtischen Schulgebäuden mit ihren 4630 Klassenzimmern waren 36 gänzlich zerstört, 68 schwer beschädigt, 112 leichter beschädigt, 95 in Spitäler umgewandelt, von Besatzungstruppen oder Flüchtlingen beansprucht. 13.000 Bänke, 7660 Sessel, 2825 Tische, 2076 Kasten, 1240 Tafeln, 530 Waschkasten, 4700 Meter Kleiderrechen, 8700 Meter Bilderleisten waren verheizt worden ... Heute friert kein Schulkind mehr, auf den Gängen einer Schule stehen kleine Mädchen vor den Blumentischen und sehen nach, ob den Gewächsen genug Wärme und Feuchtigkeit zukommt, saugen in der spaßeshalber als „Milchbar“ bezeichneten Nische des übernächsten Schulhauses die Buben und Mädchen aus dem Strohröhrchen die „Erste-Pausen-Milch“ und treffen wir eine Viertelstunde später zwei Knaben vor einer „Schulgalerie“ (3 8 solcher zum Kunstverständnis anleitenden Galerien sind geplant, mehr als zwei Drittel bestehen schon mit weit über tausend Werken). In der Zeit von 1949 bis Ende 1956 sind 113 alte Schulhäuser modernisiert worden. Wir wollen hoffen, daß dieses Tempo auch weiterhin beibehalten wird, daß die berüchtigten Waschtische mit Spielereihahn, die Kleiderhaken im Schulzimmer, die Podien und die sanitären Nebenräume sowie die Möbel entsprechend der Bauanlage der einzelnen im Grundriß nun leider einmal nicht zu ändernden Gebäude verschwinden beziehungsweise modern überholt werden. Für jemanden, der einmal das Schulhaus schon allein des undefinierbaren Geruchs wegen möglichst nicht betrat, ist der Triumph der Farbe, das Verschwinden der geölten Böden und der bedrückenden schwarzen Schultafeln in den meisten Schulen geradezu eine zweite Reifeprüfung, die man überstanden hat. Hoffentlich kommen auch die noch fehlenden Schulen nach, die sich sehnsüchtig an den Nachbarn und ihren modernen Errungenschaften die Augen ausschauen: Physiksäle, Wasch- und Brauseräume, Festsäle, Feierplätze im Rahmen der weiter auswärts gelegenen Gebäude. Und hoffentlich ist die Frage, ob 14. Monatsgehalt oder nicht, nicht gekoppelt mit nachdenklichem Stirnrunzeln: „Dann können wir eben nicht weiterrenovieren.“

Ueberau kann man sparen, aber an den Ktn-dern und den Schulen nicht und niemals. Wir dürfen nicht zurückbleiben in dem allgemeinen Zug der Bildungsschule, sich zu erneuern, sich umzuformen. Der geschäftsführende Präsident des Wiener Stadtschülrates hat bei der Eröffnung des Hauses Dr.-Karl-Renner-Ring 1 in seinen gründlich belegten Ausführungen vor den Pressevertretern das Bild eines Schulungswettbewerbes der großen Mächte entrollt. Wir, die wir zwischen den USA und der Sowjetunion als neutrales Land, als kleines Land, aber als Bil-dungsgroßmacht und Heimat namhafter Pädagogen mittendrin stehen im Auf und Ab des Strebens, durch Verbreiterung und Vertiefung des Wissens mehr Einfluß zu gewinnen, wir haben Grund genug, die so beiläufig angeschlagenen Wrte voa.der notwendigen „neuen Schaolretom“wiwk IsißaDr. Zechaer spracht zu überdenken. Irgendwie merken wir nicht nur an den Neubauten, an den Umbauten und Erweiterungen, sondern auch an der Form der Klassenlektüre, wie sehr sich die Zeiten und Methoden ändern. Diese Bücher, die jene von Viktor Fadrus und seinen Mitarbeitern gestalteten abzulösen bestimmt sind, zeigen schon äußerlich das Bild modernen Denkens. Etwa hundert Bändchen sind geplant, jedes Jahr erscheinen neue im Format DIN A 5. Der künstlerischen Gestaltung, den eingefügten Zeichnungen, den Umschlägen wird besondere Aufmerksamkeit zuteil. Das mittelfeine, gut gebleichte, griffeste Papier und die moderne Bindeart nach dem Lumbeckverfahren hat das Schulbuch von heute zu einem literarischen Objekt gemacht, dem man in Hinkunft nur wünschen möge, daß es auf der Seite unserer Schriftsteller und Dichter, vielleicht auch bei den Journalisten Aufmerksamkeit erringt. Mögen jene, die von Berufs wegen schreiben, sich einmal die Frage vorlegen, ob sie nicht auch etwas für die Jugend schreiben könnten, aus dem Leben heraus, als erzählte man daheim am Familientische einen erlebten Vorfall. Wir verstehen, daß man sich eine „zweite Schulreform“ vorzugsweise in der Richtung nach einer Verstärkung des technisch und naturwissenschaftlichen Unterrichts hin aktiviert denkt. Zum technischen Verstehen, Schauen, Zeichnen, zum Experimentieren mit Bunsenbrenner, Eprouvette und Kolben gehört aber nicht zuletzt der allgemein geistige Horizont, gehören Dichtung unserer Zeit, Musik unserer Zeit, bildende Kunst unserer Zeit. Eine Reform der Schule, die mit Bedacht und, nochmals sei es wiederholt, im Zusammenwirken aller Oesterreicher zu kommen hat, kann an der Erneuerung der Bildungswerte, an der Formung des Musischen nicht vorbei. „Andere Zeiten, andere Musen“ schrieb Unland. Als Selbstkritik bezeichnete ein moderner Dichter die Kindererziehung. Alle waren sich jedoch einig, daß die Schule kein Rechen-exempel ist, das man, um schneller fertig zu werden, experimentellen Ideen ausliefern darf. Man soll sich Zeit lassen. Im „Emile“ hat ja Rousseau bereits gemeint: „Kindererziehung ist ein Beruf, wo man Zeit zu verlieren verstehen muß, um Zeit zu gewinnen.“ Nicht nur die Zeit von heute wollen wir gewinnen, sondern durch die Kinder jene von morgen.

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