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Die zwei Seelen des Ministers

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Was gibt es Neues im neuen Schuljahr? Was erwartet Lehrer, Schüler, Eltern in den kommenden Unterrichtsmonaten — und was kommt dann? Zweierlei ist deutlich: Nicht nur die Schüler dieser Generation werden noch unter dem Zeichen der Schulreform leben, sondern auch noch ihre jüngeren Geschwister, die sich erst auf den Kindergarten freuen. Und: Diese Schulreform wird durchgezogen werden müssen, auch wenn die Hochstimmung der ersten Jahre verflogen ist, wenn die Finanzen nicht mehr so freigiebig zur Verfügung stehen wie in den Zeiten der Hochkonjunktur und der plötzlich bewußt gewordenen Bildungsbegeisterung. Erst wenn schließlich eine illusionslose Integration des Bildungswesens ins öffentliche Bewußtsein gelungen ist, werden die Bildungspolitiker von heute der Gesellschaft ihr „Befehl ausgeführt!“ melden können.

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Was gibt es Neues im neuen Schuljahr? Was erwartet Lehrer, Schüler, Eltern in den kommenden Unterrichtsmonaten — und was kommt dann? Zweierlei ist deutlich: Nicht nur die Schüler dieser Generation werden noch unter dem Zeichen der Schulreform leben, sondern auch noch ihre jüngeren Geschwister, die sich erst auf den Kindergarten freuen. Und: Diese Schulreform wird durchgezogen werden müssen, auch wenn die Hochstimmung der ersten Jahre verflogen ist, wenn die Finanzen nicht mehr so freigiebig zur Verfügung stehen wie in den Zeiten der Hochkonjunktur und der plötzlich bewußt gewordenen Bildungsbegeisterung. Erst wenn schließlich eine illusionslose Integration des Bildungswesens ins öffentliche Bewußtsein gelungen ist, werden die Bildungspolitiker von heute der Gesellschaft ihr „Befehl ausgeführt!“ melden können.

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Pur den Schuljuristen bringt das neue Jahr vor allem das Inkrafttreten der fünften Novelle zum Schul-onganisationsgesetz (SchOG), die nun schon fünfte Anpassung des Basisgesetzes von 1962 an. die inzwischen veränderte Umwelt. Für den Lehrer, für Schüller und Eltern kann es egal sein, ob die ihnen abverlangten oder gebotenen Neuerungen bisher als Vorversuche oder nun als gesetzlich vorgesehene Versuche deklariert werden. Vieles von dem, was nun .auf dem Papier steht, wurde bisiher schon durchexerziert.

Das gilt etwa für die sechsiseme-strige Hauptschullehrerausbildung, die nun fest -in den Lehrplan aller Pädagogischen Akademien aufgenommen wind. Die Verlängerung der Volksscbuliehrerausbildung auf dieselbe Länge, ebenfalls vorgesehen, bleibt — wo sie vorgesehen wurde — vorläufig Versuch.

Das gilt weiter für die zweijährigen „Kollegs“, jene „Aufsatzstücke“ auf die normale Matura, die an den Höheren Technischen Lehranstalten für Gymnasiasten und Realgymnasiasten geboten wind, um ihnen das fachliche Angebot der HTL “machzi^--liefern. Was ihren Kameraden in fünf Jahren zwischen 14 und 19, verbunden mit der Allgemeinbildung, in einem/ 40-Stunden-Wochenlahrplaip an technischem Wissen und fachdrehen Fertigkeiten geboten wind, erhalten sie nach vier Gymnasial jähren konzentriert in zwei Jahren. 19 solche Kollegs stehen nun bereit (ein zwanzigstes in Klagenfurt konnte mangels genügender Anmeldungen nicht zum Zug kommen). Elektrotechnik und Elektronik, Kunststofftechnik, Bautechnik, Hoch- und Tiefbau, Maschinenbau, Textiltech-nik, Chemie, Möbel- und Innenausbau stehen zur Auswähl. Nach drei Jahren einschlägiger Praxis winkt

der Ingenieurtitel au einer Zeit, zu der ihre Altersgenossen auf der Technischen Universität oft genug noch weit weg vom Diplomingenieur sind. Im letzten Schuljahr waren die 17 Kurse von 477 Schülern besucht.

Auch auf den tieferen Ebenen stehen nun die berufsbildenden Schulen im Mittelpunkt des amtlichen Interesses. Unteririchtsminister Piffl hatte Ende der sechziger Jahre die Losung ausgegeben, in jedem politischen Bezirk wenigstens eine weiterführende Schule einzurichten.1 Damals mußten

zunächst die allgemeinbildenden Schulen im Vordergrund stehen. Aber schon er sprach von einer späteren aweiten Ausbauphase, die die berufsbildenden nachziehen müßte. Das wird heute gerne vergessen, wenn die Notwendigkeit dieser Phase durch eine Kritik an der vorausgegangenen deutlicher gemacht werden soll. Das ist völlig überflüssig.

Nicht nur, daß der materielle Ausbau in den vergangenen Jaihren bereits merkbar forciert worden ist und das Scbulentwicklungspro-grarnm noch etliche dieser Anstalten aufführt. Auch inhaltlich wurden Lehrpläne renoviert, neue Unterrichtsmethoden erprobt, neue Fachrichtungen eingeführt. Die 5. SchOG-Novelle legalisiert nun, was bisher versucht wurde oder führt neue Möglichkeiten für Versuche ein.

Mit den höheren berufsbildenden Schulen, die die praktische Eignung für mittlere Führungsberufe vermitteln, soll der überstairke Zustrom zu den Universitäten gebremst werden; nicht durch Numerus clausus, wie er in urasern Nachbarländern Unbehagen erzeugt, ohne Abhilfe schaffen -au können, sondern durch eine intensive Iniformation über Bildungsmöglichkeiten und Berufschancen und ein. entsprechendes Angebot lohnender und lockerer Alternativen.

Nun entspracht der Zuzug zu den berufsbildenden Kollegs an den Höheren Technischen Lehnanstalten zweifellos dem Bedarf der Wirtschaft an mittleren Führungskräften der gebotenen Branchen — aber gerade diese Disziplinen sind in den meisten Fällen auch auf den Technischen Universitäten noch aufnahmsfähig. Sie haben auch noch Bedarf an Diplomingenieuren.

Kritischer wird die Lage auf andern Sektoren — und damit kommen wir zur zweiten anfangs gestellten

Frage: Was kommt dann? Wie sieht die weitere Zukunft aus, in die wir am Beginn des neuen Schuljahres eintreten?

Hierzu gibt es einige Anhaltspunkte. Zunächst einen SparbefehJ des Bundeskanalers, der, weil allgemein und bindernd erteilt, auch die Schule traf: Im nächsten Jahr wird es — mindestens — nicht mehr Lehrerdienstposten geben als heuer (wenn nicht auch hier der „Helden-klau“-Eriaß gilt, ein Prozent einzusparen). Im Frühjahr imiunkelte man

schon von einem Lehrerstop. Minister Sinowatz erklärte: Man habe zunächst Klarheit schaffen wollen, wo welche Lehrer gebraucht würden, wo wer warte. Wer zur Zeit volige-prüft zur Verfügung stehe, werde auch angestellt werden (vielleicht nicht dort, wo er es gerne wäre). Im Rahmen des gegebenen Dienst-postenplames könne eingestellt werden, nicht darüber hinaus. Das werde auch der Rahmen für 1977 sein.

Zwei Seelen streiten sich in der Brust des Unterrichtsministers: Die des an die Richtlinien des Bundeskanzlers gebundenen Ressortchefs mit jener des Verantwortlichen für die Schulerfolge von eineinhalb Millionen Jugendlichen, denen in vielen Erklärungen die bestmögliche Ausbildung als Recht zuerkannt wonden ist. Mit der Befolgung des Sparerlasses wird er der Zustimung alller Steuerzähler sicher sein. Die dadurch notwendig wendenden Kürzungen im Angebot — sei es nur im Streichen von Arbeitsgemeinschaften, Wahlfächern oder Supplierungsstunden — werden den Protest der in ihren Kindern betroffenen Eltern hervorrufen. Auch in der Brust des Steuerzahlers streiten zwei Seelen (sofern er gleichzeitig Vater oder Mutter ist).

In dieses Dilemma stößt nun eine weitere Tendenz mit Konfliktträch-tigkeit: Die Pädagogischen Akademien, seit 1967 mit großer Intensität ausgebaut und den jungen Interessenten mit ebenso großer Überzeu-gungsgafoe nahegebracht, halben ihre Attraktivität bewiesen, ihre Aufgaben erfüllt, einen besser ausgebildeten Lehrernachwuchs zu stellen, aber auch den Nachholbedarf zu dek-ken. Nun zeigen sich bereits Sättigungserscheinungen, In Kärnten zum ersten Mal, im Bürgenland schon zum zweiten Mal werden nicht alle Absolventen einen Posten finden. Noch melden Oberösterreich, Niederösterreich, Vorarlberg offenen Bedarf an. Vorarlberg holte sich schon im Vorjahr Lehrer aus dem Burgenland. Aber die Neigung, „fern der Heimat“ Dienst zu tun, scheint heute ebenso gering zu sein, wie einst in der Monarchie, ohne Strafversetzung in Tarnopol ausharren zu sollen.

Ein regionaler Lehrermangel hier steht einem regionalen Lehrerüberschuß dort gegenüber. Im Gymnasialsektor ist es ähnlich. Historiker in Wien tun sich schwer, eine Anstellung zu finden. Chemiker oder Anglisten, die bereit sind, auch auf dem Land, in kleinen Schulstädten, zu unterrichten, werden mit Hand-

kuß aufgenommen. Immerhin — wer heute studiert, hat noch relativ sichere Benufschancen. Die Nachrük-kenden werden sich überlegen müssen, ob der Lehrberuf für sie noch Ohancen bringt. Ob sie winklich auch für eine härtere Konkurrenzlage die nötigen Voraussetzungen mitbringen.

Natürlich könnte man noch weit mehr Lehrer unterbringen, als die heutigen Dienstpostenpläne vorsehen — alber da stoßen wir wieder auf den Spanappell. Die vielen Überstunden, die heute aum Noimaiwerk-

tag des Lehrers gehören, sollten reduziert, wenn nicht ganz abgebaut werden. (Wenden die Lehrer selbst davon sehr begeistert sein — denn sie verlören dann die Mehrdienstzulagen?) Die Klassen-Schülenhöchst-zahll, heute 36 — sollte vermindert wenden. Vor allem aber sind alle Schulversuche personalintensiv. Mit Einschränkungen, mit Streichungen ist keine Reform durchzuführen.

Damit sind wir wieder bei der Schulreform. Minister Sinowatz be-

zeichnete sie kürzlich als das „größte bildungspolitische Unternehmen, das in der jüngeren österreichischen Schulgeschichte durchgeführt wurde“. Quantitativ gesehen, hätte er ruhig sagen können: „je in der österreichischen Geschichte.“ Denn die Einführung der allgemeinen Schulpflicht unter Maria Theresia, die Ausdehnung der Schulpflicht auf acht Jahre unter Franz Joseph mögen vielleicht — in ihren Zeiten — revolutionärer gewesen sein als die Schulreform unserer Zeit, die auf viel höheren Voraussetzungen aufbauen konnte. Sicherlich aber waren noch nie so viele Lehrer, so viele Schüler und ihre Eltern an den Maßnahmen beteiligt. Noch nie nahm auch die Öffentlichkeit so aktiv Anteil.

Alber wird nicht irgendwann die Grenze der Leistungsfähigkeit er-

reicht wenden? Die Grenze der ideellen Leistungsfähigkeit der beteiligten Lehrer, die Grenze der „passiven“ Leistungsfähigkeit der Schüler, die mitunter Gefahr laufen, zum Ver-suchstkaninchen zu werden; vor allem aber die Grenze der materiellen Leistungsfähigkeit und -bereit-schaft der Gesellschaft.

Minister Sinowatz bezifferte die Kosten, die dem Steuerzahler durch die Schulreform erwachsen, mit 150 Millionen, verursacht vor allem durch den vermehrten Personalauf-

wand, die Zulagen der in den Schulversuchen tätigen Lehrer. Der vorhandene Apparat des Schulwesens müßte ja auch ohne Reformen erhal-. ten werden — er kostet alles in allem 16 Milliarden. Mehr als hundert mal so viel. Die. Schulbuchaktion allein, dort nicht mitgerechnet, hatte ja schon die Milliardengrenze erreicht.

Also „kleine Fische“ trotz der gigantischen Umwälzungen im gesamten Schulwesen? Aber dann vernimmt man Meldungen, wie sie aus Vorarlberg kamen: Dort mußte der Modellversuch aufgegeben . werden, eine Schulverlaufsstatistik aufzustellen. Er wäre zu kostspielig ge-wonden. Er sollte erstmals überhaupt auf dem Globus sämtliche Schüler vom Eintritt in die Grundschule bis zum Ende der Pflicht- oder höheren

Schule begleiten und so jene Vielzahl an Daten ergeben, ohne die doch eigentlich eine gewissenhafte Bildungsplanung nur ein Spiel im Sandkasten sein kann. Wurde hier der Schuh um eine Nummer zu groß gewählt? Ist hier ein Alanmzeichen für ein Erlahmen des Refonmeifers festzustellen?

In Wien dagegen kündigt Stadt-schulratspräsident Schnell an, man wende in wenigen Jahren in der Lage sein, die Gesamtschule für die Zehn-bis Vierzehnjährigen statt der Hauptschule oder der Gymnasial-Unter-stufe zur Regelschule zu machen. Ohne abzuwarten, was die Experten aus den laufenden Versuchen entnehmen (in denen die integrierte Gesamtschule noch kaum vorkommt), ohne Rücksicht darauf, was die Opposition, was die Eltern zu dieser Neuerungen sagen würden.

Schulfragen können in Österreich nur im Konsens gelöst werden. Mag auch der Rüti'ischwur von 1962 mitunter als unbequem erscheinen — damals war er die Conditio sine qua non der Linken —, bisher halben sich alle Beteiligten streng daran gehalten. Ein Nachlassen der ideellen oder materiellen Bemühungen müßte die Gefahr heraufbeschwören, daß das Scbulwerk von 1962 in sich zusammenfällt wie die Reichsbrücke, ohne daß es 40 Jahre gehalten hätte. Die Folgen wären noch schlimmer.

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