6562517-1949_11_03.jpg
Digital In Arbeit

Das Gesicht Ostdeutschlands

Werbung
Werbung
Werbung

Die systematische Umformung Ostdeutschlands beschränkt sich nicht auf die Wirtschaft und erschöpft sich nicht in der zunehmenden Verankerung russischer Methoden im Bereich der (Politik. Auch im kulturellen Leben, in der Stellung zur Kirche und im Aufbau der Schule, wird nach einem einheitlichen Plan verfahren, über dessen Konsequenzen keine Illusionen bestehen.

Die Taktik in der Stellung zur Kirche wird von den Sowjets und den ihnen hörigen Landesregierungen so gehandhabt, daß die Richtung auf den ersten Blick nicht klar erkennbar ist. Bisher hat zwischen Kirche und russischer Besatzungsmacht ein erträgliches, wenn auch nicht fruchtbares Verhältnis bestanden, ein Verhältnis, das etwa ähnlich der Einstellung des Nationalsozialismus im ersten Jahr der Hitlerherrschaft war. Die Kirche darf, wie einst unter Hitler, hie und da, wenn auch nicht häufig, protestieren, wenn ein Mißgriff der Besatzungsmacht oder der ihr dienstbaren deutschen Organe sichtbar wird und in weiteren Kreisen Beunruhigung erweckt. So wurden beispielsweise von sowjetischen Polizeiorganen vor nicht langer Zeit an die Kirche Forderungen gestellt, die Katholiken und Protestanten aufhorchen ließen: jede kirchliche Veranstaltung sollte von der Genehmigung durch die Polizei abhängig sein, v die Priester sollten die Dispositionen ihrer Predigten vorher der Polizei einreichen und schließlich wurde den Geistlichen beider Konfessionen zugemutet, Zuträgerdienste für die politische Polizei zu leisten. Ein gemeinsamer Protest der christlichen Kirchen wurde berücksichtigt. Dagegen wurde die Forderung auf Achtung des Elternrechts bei der Bestimmung des Schulcharakters entschieden zurückgewiesen. Den Kirchen ist auch nicht gestattet, außerhalb gottesdienstlicher Räume die Jugend zu sammeln; das bleibt das Privileg der kommunistisch geleiteten „Freien deutschen Jugend“. Die Seelsorge war bisher unmittelbar nicht behindert. In den Schulen wird von den Lehrern kein Religionsunterricht erteilt; der Geistliche darf jedoch den Religionsunterricht im Schulgebäude geben, aber nur, wenn Klassenräume frei sind. Das Volk traut allerdings diesem Frieden nicht. In der Tat kündigen in letzter Zeit bedenkliche Vorfälle einen politischen Klimawechsel an. In dieser Erkenntnis der ihnen drohenden Gefahren haben die katholische und die evangelische Kirche eine Notgemeinschaft eingegangen, um die gemeinsamen Interessen gegenüber den deutschen und den Sowjetorganen gemeinsam zu vertreten. Das gemeinsame Schicksal hat die beiden christlichen Kirchen noch mehr zueinandergeführt als in den Jahren der Verfolgung durch den Nationalsozialismus. Welch’ geistiger Wandel hat sich in den deutschen Ländern der Sowjetzone, wie etwa in Thüringen und Mecklenburg, vollzogen! Heute ist es fast selbstverständlich, daß die evangelischen Gotteshäuser den Katholiken bereitwillig zur Verfügung gestellt werden, wie auch, daß die katholischen Bischöfe bei ihren Firmungsreisen den evangelischen Würdenträgern ihren Besuch machen. Die Mentalität der einheimischen Bevölkerung in den historischen Ländern des deutschen Protestantismus hat sich gründlich gewandelt. Die „deutsche Völkerwanderung“ hat vielfach zuwege gebracht, was den wohlwollendsten Führern des Protestantismus und den eifrigsten Befürwortern der Wiedervereinigung der christlichen Kirche versagt geblieben war.

Wie im nationalsozialistischen Dritten Reich sind die christlichen Kirchen ohne den bescheidensten Einfluß auf die Erziehung der Jugend. Die Lehrpläne, die von der Zentralverwaltung in Berlin ausgearbeitet und von den Länderregierungen verfügt sind, überraschen durch den Nachweis, was alles von Kindern im Jahre des Heils 1949 verlangt wird. Der Jahresstoff einer Grundschule wird auf ein Jahresdrittel verteilt, dann genau in Wochenstunden aufgeteilt. Der Lehrer müßte begnadete Kinder vor sich haben, um ihnen auch nur einen Bruchteil von dem beizubringen, was er ihnen an Wissen beibringen soll. Diese Fülle an Lehrstoff wäre in der Friedenszeit bei den idealsten Schulverhältnissen kaum zu bewältigen. Russische Methoden und Vorbilder werden auch auf schulischem Gebiet getreulich nachgeahmt. So hat jeder Schulleiter dem Schulamt allmonatlich Bericht zu erstatten über das „Soll“ und das „Ist“, also darüber, was verlangt wird, und was erreicht werden konnte. Ganz begreiflich, daß die meisten Berichte frisiert, andere völlig nichtssagend gehalten sind. Aber die Hauptsache sind schöne Statistiken.

Ein neues Lehrfach in den Grundschulen ist „Gegenwartskunde“, die an Stelle des Geschichtsunterrichts erteilt wird. Zu behandeln sind die Tagesereignisse im Lichte russischer Auffassung, vom Standpunkte der SED aus gesehen. In neuester Zeit verlangen die Funktionäre der SED Zutritt zu den Schulen, um Einblick in den Lehrbetrieb ze nehmen. Jede Schule hat ihren Eltern- und einen Schülerrat. Die Kinder sollen zur „Demokratie“ erzogen werden, sollen so viel als möglich diskutieren.

Ein besonderes Problem bildet der Lehrernachwuchs. Nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches waren beispielsweise im „Trutzgau“ Thü ringen 80 Prozent aller Lehrer in den Reihen der NSDAP. Fast sämtliche wurden aus dem Schuldienst entlassen, mit Ausnahme jener, denen es schnell gelungen war, in die SED hineinzuschlüpfen. So gab es in Thüringen nur sehr wenige Erzieher, die den Schulbetrieb aufnehmen konnten. Man brauchte einen Ersatz für diesen außerordentlichen Lehrerausfall. Also wurde in Plakaten und in politischen Versammlungen geworben. Vor allem wurden junge Leute aufgefordert, sich zu einem Kursus zu melden. Die Ausbildungskosten trug der Staat und die Aufnahmebedingungen waren einladend. Alles, was zu dieser Zeit keinen rechten Beruf hatte, Reisende, Kaufleute, Schlosser, entlassene Soldaten, Kindergärtnerinnen und HJ-Führer, die nicht unter das Entnazifizierungsgesetz gefallen waren, auch Abiturienten, die ihre Studien nicht fortsetzen konnten, wurden aufgenommen. Der Staat riehtete pädagogische Fachschulen ein, auf denen diese jungen Leute in Achtmonatskursen ausgebildet wurden. Schon in diesen Anstalten wurden viele Unfähige, ausgeschieden. Bewährte Altlehrer, meist Vertriebene aus dem Osten, die nicht politisch belastet waren, übernahmen die Leitung der Lehrgänge. Nach der kurzen pädagogischen Fachschule kamen die jungen Lehramtsbewerber in den Schuldienst. Da sie ohne Praxis waren, unterstanden sie weiter der Oberleitung durch Altlehrer und mußten sich auch in Kursen weiter schulen. Aber die zweijährige Erfahrung zeigt, daß die Ausbildung von Lehrern am laufenden Band ihre groben Mängel hat. Daneben läuft die Ausbildung der Lehrer an den Universitäten, die für diesen Zweck pädagogische Fakultäten eingerichtet haben. Bei der Auswahl der Lehrerstudenten wird das Zulassungsverfahren in Anwendung gebracht wie bei den anderen Fakultäten: 80 Prozent der Studenten müssen Arbeiter- und Bauernsöhne sein.

Der Aufbau der neuen „demokratischen“ Schule der Sowjetzone: acht Jahre Grundschule ist ausnahmslose Bedingung für jedes Kind. In der 5. Klasse der Grundschule wird die erste, in der 7. Klasse die zweite Fremdsprache gelehrt: russisch und englisch. Da es nur wenige Lehranstalten gibt, die Russischlehrer ausbilden, wird meist als erste Fremdsprache englisch und als zweite russisch gegeben. Diese Forderung bleibt nur zu oft auf dem Papier, weil keine Lehrer vorhanden sind. Nach Absolvierung der achtjährigen Grundschule besuchen die meisten Schüler, die nicht in eine Fachschule hinüberwechseln, die dreijährige Berufsschule, auf deren Besuch heute ganz besonderer Wert gelegt wird. Auch diese Berufsschule ist verpflichtend. Jeder Schüler der 8. Klasse der Grundschule muß wissen, welchen Beruf er ergreifen will.

Das Arbeitsamt vermittelt die Lehrstellen und lenkt auf diese Weise die Berufswahl. Begreiflicherweise sind die meisten Berufe, die die Jungen wählen, nicht gern gesehen. Man braucht Arbeiter für den Bergbau, für die Metallindustrie und das Baugewerbe und nur wenige Handwefker und Studenten. Also Arbeitslenkung. Der „demokratische Volksstaat“ liebt keine Handwerker und Ist streng darauf bedacht, das selbstän dige Handwerk auszuschalten. Darum setzt die Arbeitslenkung bereits bei den Schulentlassenen ein, darum werden nur wenige Lehrstellen vermittelt, um so das Handwerk allmählich zum Erliegen zu bringen.

Auch die akademischen Berufe haben ihren einstigen Charakter vollständig eingebüßt. Der „demokratische Volksstaat“ hat den Beamten abgeschafft; er kennt nur den „intellektuellen Arbeiter“. Der „demokratische Volksstaat“ kennt auch keine Privatinitiative, wohl die Eingliederung in ein Kollektiv. Das Eigenleben wird allmählich zum Erliegen gebracht. Einige liberale deutsche Verleger glaubten nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches, das besondere Wohlwollen der Sowjets zu haben. Sie wurden bald eines anderen belehrt. Der „Kulturbeirat für das Verlagswesen“ entscheidet nicht nur über die Papierzuteilung, sondern auch über sämtliche Neuerscheinungen. Bei der Papierzuteilung werden die zur Prüfung eingereichten Manuskripte in fünf Kategorien eingeteilt. Das System dieser Eingliederungen ist für den privaten Verleger undurchsichtig, so daß sie und ihre Lektoren bei der Auswahl der Manuskripte völlig im dunkeln greifen, es sei denn, sie befolgen die Richtlinien der SED. Das Werk eines Autors kann heute als „reaktionär“ abgelehnt und morgen als „progressiv“ angenommen werden, ein beliebiger Roman heute als veraltet und morgen als „brennend aktuell“ gelten. Die Bücher eines bekannten deutschen Ethnologen wurden abgelehnt, weil sich das Zentralkomitee der SED über die Behandlung der Ethnologie noch nicht schlüssig war. Höchst schwierig war es, Kants Schrift „Zum ewigen Frieden“ durchzubringen. Plato wurde abgelehnt. Naturalistisch-realistische Romane mit stark sozialkritischer Tendenz werden bevorzugt, während die Beurteilung politischer und sozialer Schriften dem „Kulturbeirat“ entzogen ist. Darüber befindet ausschließlich die Sozialistische Einheitspartei und im Zweifelsfall die Sowjetische Militäradministration, von der aus nicht nur die ostdeutsche Wirtschaft und Politik gelenkt wird, sondern auch die „neue Kultur“ ihr Gepräge erhält.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung