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Österreichs Nationalist entstand im Klassenzimmer

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Im Dezember 1774, somit vor nunmehr zweihundert Jahren, ist die Maria-Theresianische Schulordnung erlassen worden — ihr genauer Titel lautet: „Allgemeine Schulordnung für die deutschen Normal-, Haupt- und Trivialschulen in sämtlichen Kaiserl. Königl. Erblanden.“ Dieses Dokument ist eine der großen europäischen Nationalschulordnungen der Aufklärungszeit. Sie steht an der Seite des Generai-Land-Schulreglements Friedrichs II. in Preußen und zum Nationalerziehungsplan des Staatsmannes La Chalotais in Frankreich. In ihrer geographischen Erfassung ist sie die am weitesten und breitesten wirksam gewordene. Uber den deutschen und böhmischen Raum hinaus schuf sie in manchen Ländern überhaupt erst die Voraussetzungen für die Entwicklung einer eigenständigen Schriftsprache und das Entstehen nationaler Literatur und höherer Kultur.

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Im Dezember 1774, somit vor nunmehr zweihundert Jahren, ist die Maria-Theresianische Schulordnung erlassen worden — ihr genauer Titel lautet: „Allgemeine Schulordnung für die deutschen Normal-, Haupt- und Trivialschulen in sämtlichen Kaiserl. Königl. Erblanden.“ Dieses Dokument ist eine der großen europäischen Nationalschulordnungen der Aufklärungszeit. Sie steht an der Seite des Generai-Land-Schulreglements Friedrichs II. in Preußen und zum Nationalerziehungsplan des Staatsmannes La Chalotais in Frankreich. In ihrer geographischen Erfassung ist sie die am weitesten und breitesten wirksam gewordene. Uber den deutschen und böhmischen Raum hinaus schuf sie in manchen Ländern überhaupt erst die Voraussetzungen für die Entwicklung einer eigenständigen Schriftsprache und das Entstehen nationaler Literatur und höherer Kultur.

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Diese ihre erste, bei weitem nicht einzige Bedeutung, hatte die Schulordnung vor allem für die Länder Ost- und Südosteuropas. Galten doch ihre Regelungen unmittelbar für den großen pannonischen Länderkreis von Dalmatien bis Galizien und die Bukowina; Ungarn schuf sich in Anlehnung an diese Schul-Konstitutio- nen im Jahr 1777 eine eigene Schulverfassung, die „Ratio educationis“. Die — äußeren und inneren — Spuren und Gemeinsamkeiten sind von da an durch die Jahrhunderte

— bis zium Ende der Monarchie und darüber hinaus — zu verfolgen.

Die Satzungen, und zwar nicht nur jene rechtlicher, schulverfassungs- mäßdger, sondern auch pädagogischer Art, haben aber über die habsburgischen Länder hinaus auf weitere Staaten Osteuropas gewirkt. In Polen etwa nimmt die vom letzten König des Landes, Stanislaw August Poniatowski, eingesetzte „Kommission für nationale Erziehung“ in ihrem ebenfalls 1777 beschlossenen Schulplan ausdrücklich auf die österreichische Neuerung Bezug. Ähnliches ist für Rußland und für Bulgarien festzustellen — die Dinge können nur angedeutet werden. Im übrigen ergibt sich hier eine Forschungsaufgabe multinationalen Charakters, die, so hoffen wir und so ist für ein erstes vorgesehen, im Rahmen des „Kulturhistorischen Symposions Mogerdorf“, das von der burgenländischen Landesregierung initiiert wurde und jährlich organisiert wird, und an dem Ungarn, Kroaten, Slowenen und Österreicher, in Hinkunft vielleicht auch weitere Nationen teilhaben, weiterbetrieben werden wird. Schon vorliegende Arbeiten, im besonderen die Heinrich Felix Schmidts und Otto Guglias, werden hier Grundlage sein können. Ein gewisser wissenschaftspolitischer (und auch auslamdskul- turpolitischer) Aspekt soll .damit zugleich auch verfolgt werden.

Doch damit ist nur eine Richtung der geographischen Ausstrahlung der Schulordnung des Jahres 1774 angedeutet. Die andere geht nach dem Westen, wo zunächst Bayern und ebenso die deutschen katholischen Fürstentümer, auch das damals noch selbständige Salzburg, die Schulordnung für ihre Verhältnisse adaptieren. Diese hatte zudem nicht nur ihre direkte Rechtsgültigkeit für die österreichischen Gebiete in Nord- dtalien und in Südwestdeutschland. Über den Außenposten Freiburg im Breisgau wirkte sie in Teilbelangen

— im Bereich der Lehrerbildung — auch nach Frankreich hinein.

Die französische „ėcole normale“, wie dort die Einrichtung für die Ausbildung der Lehrer der Elemen- tar(Primar-)Schule benannt wird, ist die wörtliche Übersetzung des Wortes „Normalschule“, die als Musterschule und damit verbundenen Lehrerbildungskursen durch die Schulordnung geschaffen worden war.

Diese Normalschulen— die höchste Schulart unterhalb des höheren Schulwesens — waren, um dies her- vorzuheben, da gerade hierin eine besondere Bedeutung der Schulordnung für die Zukunft liegt, die ersten Einrichtungen einer systematischen Lehrerbildung. Eine derartige hatte es vorher nicht gegeben. Sie wurden auch rasch innerhalb von zwei Jahren in jeder Landeshauptstadt (in Südtirol eine zusätzliche für die Ausbildung der italienischen Lehrer in Rovereto) eingerichtet. Damit konnte es nun, auch Ausdruck der Wertschätzung von Erziehung und Unterricht, zur Bildung eines eigenen Berufsstandes mit einem zu erwerbenden Lehrbefähigungsnachweis kommen. Dadurch wurde der Lehrerberuf im ganzen aufgewertet. Lehrersein war nun im ganzen Reich nicht mehr bloß eine Nebenbeschäftigung für einen Handwerker oder für den aus den Kriegen invalid zurückgekehrten Unteroffizier und nicht mehr ein bloßes Nebenamt zum Mesnerdienst.

Schule als Gesamtstaatsidee

Doch die Betrachtung soll nicht im Äußeren und in der Beweisführung der geographischen Ausdehnung dieses Grundgesetzes der österreichischen Schule stehen- und steckenbleiben. Noch weiteres, an sich Bedeutenderes ist zu sehen, vor allem hinsichtlich der bildungspalitischen Momente und Elemente, die in jener Verfassung enthalten und wirksam geworden sind und seither die Stellung der österreichischen Schule im Gesamten des Staatsgefüges bestimmen.

Die Maria-Theresianische Schulordnung — und auch der Name ihres Verfassers, des Abtes Ignaz Felbiger, sei an dieser Stelle genannt — ist an sich die Zusammenfassung von verschiedenen schulpolitischen Maßnahmen vorhergegangener, Jahre und Jahrzehnte. Hatten jedoch Schulbestimmungen früherer Zeit mehr den Charakter des Postulates und der Deklamation ideeller Zielsetzungen, blieben sie zum größten Teil auf dem Papier bestehen, so gewann dieses Gesetzeswerk mit seinem charakteristischem Zusammenwirken philanthropisch-mensch- heitsbeglückenden Gedankengutes und der Interessen gouvemementa- len, auch merkantilistischen Charakters bald konkrete Gestalt, nichl nur im Bereich der Lehrerbildung.

Schulkommissionen, diese ersten weltlichen Behörden für das in jener bekannten Resolution Maria Theresias an den Bischof von Lavant vom 28. September 1770 zum „poldticum“, also zur amtlichen Angelegenheit des Staates (im Gegensatz zum bisherigen „ecclesiasticum“) erklärte

Schulwesen, wurden in allen Ländern (sowie bei den Generalkommanden der Militärgrenze in Kroatien, Slavonien und bei den bana- tisch-walachischen Regimentern) in kürzester Frist eingerichtet. Allerdings bleibt das Schulwesen noch immer ein „Connubium inter sacer- dotium et Imperium", wie dies einer der maßgeblichen Schulmänner der Zeit, der Referent in der niederösterreichischen Schulkommission Franz Karl Hägelin ausdrückt. Die Schulaufsicht, die Position des „Schulenoberaufsehers“ des jeweiligen Landes steht den Bischöfen zu. In den Kreisen wird die Schulaufsicht dem Dechanten oder einem anderen geeigneten Pfarrer übertragen, in den Orten besorgen sie die Pfarrer. Doch werden diese Ämter nicht im direkten kirchlichen, sondern im staatlichen Auftrag ausgeübt.

Doch noch mehr ist zu sehen, wobei wir uns nach wie vor verwehren, auch die Entwicklungen im pädagogisch-didaktischen und methodischen Bereich der Schule, die damals eingeleitet wurden und die, bei gewiß zunächst gegebener Einschränkung, wenn nicht Dürftigkeit an manchem Ort, der österreichischen Volksschule von vornherein den Stempel einer anspruchsvollen Bildungseinrichtung aufdrückten, zu besprechen.

Maria Theresia kam an die Regierung eines Reiches, das bei weitem keine Einheit darstellte. Es fehlte sogar der gemeinsame Name; man sprach nur von den Ländern des Hauses Habsburg. Das Verbindende lag einzig und allein in der Person des Herrschers als des Inhabers der verschiedenen Rechtstitel; als ein „Bündel von Personalunionen“ ist dieser vielfältige Staat bezeichnet worden.

Hier nun Wandel zu schaffen und dem Wunsch des Prinzen Eugen aus dem Jahr 1726 in Erfüllung gehen zu lassen, aus den habsburgischen Ländern ©in „totum“ zu schaffen, war gerade besonderes Agens für eine zielstrebige Bildungs- und Kulturpolitik.

Im Zuge der Konzentrierung der Regierungsgewalt durch eine neue Behördenorganisation und der Unterordnung aller landschaftlichen und ständischen Elemente lag es, daß das Schulwesen in den Dienst der

Bestrebungen zur Weckung und Festigung einer Gesamtstaatsidee, wofür zudem in den Erbfolgekriegen die psychologische Voraussetzung geschaffen worden war, gestellt wurde. In den österreichischen Ländern wird somit nicht nur aus den bekannten allgemeinen Motiven der Staatsraäson des aufgeklärten Absolutismus der „Nationalerziehung“ besonderes Augenmerk zugewandt. Die spezifischen Verhältnisse wirken noch verstärkend. Von einem einheitlich geleiteten, wohldurchdachten und wohlorganisierten Bildungswesen durfte am ehesten erwartet werden, über die Besonderheiten der kulturellen, geschichtlichen und sozialen Entwicklungen und Gegeben heiten zu einer gesamtstaatlichen Gesinnung, zu dem viel beschworenen „Nationalgeist“, wenn es auch viele Nationen gab, zu gelangen.

Dabei sei auch zur Klarstellung betont, daß darob kein Zentralismus einer Prägung verfolgt wurde, der eine Entnationalisderungs- oder Ger- manisierungspolitik betrieben hätte. Der Begriff „deutsche Schule“, der einer Mißdeutung ausgesetzt sein kann, ist als Gegensatz zur „Lateinschule“, dem Gymnasium, zu verstehen und mit muttersprachlicher Schule gleichzusetzen. Im Ergebnis hat die damalige Schulverbesserung und die damit eingeleitete breite Volksbildung die Nationalitäten und deren Ausprägung befördert. Die Herstellung von Schulbüchern zwang die verschiedenen Nationen — man denke an die Tschechen und an den Namen Josef Dobrowski, oder an die Slowenen und an Valentin Vodnik — ihre bisher eher vernachlässigte Volkssprache — wir berührten dies schon — in eine literarische Form zu bringen und zu einer Hochsprache zu machen.

Zwischen Politik und Pädagogik

Im ganzen bietet sich somit ein Bild, das nicht getrübt ist. Die Schulordnung vom Dezember 1774, hinter der der philanthropische Gedanke der allgemeinen Menschenbildung steht, jenes einst von Comendus geprägte pädagogisch-soziale Ideal nicht zuletzt demokratischen, „demo- pädischen“ Gehalts, diese Schulordnung, die bewußt in den Dienst der Einheit des Reiches gestellt wird, die schließlich, praktisch wie formal betrachtet, die Volksschule, und damit den wichtigsten Teil des Bildungswesens, als Staatsschule begründet und die ein eigenes Lehrer-Beamtentum schafft, erwies sich als eine feste Basis für Weiter- und Höherentwicklungen.

An sich reichen die damals gesetzten Impulse bis in unsere Tage zu- mindestens im Prinzipiellen. Der entscheidende Durchbruch und Fortschritt in der Verbreitung und Organisation des Schulwesens wie in der Vertiefung der Auffassung von den Aufgaben der Erziehung und des Unterrichtes wurde damals erreicht

Dabei zeigt sich dem Betrachter, daß von Anbeginn an viel wesentlicher als Bildungstbeorien politische Überlegungen und Potenzen die Entwicklungen und Entfaltungen bestimmten, ein Umstand, der seine Vor- und Nachteile hat, der aber für jene Zeit jedenfalls ein Vorteil war.

Die Einsicht in die Zusammenhänge, in die Reziprozität von Politik und Pädagogik im Bereiche der Beförderung der Kultur, das Bekenntnis zu diesen Wechselbeziehungen — bei denen sicherlich auch immer wieder an dieser oder jener Stelle Distanz und Distanzierung einzuhalten sind — mag somit ein letzter Gewinn, eine letzte Einsicht aus der Befassung mit jener „Stiftungsurkunde der österreichischen Volksschule“ als einer der bedeutendsten büdungspolitischen Dokumentationen der Geschichte Österreichs sein.

Um so mehr bedauern wir allerdings, daß das offizielle Österreich der 200. Wiederkehr des Erlasses dieses Grundgesetzes unseres Bildungswesens nicht in aller öffentlichen Form Beachtung schenkt, oder schenken kann, die Belastung und Auslastung mit der Erfüllung aktueller Aufgaben mag dies bedingen. Doch gerade der Rückblick, gerade das Bewußtwerdenlassen der großen Linien, kurz die Benutzung der Geschichte als empirischer Grundlage des Weiterschreitens und der Prognostik wie auch zur Beförderung des kritischen Verständnisses der eigenen Lage sind stets und erst recht für eine bildumgspolitasch bewegte Zeit ein Gewinn, ganz abge- ehen von dem staatspolitischen (und auch auslandskulturpolitischen) Charakter eines Gedenkens gerade in diesem Fall. Pädagogik und pädagogisches Denken, Bildungspolitik und bildungspolitisches Denken und Agieren sind zweifellos immer in einem gesellschaftlichen Kontext zu sehen und zu betreiben; sie sind sicherlich ebenso, so meinen wir her- ausstellen zu sollen, in eine geschichtliche Kontinuität eingebunden. Die Maria-Theresianische Schulordnung ist in ihrer über die Zeit hinausreichenden Manifestation ein Markierungspunkt in dieser Kontinuität.

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