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„Fanfani-scuola“

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Die Jugenderziehung und deren bedeutendste Träger, die Schulen aller Grade, sind seit der Begründung des italienischen Königreiches, also seit einem Jahrhundert, die größten Sorgenkinder aller Regierungen gewesen. Mit wenigen Zahlen läßt sich der Stand der Volksbildung zu verschiedenen Zeitpunkten andeuten. 1871, zehn Jahre nach erreichter Einheit, waren 72 Prozent der italienischen Gesamtbevölkerung des Lesens und Schreibens unkundig; 1901 waren es 48 Prozent; 1913 noch 36 Prozent.

Aber diese 36 Prozent, kurz vor Ausbruch des ersten Weltkrieges, betrafen ganz überwiegend die südliche, in minderem Maße die mittelitalienische Bevölkerung. Im ehemaligen Herrschbereich der savoyischen Dynastie, in Piemont mit der Hauptstadt Turin, war der Prozentsatz der Analphabeten um die, genannte Zeit denkbar gering Ähnliches gilt für die anderen nördlichen Landschaften.

In den seit 1913 verflossenen Jahrzehnten ist zur Beseitigung des Analphabetismus viel geschehen, wenn auch das Übel, besonders in Süd- und Inselitąlien, keineswegs ausgerottet ist. Ja, es ist nach vorübergehender Behebung in vielen Gegenden, zumal in den Kriegs- und unmittelbaren Nachkriegsjahren, neu ausgebrochen. Im Rückblick auf die Vergangenheit

darf man feststellen, daß das Schulwesen eines mit Eifer und Erfolg emporstrebenden Großstaates schon deshalb stets im argen gelegen hat, weil sein Fundament, die Elementarschule, zu keinem Zeitpunkt voll ausgebaut war. Nie wurde, abgesehen von den letzten zwölf Jahren, mit dem Schulzwang, zumal auf dem Lande, Ernst gemacht. Obwohl es in der neuen Verfassung von 1948 heißt, daß die untere Schulerziehung obligatorisch ist und sich auf acht Jahre erstreckt, ist diese Forderung auch heute erst zum Teil erfüllt.

Dennoch steht das italienische

5chulw;esen heute vor einem entschei- iefl.deU:Wendcpi,tnl -Der .nafih- dem Zusammenbruch des Faschismus und lern verlorenen Krieg* erst 'langsam, iann, nach Stabilisierung der Wäh- "ung, jäh einsetzende, in erster Linie ndustrielle Aufschwung in Italien förderte zwei sich geradezu aufdrängende Erkenntnisse zutage: Die in Europa einzig dastehende Erwerbslosenzahl von schätzungsweise auch heute noch rund einer Million, zumal

im Süden des Landes, ist zum Teil der unzureichenden Elementarschulbildung zuzuschreiben. Sodann: die ständig wachsenden beruflichen Anforderungen, besonders auf technischem Gebiet, erfordern zuallererst eine gründliche, achtjährige Elementarschulung im Sinne der italienischen Verfassung.

Ein Entwicklungsplan

Aus solchen Überlegungen ist der sogenannte Entwicklungsplan für das gesamte Schulwesen entstanden, der sich mit einem Aufwand von rund 1400 Milliarden Lire (zirka 56,4 Milliarden Schilling) in zehn Jahren das Ziel des Auf- und A u s b a u s sowie der Reform der Jugenderziehung setzt. In den verflossenen zwölf Jahren sind mit den zunehmenden Steuereinnahmen auch die staatlichen, einst sehr beschränkten finanziellen Zuwendungen für die Schulen aller Grade, so auch für die bis dahin stets schlecht besoldete Lehrerschaft, erheblich erhöht worden, ohne indes in eine organische Planung einzumünden. Indem überall, von der Elementarschule bis zur Universität, versucht wurde, krasse Mängel und Übelstände zu beheben, wurden die an sich beträchtlichen Finanzmittel verstreut, ohne durchschlagende Erfolge zu erzielen.

Es war einem dar ideenreichsten und reformwilligsten Politiker der Nachkriegszeit vorbehalten, dem Entwicklungsplan für die Schule nicht nur greifbaren Inhalt zu geben, sondern auch seine Bewilligung im Parlament

und seine Durchführung in Praxis zu sichern. Es handelt sich den gegenwärtigen Ministerpräsidenten F a n f a n i, nach dem der Plan heute allgemein „Fanfani-scuola“ genannt wird.

Mit drei Punkten sei sein konkreter Inhalt umschrieben: 1. Errichtung von 150.000 neuen Schulbauten, da die bestehenden, auch angesichts der starken Bevölkerungsvermehrung, völlig unzureichend und zum Teil verfallen sind. Hierbei handelt es sich um Neubauten für die untere und mittlere Schulstufe, aber auch um solche für die zu eng gewordenen Universitäten und technischen Hochschulen;- -a. -Endlich vollständige Einhaltung der erwähnten VoFsÖffnA dbi?' italiÄi'sdhefi°t Verfasset:

i, voraus- konntedann auch . fJprweiMs

sung, wonach die kostenlose Elemen- rung des Lehrpersonals um rund sieb- tarschulbildung bis zur Vollendung des zigtausend ein schwer zu bewältigen- 14. Lebensjahres obligatorisch ausge- des Problem, dessen Lösung viele Jahre dehnt wird. Darüber hinaus soll das erfordern wird.

noch recht rückständige Berufsschulwesen — ebenfalls kostenlos — ohne Altersbegrenzung erweitert werden. 3. Bestellung von zusätzlichen 70.000 etatsmäßigen Lehrkräften aller Sparten. Bedeutende Finanzmittel sind für die Ausstattung, der Schulen, Universitäten und technischen Hochschulen mit Lehrmitteln und Anschauungsmaterial, woran es bisher besonders haperte, eingesetzt.

Jedem der gleiche Start

Als Fanfani in seiner Programmrede den Schulplan dem Parlament vortrug, bezeichnete er die über zehn Jahre verteilte Durchführung als „die größte Strukturwandlung, die Italien je erlebt habe". Die immer wieder und mit Recht beklagte Ungleichheit der Staatsbürger gegenüber den Anforderungen des Lebens , und der Berufe müsse beseitigt werden. Die Startbedingungen müßten für alle die gleichen sein. „Jedes Talent wird, zutage gefördert, jeder Wissensdurst wird gestillt werden Das demokratische Leben des Landes wird Zuwachs an verantwortungsbewußten Menschen erhalten; die Wirtschaft wird über eine weitaus größere Zähl an Unternehmern und qualifizierten Arbeitskräften verfügen können.“

Wesentlich erscheint noch bei dieser auf engem Raum beschränkten Betrachtung, daß die bedeutendsten Pädagogen an den Universitäten und Schulen den beschriebenen Auf- und Ausbau des Schulwesens mit einet neuen, zum Teil von Grund aus umgestalteten Reform der Jugenderziehung verbinden. Diese soll, kurz gesagt, die noch heute überwiegende humanistische Ausbildung zugunsten einer aufs Praktische gerichteten zurücktreten lassen. Schon auf der untersten Stufe, der Elementarschule bis zu elf Jahren, erst recht aber bei der zweiten Stufe (elf bis 14 Jahre), soll stärker als bisher die „Charakterbildung gegenüber dei reinen Begriffsvermittlüng“ in der Vordergrund treten. Diese nur andeutungsweise erwähnte Reform dei ein Jahrhundert geltenden pädagogischen Grundsätze hat heute noch kein festen Umrisse. Sie kann auch nui

einmal am hellsten strahlen", hatte er, der Sohn eines tschechischen Einwanderers, als Gouverneur des gold- und edelsteinreichen Staates Minas prophezeit.

Papier kontra Fortschritt

Janios Regierungsprogramm verhüllt die Katastrophe nicht, er konnte sie nicht verhüllen. Man braucht nur in den Eßnapf des Arbeiters zu schauen oder die Preise in den Schaufenstern prüfen, es genügt. Kubitschek hatte vor fünf Jahren als eine seiner Hauptaufgaben die Bekämpfung der Inflation bezeichnet, des Grundübels aller Unruhen und Entbehrungen. Die Wahrheit ist: JK traf einen Geldumlauf von 66 Milliarden Cruzeiros an. In fünf Jahren schwoll der Geldumlauf auf 220 Milliarden Cruzeiros an. „Herr Kubitschek meinte, mit Papier den Fortschritt Brasiliens fördern zu können“ („Estado“). Die Folge: die Lebenshaltung verteuerte sich unter ihm um 280 Prozent. Der Hunger wurde zum großen Agitator, der das arbeitende Volk auf die Straße trieb zu Streik und Aufruhr, nicht Moskaus Parole. Die Kommunisten machten Brüderschaft mit diesem Agitator. Wie überall auf der ganzen Erde.

Obwohl „außer Gesetz“, hatte die PC genug Spielfeld, um in den fünf JK-Jahren wieder zur stärksten kommunistischen Bewegung Südamerikas anzuwachsen. Im Nordosten, dem

Hungergebiet, exerzierte rie dem

Volke vor, was ein sowjetisches Brasilien für die Großgrundbesitzer bedeuten würde. Die PC gründete dort eine „Liga camponesa“, eine Liga der Landarbeiter. Zuerst machte sie von sich reden, als sie im Staate Pernambuco sich in Marsch setzte und sich, die „Bodenreform“ ihres Freiheitshelden Fidel Castro nachahmend, der Höfe und Ländereien bemächtigte. Weder JK noch sein Schildträger, Marschall Lott, rührten in diesem Bauernkrieg einen Finger, während gegen die Kaffeepflanzer damals, als sie vor drei Jahren einen friedlichen Protestmarsch nach Rio unternahmen, ' sofort Panzerwagen entgegengeschickt wurden. Zum Dank für das „Gewehr bei Fuß“ gab die PC dem Marschall .ehrkräfte, beson- ihre Stimmen. Die „Ligä Camponesjt konntę „dann auch- ungestört für die :- kubanische-Revolutip Freiwillige an- werben, als der brasilianische Rundfunk von einer Invasion nordamerikanischer Füseliere auf Kuba fabulierte. Die Niederlage Lotts war für die Kommunisten eine „Enttäuschung ersten Grades“, denn nach dem Konzept des Führers der PC, Carlos Pre- stes, soll 1965 über Brasilia die rote Fahne wehen.

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