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Trotzdem: studieren!

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Ein überwältigendes Bekenntnis zu Oesterreichs Kultur, ihrer Bewahrung, Verteidigung und Steigerung

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Ein überwältigendes Bekenntnis zu Oesterreichs Kultur, ihrer Bewahrung, Verteidigung und Steigerung

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Rund drei Prozent der „Furche“-Leser haben an unserem Preisausschreiben „S o 1- len unsere Kinder studieren?“ teilgenommen. Menschen aller Altersschichten und Berufsstände, aus allen Bundesländern haben sich der Mühe unterzogen, oft in mehrfacher Ausführung (einer kürzeren für das Preisausschreiben und einer längeren, imformativen) ihre Meinung, ihre Entscheidungen und Vorschläge niederzuschreiben und einzusenden. Viele betonten dabei, wie sehr sie es für eine Aufgabe der Presse hielten, die großen Fragen des Alltags durch Meinungserforschung und Diskussion einer Klärung näherzubringen. 74 Prozent der Einsendungen stammten von Männern,

26 Prozent von Frauen, rund ein Drittel aller kam von Angehörigen des Lehrberufes;

27 Prozent der Einsender waren Akademiker im engeren Sinn, knapp 4 Prozent waren Angehörige oder Studierende des Priesterstandes.

Die Beantwortung der Frage erfolgte etwa zur Hälfte in objektiver, nach allgemeinen Richtlinien zielender Form, wobei allerdings, bei einem weitgehenden Absehen von grundlegenden, etwa statistischen Angaben, soziologischen oder historischen Begründungen, eine gewisse Einheitlichkeit im Denken erkennbar wurde. Die andere Hälfte der Einsender trachtete aus — oft erschütternden — subjektiven Erfahrungen allgemeine Schlüsse zu ziehen, Ratschläge zu erteilen.

Die Vielfalt der erschlossenen Schicksale, Nöte, Sorgen, aber auch Hoffnungen und Pläne gibt einen Querschnitt durch das Leben und Denken unseres Volkes, der jeden Pessimisten und Nihilisten tief beschämen müßte! Der unverwundete gute Kern wurde sichtbar, wie es sonst vielleicht selten möglich ist. Sichtbar wurde auch, wie sehr unser Volk engeren Kontakt mit den führenden Kräften seiner Demokratie sucht und verdient, wieviel ungehobene Schätze an Vertrauen, Willen zur Mitarbeit noch einer besseren Erschließung harren.

Ein Drittel der Antworten kam aus Wien. Die Bundesländer beteiligten sich jedoch mit erfreulicher Lebhaftigkeit, ihre unverkennbare jeweilige Eigenart, ihre Persönlichkeit sozusagen, mit Stolz in die Waagschale legend und mit Frische und Weitblick an der Sache des ganzen Volkes interessiert. Die Mündigkeit der sogenannten ländlichen Intelligenz muß als sehr ermutigender Faktor gewertet werden. Niederösterreich hat sich mit 15 Prozent, Oberösterreich mit 13 Prozent, Steiermark mit 11 Prozent, Tirol mit 7 Prozent, Salzburg und Vorarlberg mit je 5 Prozent, Kärnten mit 4 Prozent, Burgenland mit knapp 1 Prozent und das Ausland mit 2 Prozent an den Einsendungen beteiligt.

Die Neinstimmen

In der großen Zahl der Einsendungen gab es nur zehn Neinstimmen. Sie kamen aus verschiedenen Kreisen und Gegenden und meinten alle dasselbe: Der „Studierte“ als Hungerleider, als Ißumsonst, als Unproduktiver belaste mit dem „Schreibtischunwesen“ die Volkswirtschaft zu sehr. Die beschäftigungslosen, überflüssigen Intellektuellen seien ein Gefahrenherd für den Staat. Ihr „Bildungsideal“ versuche das christliche Lebensideal zu verdrängen oder zu ersetzen. Eine Stimme beschuldigt die geistigen Arbeiter des „intellektuellen Konformismus“ aus Machtlust, was zu politischer Unsicherheit führe und geführt habe. Handarbeit, Handel und Gewerbe, das Bauerntum seien die Grundpfeiler des Staates, das neue „g e i- stigę Proletariat“ sei in seiner Ausbreitung zu hemmen, nicht zu fördern.

Relation zwischen Demokratie und Bildung

Hunderte von Stimmen jedoch, und besonders jene der Jugend, halten die Unterbewertung der nun einmal notwendig gewordenen geistigen Arbeit für einen vorübergehenden Zustand. Eine Hausfrau mit offenem Blick deutet die Zusammenhänge an, wenn sie meint: Die technische Revolution habe das Industrieproletariat entstehen lassen, dessen Arbeit anfänglich auch unterbewertet gewesen sei. Gerechtigkeit habe erst erkämpft werden müssen. Die Verfeinerung der Technik, die durch sie ermöglichte kulturelle Entwicklung hätten nun das geistige Proletariat entstehen lassen, das sich nun seinerseits die Soziale Einordnung und Gerechtigkeit erkämpfen müsse. Die Notwendigkeit dieser Entwicklung würd weitgehend erkannt, ja der Aufschwung des ganzen Landes von einer Steigerung und Vertiefung des Studiums, Verbreiterung der Allgemeinbildung, besserer Dotierung der Lehranstalten, besserer Honorierung der Lehrkräfte und sonstigen geistigen Arbeiter abhängig gemacht. Die meisten Einsendungen befassen sich mit dieser soziologischen Seite des Problems, wobei auf bereits vorhandene Lösungen in Skandinavien, in USA Und Deutschland, in mancher Hinsicht auch „hinter den Eisernen Vorhängen“ verwiesen wird. Keine Autorität der Eltern, der Vorgesetzten, der Volksvertreter ohne Bildung und fundiertes Wissen, kein Funktionieren der Demokratie ohne breite Allgemeinbildung, ohne einen humanistisch, aber auch differenziert fachlich und moralisch hochgezüchteten, auch entsprechend gewerteten Stand der geistigen Arbeiter.

Auch in der „Bauerei“

Sehr energische und intelligente Stimmen kamen aus ländlichen, besonders bäuerlichen Kreisen, die betonten, daß Bildung keineswegs nur den geistigen Arbeitern vorbehalten oder geboten sein solle. Ein hohes Maß von Allgemeinwissen sei heute in jedem Beruf erforderlich, auch hinter dem Pflug sei ein Bodeningenieur durchaus am Platze, im Wald ein Forstingenieur, in der Wirtschaft eine familieneigene buchhalterische Kraft, wenn fortschrittlich und ertragreich gewirtschaftet werden solle. Die Landjugend dränge zum Studium, eine lebensnahe Gestaltung desselben solle sie jedoch wieder auf das Land zurückfiihren. Ein Holzknecht stellt seinem Holzmeister das rührende Zeugnis aus, daß man bei ihm, dem Maturanten, nicht Knecht sei, sondern Mitarbeiter, Mitmensch. Und ein Vorarlberger Bauer schreibt, Studium sei schwere Arbeit, indes „wollen wir arbeiten und dadurch Herr bleiben im eigenen Hause Oesterreich“.

Kommerzialrat und Fußball

Auch Handel und Gewerbe betonen die Notwendigkeit besserer Ausbildung. Dieses Bürgertum, das einst zu den Mäzenen von Kunst und Wissenschaft gehörte, droht sich heute allzu scharf zu kommerzialisieren. Die Pflichtschule, die rein fachliche Ausbildung genügen nicht mehr, das Lehrlingswesen scheint veraltet. Der Drang zur Mittelschule ist aus den Bedürfnissen der Zeit entstanden. Angestrebt wird eine humanistische Grundausbildung, der eine fachliche Auffächerung in technischen und gewerblichen Mittelschulen, Werkschulen und ähnlichen Schultypen folgen müßte. Nur eine „kombinierte“ Ausbildung könne dazu führen, daß Handwerk seinen „goldenen Boden“ behalte, zugleich aber Kommerzialräte auch anderen Ehrgeiz entwickeln als den, Präsident eines Fußballverbandes zu werden.

Mehr als Schwielen an den Händen brennt Unwissenheit

Ein Forstarbeiter aus Oberösterreich schrieb diese erschütternden Zeilen. Viele Stimmen aus Land- und Industriearbeiterkreisen weisen darauf hin, daß Bildung kein Mittel des Klassenkampfes, weder von oben noch von unten, sein solle. Bildung müsse das Ziel „für alle“ sein; engere Fach- und Hochschulbildung dann das Ziel der hierzu Begabten, wo immer sie herkommen mögen. Der Arbeiter wisse mit seiner Freizeit zuwenig anzufangen, da ihm die Tore zu Kultur und Kunst, zur beglückenden Aufgabe des Erkennens, noch zu sehr verschlossen seien. In Wien maturieren nach Abendkursen und Abendschulen jährlich etwa 200 Menschen, meist aus dem Arbeiterstand. Eine Rentnerin schreibt von ihrer Verzweiflung, als sie aus Armut nicht studieren durfte, ein Arbeiter aus Kärnten mahnt, daß die Arbeiter Gebildete in ihren eigenen Reihen brauchen, um den stets neuen Anforderungen von Gegenwart und Zukunft gewachsen zu sein und zu bleiben.

Keine Einheitsmenschen, kein Gladiatorenvolk!

Die Lehrerschaft weist in vielen Einsendungen auf die Vielfalt der österreichischen Schultypen, auf die Breite der Bildungsmöglichkeiten hin. Die Einheitsmittelschule wird eher abgelehnt, die Aufschließung differenter Begabungen sei das Ziel, nicht die Heranzüchtung von Herdenmenschen. Manche Vorschläge gehen dahin, die Schulpflicht bis zum 18. Jahr zu erhöhen, das Pensionsalter dagegen ebenfalls zu erhöhen. Dies würde den neuen Tatsachen auf biologischem, psychologischem und soziologischem Gebiet entsprechen. Jedenfalls seien Reformen notwendig. Denn wenn heute von der „berühmten Wiener Schule“ gesprochen werde, sei nicht mehr die Medizin, sondern der Fußball gemeint. Der Materialismus sei über die Katheder ins Volk gekommen und müsse nun über die Katheder wieder ausgemerzt werden. Oesterreich wolle kein sterbendes Volk mit dem niedrigsten Kulturbudget, kein Gladiatorenvolk der Fußballer und Skikanonen sein, sondern ein Volk von geistig und körperlich und moralisch gleichermaßen ausgebildeten Mitarbeitern an einem sich erneuernden Europa.

Reformen

Die ältere Generation ist noch vielfach bereit, das humanistische Bildungsideal, die humanistische Mittelschule und Universität Oesterreichs als vorbildlich anzuerkennen.

Die jüngere Generation, und aus allen Teilen des Landes, ist an Reformen lebhaft und kritisch interessiert. Die meisten Forderungen lassen sich dahingehend zusammenfassen: allgemeine humanistische Grundausbildung in der Unterstufe, fachliche Aufgliederung der Oberstufe, Pflege des Typs der Werkschulen, besonders wo Internatsmöglichkeit besteht. In dieser Richtung liege auch eine Aufgabe konfessioneller Schulen. Das Universitätsstudium sollte in zwei Semestern eines allgemeinen „Studium generale“ Zusammenhänge zwischen den Fakultäten herstellen, in den späteren Semestern die fachliche Spezialausbildung bringen, wobei auf echte wissenschaftliche Tätigkeit und strenge Auslese Wert gelegt werden muß. Möglichkeiten für das Umsatteln, für Spät'studierende und für eine breite Erwachsenenbildung sind voll auszuschöpfen. Für das Frauenstudium werden von der älteren Generation Beschränkungen verlangt, die jüngere Generation nimmt die Gleichberechtigung als selbstverständlich hin: ja, die geistige Solidarität zwischen Mann und Frau wird in Beruf und Ehe als harmonisierender Faktor anerkannt, in der kinderreichen Ehe erst recht, da vernünftiges Wirtschaften und gute Erziehung der Kinder dem geschulten Verstand besser gelingen.

Der Ruhm eines Volkes ist die Summe seiner Geistigkeit

Rentnerinnen wie Universitätsdozenten, Maturanten und Fabrikdirektoren, Hausfrau und Künstlerin, Landwirt und Fabrikarbeiter waren sich in ihren Antworten darüber einig, daß „Bildung“ und „Studium“, bei aller Subjektivität der Meinungen, zu den Existenzproblemen des ganzen Volkes gehören. Fast alle wiesen in den Schlußsätzen ihrer Erörterungen darauf hin, daß vom guten Funktionieren unserer Schulen Aufstieg oder Versklavung abhängen können, daß keine Opfer, kein ermüdendes Werkstudententum, keine momentane soziale Notlage und unsichere Zukunft davon abhalten dürfen, die geistige Weiterentwicklung zu bejahen, notwendige Reformen einzuführen und die Grundlagen dafür zu schaffen, daß das österreichische Volk in allen seinen Ständen und Berufen über allgemein, fachlich und moralisch-religiös optimal ausgebildete Menschen verfügen kann. Nur so wird es seiner Vergangenheit würdig und seiner Zukunft und Freiheit sicher sein.

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