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Soziale Schulung

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Im November 1949 gründete die Arbeiterkongregation der Kalasantiner (Wien XV, Ge- brüder-Lang-Gasse 7) die erste und derzeit einzige gesamtösterreichische soziale Männerschule. Bei. täglichem Vor- und Nachmittags unterricht umfaßt ein Jahrgang zwei volle Schuljahre und endet mit rigorosen Prüfungen und einem Absolventenzeugnis. Die Absolventen nehmen heute in allen möglichen Sparten des sozialen Lebens Schlüsselstellungen ein.

Voraussetzung zur Aufnahme ist entweder die Matura, das Reifezeugnis einer mittleren Lehranstalt, gleichgültig welcher Kategorie, oder der Gesellen- und Facharbeiterbrief. Wir verlangen also eine abgeschlossene geistige Ausbildung oder eine abgeschlossene Berufsausbildung. Beides hat seine Licht- und Schattenseiten. Der Maturant einer allgemeinbildenden Mittelschule ist geistig wendiger, aber er nimmt die Sache nicht so lebensernst und studiert die sozialen Fächer genau so routinemäßig wie er alle anderen „Gegenstände" auf der Mittelschule studiert hat. Vor allem fehlt ihm der Kontakt mit den Menschen und mit den „Dingen". Wenn wir Ding mit res übersetzen, so können wir sagen: mit den Realitäten des Lebens. Der Junggeselle und junge Facharbeiter oder junge Meister tut sich dagegen schwer mit den „geistigen Fächern" wie Sozialphilosophie usw. Auch fühlt er immer wieder die mangelnde Allgemeinbildung. Aber er benützt jede freie Stunde, um diesem Mangel abzuhelfen. Ihm geht auf einmal nach der Enge seines Arbeitsplatzes eine neue große .geistige, vor allem soziale Welt auf. Es passiert der Seminarleitung immer wieder, wenn vor Abschluß die Vertreter von Körperschaften kommen, um einen Absolventen anzustellen, daß sie zunächst einen Maturanten wünschen, der meist auch besser reden und „Eindruck schinden“ kann. Nach längerer Ueberlegung geben sie aber oft dem sozial geschulten Jungarbeiter den Vorzug. Er kann sich besser bei den Kollegen durchsetzen und versteht es, an die Leute heranzu- kommep. Der Maturant eignet sich mehr für die Posten im Staatsdienst und für den Schreibtisch;

_s, Jungarbeiter mehr für i Tä gkeit in seiner Gewerkschaft, bei der politischen Örganisation, für die praktische Führung eines Lehrlingsheimes, für die kirchliche apostolische Arbeit, der oft im Ausgleich zur akademischen Führung der richtige Elan von unten her fehlt.

Was kann nun Schulung wirklich leisten und was nicht?

Schulung kann auch fehlende Vorbildung nicht ersetzen. Zunächst ist ein gewisses Maß von Allgemeinbildung erforderlich. Wie sie erworben wurde, ist gleichgültig, jedoch muß sie vorhanden sein. Mangelnde Allgemeinbildung kann auch nicht in einer sozialen Schule durch gesteigerte fachliche Bildung wettgemacht werden.

Die soziale Schulung im engeren Sinne kann nur fachliche Schulung sein, angefangen von der praktischen Sozialphilosophie bis zum Arbeitsrecht und zur Sozialversicherung. Aber auch bei dieser fachlichen Schulung sind die Möglichkeiten begrenzt. Wir unterscheiden Fachkenntnisse theoretischer und praktischer Art. Im eigentlichen Praktikum muß der einzelne am Arbeitsplatz selbst geschult werden. Aber auch Schulung zum Teamwork in Arbeitsgruppen ist notwendig. Jeder wird je nach Neigung und besonderem Interesse abgeordnet zur mehrmonatigen Praxis zum Beispiel zur Jugendgerichtshilfe, als Hilfserzieher in ein Lehrlingsheim, ins Gewerkschaftssekretariat der Einheitsgewerkschaft, als Erzieher in der Erholungsfürsorge, als Lokalreporter zu einer Tageszeitung. Wer einmal in der Landarbeiterkammer tätig sein will, arbeitet Sommer und Herbst auf einem großen Gutsbetrieb mit. Der zukünftige Gewerschaftler baut in einem Wiener Bezirk eine Gruppe der Jugendgewerkschaft auf und leitet sie. Diese Praktiken werden von erfahrenen Chefs inszeniert, ihr Fort- • gang wird streng kontrolliert und am Schluß ein Praktikumszeugnis ausgestellt. An die Direktion des Seminars ergeht eine eingehende Begutachtung des Praktikumsleiters einerseits über die positiven Ergebnisse, anderseits mit Anmerkungen, was beim Praktikanten noch fachlich, aber auch lebenskundlich und charakterlich zu erarbeiten sei

Zur Zeit der Parlamentssessionen genügt ein telephonischer Anruf der Seminardirektion, um die Nationalräte der einzelnen Bundesländer zu Gastvorträgen einzuladen und sie kommen gern, um über die verschiedensten Probleme des Bundeslandes, das sie im Parlament vertreten, zu referieren. Wenn die Schüler Gerichtsverhandlungen als Gäste beiwohnen, versäumt es der Richter nicht, sie nachher zurückzubehalten und ihnen eingehend zu erklären, warum dieses Urteil gefällt werden mußte. Aber auch die Einführung ins kulturelle Leben der Groß- und Weltstadt Wien fehlt nicht (Bibliothekswesen, Presse, Theater, Kino, Konzerte, Sport). Ebenso ins gesellschaftliche Leben. Die Schüler haben ihren eigenen Tanz- und Perfektionskurs und werden in der Faschingszeit zu erstklassigen Ballveranstaltungen eingeladen. Sollen sie doch selber einmal in den Landeshauptstädten führend und tonangebend im kulturellen und gesellschaftlichen Leben sein. Hier gibt es keine Schwierigkeiten, und die Schüler aus der Provinz finden sich sehr schnell hinein.

Ein besonderes Wort zur juridischen Ausbildung. Oft werdep wir gefragt, warum wir auf diese so großen Wert legen. Die Leute werden doch keine Richter und Rechtsanwälte. Bei der heutigen Staatsomnipotenz — und der Staat wird immer mehr Lebensgebiete an sich reißen — hat der Jurist das Heft in der Hand, angefangen von so intimen Sachen wie der Ehe über Steuer, Vereinsgesetzgebung usw. bis zum Verfassungsrecht. Diese Partie des Studiums ist sehr anregend, Vor allem lebensnahe, aber doch schwierig, weil es durchdringende Logik, Umgehen mit Definitionen und große geistige Wiffheit verlangt. Diese bewährt sich besonders in der Kasuistik, und ein juristisches Abendseminar in Kasuistik mit der ganzen Gruppe wird oft zu einem gemütlichen anregenden Heimabend wie bei einer Simultanschachpartie.

Eine soziale Schulung geht nicht ohne Einsicht in die Volkswirtschaft. Besonders heute, da die Vertreter der Arbeiterschaft schon Sitz und Stimme im Vorstand großer Unternehmen haben. Volkswirtschaftslehre, Wirtschaftsgeschichte, Buchhaltung, Steuerkunde sind zwar trockene und unbeliebte, aber notwendige Fächer. Erst wenn man diese gründlich beherrscht, werden einem die modernen Auseinandersetzungen interessant. Für diese Fächer gehören besondere Begabung, Interesse und Neigung. Die Güte der Schulung kann letztere nicht ersetzen.

Berufskunde hat trotz der großen ''sozialen Bedeutung eine ungünstige Situation, einerseits weil dieses Gebiet so umfangreich ist — wir haben in Oesterreich 4000 normierte Berufsbezeichnungen —, so daß nur ein ganz schmaler Ausschnitt vorgebracht werden kann, anderseits weil die unmittelbare Anschauung fast unentbehrlich ist.

Psychologie nimmt natürlich eine besondere Stellung ein. Selbst auf den theologischen Fakultäten wie auf der Wiener Universität wird nicht nur Pastoralmedizin, sondern auch eigene Pastoralpsychologie von Fachgelehrten unterrichtet. Praktische Menschenkenntnis kann dem jungen Menschen nicht gelehrt werden. Sie kommt erst mit der Reife des Aelterwerdens, nach vieler Erfahrung mit sich selber und mit anderen. Frauen sind da im Vorteil. Sie haben mehr Instinkt für Menschenkenntnis und Menschenbehandlung.

Ich selber unterrichte nicht an meiner Schule, ich bin nur, modern gesagt, der Manager der Schule. Freilich haltj ich auch öfter Stunden, die dann angesetzt ‘werden, wenn irgendeine Lehrkraft an einem Tage ausfällt. In meinen Stunden bringe ich Berichte aus meiner fortlaufenden Tätigkeit in der Welt der Arbeit, Berichte Von Arbeitermissionen in Industriestädten, von den Gewerkschaften, von der Politik, die im Lande geführt wird und alles das, was in die einzelnen Lehrgegenstände nicht hineinfällt, aber doch gesagt werden muß. Ich zeige auch die geistige und praktische Verbindung zwischen den Lehrfächern auf, gebe Tips für das geeignetste Studium der einzelnen Fächer.

Vor allem aber halte ich es für die Auf gabedes Direktors, das zu sein, was die Schule in der Gesamtheit der Lehrkräfte nicht leisten kann: den einzelnen individuell zu betreuen, ihn für die Gegenstände zu interessieren, die ihm liegen und für die er besonders geeignet erscheint; ihm die Literatur zu verschaffen, die er braucht; mit ihm darüber zu diskutieren, um zu sehen, wie weit er in die einzelnen Probleme eingedrungen ist; ihm Perspektiven zu eröffnen, ihm die entsprechenden Praktikumsgelegenheiten zu ermöglichen, in denen er sich erproben will; ihm freundlich ernste Winke zu seiner charakterlichen Vervollkommnung zu geben, ihm ganz praktisch zu zeigen, wo und wie er an sich arbeiten muß, immer wieder in Stunden der Müdigkeit und Verzagtheit Mut zu machen und schließlich ihn auf den Platz im Leben zu bringen, wo er seiner sozialen Aufgabe mutig und freudig gerecht wird.

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