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Die entfesselte Phantasie

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„Man kann nicht mehr von dem alten akademischen Konzept ausgehen, große Künstler auszubilden ... Kunst und aus Kunst gewonnene Erkenntnisse können ein rückfließendes Element ins Leben bilden. Die isolierte Kunsterziehung muß abgeschafft werden. Das künstlerische Element ist generell in alle Fächer hineinzutragen, in die Muttersprache, Geographie, Mathematik, Turnen. Ich plädiere für ein Bewußtsein, daß es nach und nach keine andere Möglichkeit gibt, als daß die Menschen künstlerisch erzogen werden.“

Solche und ähnliche Vorstellungen mehr finden sich in einer Broschüre über Materialien zu Joseph Beuys, jenem bundesdeutschen Künstler, der jüngst in der Wiener Galerie „St. Stephan“ seine „nasse Wäsche“ als Kunstwerk präsentierte.

Zwar haben schon namhafte Gesellschaftskritiker vor Beuys diese Erkenntnisse artikuliert, zwar gibt es immer wieder Kunstschaffende, deren Werke ihren theoretischen Aussagen nachhinken, dennoch sollen Gedanken wie diese zur Bewußtseinsveränderung beitragen: Zurück bleibt das reale Wissen, daß Kreativität nicht auf jene beschränkt ist, „die eine der herkömmlichen Künste ausüben.“ Allzu oft verdecken Konkurrenz- und Erfolgsaggression das jedem menschlichen Wesen innewohnende Kreativitätspotential. Die

Schule möge der Ort sein, wo dieses Potential erforscht und entwickelt wird.

Wie denken nun Experten hierzulande über Begabung, Phantasie, Kreativität? Was geschieht an Österreichs Schulen im Fach Kunsterziehung? Gelingt es einigermaßen, unseren Kindern jene Tiefendimension zu geben, in der sie sich frei entfalten, in der sie zu humaner Kommunikation heranreifen-jene Ebene der unbegrenzten Kombinatorik, der unmittelbaren Innovation? Nicht zu Unrecht spricht der Gartenarchitekt Le Roy von der „education permanente“, die verschüttete Tedente wecken müsse, und vom Mut, diese Talente dann auch anzuwenden.

Denn eines ist sicher, Genialität im Kindesalter ist nahezu allgemein; Kinder sind Genies. „Aber“ - so Hans Saner Anfang 1979 in der „Presse“ über die Zerstörung der Phantasie -„wir sind darauf eingeschworen, es ihnen abzusprechen“. Und die Kunsterziehung vergangener Jahre war kaum in der Lage, die „kindlichen Formen der sensorischen und gestalterischen Genialität“ zu wek-ken und zu aktivieren.

Bazon Brock - seit über einem Jahr Professor an der Hochschule für angewandte Kunst und damit auch Ausbildner von künftigen Kunsterziehern - ist überzeugter Verfechter des Konzeptes „Erziehung zum anschaulichen Denken“: Die dem visuellen Material innewohnenden Denkprozesse werden erklärt, anhand von Kulturerzeugnissen beispielhaft demonstriert und schließlich in Beziehung zur Realität, zum persönlichen Daseinserlebnis gesetzt.

Auf diese Weise verliere das Kind die Scheu vor der Kunst, erkenne die Gesetze jeder Schöpfung, versuche sich auf dem Weg der Nachahmung zu orientieren, sich auszudrücken. Es gelte, mittels der Wahrnehmungstätigkeit gewisse Prozesse der Phantasie, der Assoziation in Gang zu setzen; es gelte, den Schüler in seiner individuellen Alltagssituation dazu zu bewegen, sich in Symbolen auszudrücken, den Umgang mit Dingen zu erfinden. Allmählich entwickle sich dann die Fähigkeit, Probleme zu lösen, sinnvolle Erfahrungen aus der Umwelt zu ziehen, das Lebenselement der Veränderung und des Todes zu erfassen und entsprechende Verhaltens- und Denkweisen zu erlernen. Dies nämlich ist eines der Ziele der Kunsterziehung: Mensch zu werden und das Leben zu bewältigen.

Die Grenzen im Kunstbereich sieht Brock in der Leistungsfähigkeit eines Werkes:

„Es kann nicht Grenzen in der Auswahl der Materialien geben, weder ästhetisch noch ethisch“, einzig und allein das Kriterium der Leistung sei beim Selektionsvorgang heranzuziehen. Ein Kunstwerk erweist sich als leistungsfähig, „wenn es auf sich selbst verweist“, wenn es pädagogisch einsetzbar sei. Das Bild kann Lösungsmöglichkeiten aufzeigen, es könne aber ebensogut Uner-klärbarkeit, Unbeantwortbarkeit symbolisieren. Denn auch das soll im Unterricht vermittelt werden: Unbeantwortbares auszuhalten, Unlösbares zu ertragen.

In Absprache mit den Eltern und ausgehend von der jeweiligen Altersstufe sei es eine der Aufgaben der Kunsterziehung, Gewalt, Aggression, Ausbeutung und Unterdrük-kung in jeder existierenden Form zu thematisieren, Bewältigungsmöglichkeiten aufzuzeigen, um damit auch auf negative Lebenserscheinungen vorzubereiten.

Lehrinhalte, Methoden und Ziele sind formuliert. Eine erstaunliche Vielfalt an Angeboten trägt der Plura-lität unserer Gesellschaft Rechnung. Einer Pluralität, der aber auch Maß und Grenzen gesetzt werden muß, einem Pluralismus, der in seiner Selbstbeschränkung, die Voraussetzung zu Widerspruch, zu aktivem Engagement bieten soll. Denn nichts führt so sicher zu Lähmung, Apathie und Gleichgültigkeit als maß- und kritikloses, von allen Wertvorstellungen befreites Ausleben seiner selbst. Wohldosierte und entsprechend verschiebbare Grenzen stärken menschliche Kreativität. Widerstand und Freiheit sind die psychologischen Eckpfeiler geistiger Entwicklung und Selbstverwirklichung des Menschen.

Der neue Lehrplan für bildnerische Erziehung in Volks- und Haupt-schule - er soll im Herbst 1979 in Kraft treten - erfaßt bereits mannigfaltige Bereiche: neben dem klassischen Zeichnen und Malen der Farbbereich, Plastik- und Graphikbereich, Photo- und Filmbereich, Themen aus Architektur und Medien. All dies wurde, sozusagen illegal, von interessierten Lehrern in allen Schultypen bereits bisher unterrichtet. Doch wie viele Kunsterzieher sind tatsächlich engagiert, wie viele bedienen sich der offenen - sicherlich sehr mühsamen - Methode des pädagogischen Vermitteins, des Wek-kens von Ideen, der Erziehung zur schöpferischen Erneuerung? Nach Aussage von Kennern der Szene: wenige.

Die Vorurteile der Eltern und des übrigen Lehrkörpers gegenüber der Kunsterziehung zerstören in den meisten jungen Lehrern viel an persönlichem Einsatz, an Mut und an pädagogisch richtigem Verhalten. Nur zögernd und sehr vage wird in diesem Fach die Dimension der Kommunikations- und Kritikfähigkeit, der Sensibilisierung, der Identi-tätsfindung und Sozialbildung erkannt; weit mehr betrachtet man Kunsterziehung als wenig nützlich, bestenfalls als Freude für das Kind oder als „Ausgleichstherapie“ zu den leistungsorientierten Hauptfächern.

Die pädagogische und psychologische Ausbildung des Kunsterziehers ist mangelhaft; erst allmählich findet die Bedeutung dieser Aspekte ihren Niederschlag in den Studieninhalten. Dazu kommen überfüllte Klassen und eine geringe Anzahl von Wochenstunden. Wohl ist an der AHS (Allgemeinbildende Höhere Schule) die Bildung kleinerer Gruppen vorgesehen, während man in der Hauptschule noch um diese Vergünstigung kämpfen muß - dennoch bleibt die Individualbetreuung mehr oder weniger Illusion; der Lehrer ist gezwungen, durch disziplinare Maßnahmen die Fülle der Schüler im Zaum zu halten; dadurch aber wird der fundamental notwendige innere Freiheitsraum wesentlich eingeengt.

Angesichts der lebenswichtigen Funktionen der bildnerischen Erziehung und im Interesse der Inhalte und Ziele dieses Faches weist die Landesgruppe Wien des Bundes österreichischer Kunst- und Werkerzieher unter dem Vorsitz von Magister Heribert Jascha auf konkrete Mißstände hin: Etwa die wiederholten Versuche, die Noten in Kunstfächern abzuschaffen, wiewohl überprüfbare Lerninhalte existieren und die Schüler die Benotung wünschen. Die Konsequenz wäre eine zusätzliche Diskriminierung dieses Unterrichtsbereiches. Das Fehlen von Lehr- und Arbeitsbüchern sowie die Verminderung der Stundenanzahl des Kunstunterrichtes in den meisten Schulversuchen der AHS-Ober-stufe stellen eine weitere Behinderung für den Lehrer dar.

Zweifellos wird das Bemühen engagierter Kunsterzieher beeinträchtigt: sei es durch die Unwissenheit der Erwachsenen, sei es - und das stimmt bedenklich - durch eine gewisse Unterbewertung von sozialem Verhalten und Persönlichkeitsbildung bei gleichzeitiger Überbewertung des Leistungs- und Konkurrenzprinzips.

Es wäre schon viel - gewonnen, würde die Schule ihren Schwerpunkt - nämlich das Vermitteln von praktischem Wissen - verlagern, da dieses „lebensnahe“ Wissen in einem nicht unbeträchtlichen Maße zum Zeitpunkt des Abganges des Schülers ohnehin bereits überholt ist. Wichtiger erscheint die Pflege jener schöpferischen Phantasie, die den Menschen befähigt, zu gestalten: Bilder und Plastiken, seinen Beruf, sein Leben und schließlich gar die sozialen Verhältnisse insgesamt. Karl Jaspers erkennt in der Phantasie die „positive Bedingung für die Verwirklichung menschlicher Existenz“. Unsere Kinder hingegen scheinen eine salomonische Lösung gefunden zu haben: Im Spannungsfeld zwischen den Wünschen der Erwachsenen - Themen werden vorgegeben -und ihrer eigenen Welt der Phantasie ist es ihnen gelungen, ihre Identität zu wahren. Der achtjährige Leopold zeichnet mit Hochgenuß Ostereier, Frühlingsblumen, den Osterhasen. Mit Stolz zeigt er auf die Zeichnung: „Und hier steht mein Auto und mein Flugzeug“. Später bringt er weitere Zeichnungen aus früherer Zeit. Eines haben sie alle gemeinsam: Auto und Flugzeug fehlen nie.

Dasselbe macht die neunjährige Christine. Auch sie zeichnet, was von ihr verlangt wird, ohne jemals zu vergessen, ein lächelndes Gesicht in das Bild einzubringen. Christine hat zwei Geschwister. Ihre Eltern erkennen jede ihrer Zeichnungen an dem lächelnden Gesicht.

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