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Die Schulgemeinde

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Der durch das Lehrziel bedingten Vielheit der Schultypen steht die Einheit der Erziehungsaufgabe der österreichischen Schule gegenüber. Die innere Ausgestaltung und endgültige Form der verschiedenen Schularten mag sein wie immer, allen soll das „österreichische Humanitätsideal“ als Leitstern für die Erziehung vorschweben, das „die' Ideen der sozialen Hingabe, der persönlichen Freiheit und gleichzeitigen Anerkennung 'der Rechte der andern sowie der Pflicht, alle Kräfte in den Dienst der Gemeinschaft zu stellen“ umfaßt. „Demokratisches Verantwortungsbewußtsein, Strenge gegen sich selbst und Duldsamkeit gegen den Nächsten werden als Wesenszüge des zu formenden Charakters bezeichnet.“ Im Anschluß an diese — auszugsweise zitierten — „Allgemeinen Richtlinien für Erziehung und Unterricht“ vom 3. September 1945 heißt es im Verordnungsblatt des Stadtschulrates für Wien vom 15. Oktober 1946: „Unter den Wegen zur Verwirklichung der angeführten Erziehungsaufgabe erscheint an erster Stelle die klug angebahnte und später immer reicher entfaltete Schülerselbstverwaltung in der Schulgemeinde.“ In deren Aufgabenkreis fallen unter anderen Aussprache und Meinungsbildung über Angelegenheiten des Schulgemeinschaftslebens, Vorbringen von Anregungen, Wünsdien und allenfalls Beschwerden, aktive Teilnahme an der Planung von sportlichen und künstlerischen Veranstaltungen, Feiern usw. „Gegenstände, die augenscheinlich außerhalb der Kompetenz der Schule liegen oder solche, deren Erörterung mehr trennend als verbindend wirken muß, vor allem also alle irgendwie parteipolitisch betonten, sind grundsätzlich auszuschalte n.“

Die Ungunst der äußeren Umstände hat zur Folge, daß man heute noch keinerlei Urteil über die Art der praktisdien Durchführung dieser Verordnung abgeben kann. Tatsache ist, daß außerhalb der Schule die Tragweite derselben und die sich aus ihr ergebenden Folgerungen nicht erkannt wurden. Den Pessimismus jener zu teilen, die auf den Mißerfolg ähnlicher Bestrebungen der vergangenen Jahrzehnte oder uf das Schlagwort „Jugend will zu Jugend“ und seine Irrwege verweisen, liegt kein Grund vor. Die Lage nach dem zweiten Weltkrieg ist gerade im Hinblick auf die Jugend eine ganz andere als vor siebenundzwanzig Jahren. Auf der anderen Seite kann vor einem sklavischen Kopieren ähnlicher Einrichtungen in anderen Ländern nicht genug gewarnt werden.

Bei den Anregungen des Erlasses über die Schulgemeinde handelt es sich heute nicht um Einzelfragen, ob sich dies oder jenes besser mit oder ohne Mitwirkung der Schüler durchführen ließe — das wird die Erfahrung lehren —, sondern um nicht mehr und nicht weniger als die Wiederherstellung der Schule als der tragenden Säule der Erziehung. Der Unterricht bildet naturgemäß vor allem Verstand und Gedächtnis aus, in der Schulgemeinde soll nun die Möglichkeit geschaffen werden, die Gestaltungskraft und Selbständigkeit der Jugend, ihre Phantasie und ihre Lieblingsbeschäftigungen auszubilden, vohne daß die Gefahr besteht, daß Menschen, welche der Schule und den Eltern gleich fremd sind, den natürlichen Überschwang des jungen Menschen im Interesse ihrer Ziele ins Krankhafte zu steigern vermögen. Vielmehr sind jene Kräfte, die sich bewußt zwischen Schule und Elternhaus einschieben wollen, um durch Propagierung einer verkehrten Wertordnung Lehrer und Eltern zu verhöhnen, von der Schuljugend abzuhalten.

Außerhalb der Schule stößt die Jugend immer wieder auf das Trennende zwischen den Menschen, in der 9chulgemeinde kann sie das weite Gebiet des Gemeinsamen erfahren und zugleich erkennen, daß Verschiedenheit der Auffassungen nicht die physische Überwältigung des anderen zur Folge haben darf. Denn jede Aussprache unter Schülern, der ein wissenschaftlich geschulter und vom Geist wahren Menschentums erfüllter Lehrer als Berater beiwohnt, wird — zumindest in den äußeren Formen taktvoll — vom Streben nach Wahrheit ohne Rücksicht auf Opportunität erfüllt sein. Sodann wird, wenn eine Schulgemeinde den Schülern wirklich eine volle Entfaltung ermöglicht, die Zersplitterung des jungen Menschen, der oft gerade die Begabten unterliegen, jenes Suchen nach Erfüllung des natürlichen Betätigungsdranges, das so viele von ihren eigentlichen Pflichten als Schüler abbringt, in die richtigen Bahnen gelenkt werden. Wie vielen Menschen bleibt eine innere Unbefriedigtheit ihr ganzes Leben als Erbe ihrer Schulzeit: sie haben nie gelernt, eine Pflicht ernst zu nehmen, fassen tausend Dinge an und müssen so stets leere Hände, leere Herzen haben.

In der Selbstverwaltung der Schüler gibt es auch offensichtliche Gefahren. So ist zum Beispiel ihre Heranziehung zur Aufrechterhaltung der Disziplin oder zur Geldgebarung bedenklich, weil sie die Verantwortung hiefür gar nicht tragen und im Ernstfälle nicht verantwortlich gemacht werden können. Auf diese Weise wird ein falsches Verantwortungsgefühl anerzogen, das sich immer auf den nächst Höheren ausredet.

Der Erlaß über die Schulgemeinde kann also einen wesentlichen Schritt vorwärts zur Erziehungsaufgabe der Schule bedeuten. Er findet eine wichtige Ergänzung in einem anderen, fast gleichzeitig, am 25. Oktober 1946, veröffentlichten Erlaß über die Bildung der Elterngemeinschaften.

Hier wird das Recht des Elternhauses auf die Erziehung betont, und auch hier wird ausdrücklich Parteipolitik ausgeschlossen. Beide Erlässe bilden gewissermaßen eine Einheit. Wenigstens • theoretisch stehen Schule und Familie wieder als die Träger der Erziehung da. Die Zukunft wird lehren, ob die hier eröffnete sdiöne Hoffnung erfüllt wird oder ob wiederum diese Ansätze einer Gesundung auf dem Gebiet der Jugenderziehung vernichtet werden.

Familie und Schule müssen die Garanten der Ehrfurcht vor dem Eigenleben eines jeden heranwachsenden Menschen sein und ihn vojr dem Einstampfen in die breite, willenlose Masse bewahren, die unser Volk geworden wäre, wenn noch weiterhin Partei die Familie, Politik die Schule ersetzt hätten.

Die Bedeutung der Familie als Erziehungsfaktor erfordert allerdings ihren Schutz darin, daß etwa staatliche oder politische Organisationen die einzelnen Familienmitglieder so sehr für sich fordern, daß ihr Heim im besten Fall zu einem gemeinsamen Eß- und Schlafplatz degradiert wird

Auch unser Optimismus für die Schule als Erziehungsstätte kann freilich solange als rosarot bezeichnet werden, als nicht zwei wesentliche Voraussetzungen erfüllt sind: Die endgültige Festlegung und innere Ausgestaltung der verschiedenen Schultypen muß in dem Bewußtsein geschehen, daß sie der Heranbildung der Jugend eines Volkes und Staates gilt, dessen Kultur eine christliche und abendländische ist. Sodann bedarf die Schule der absoluten Freiheit des Lehrers, der nicht einer politischen Partei, sondern allein den Eltern und seiner vorgesetzten Dienstbehörde gegenüber die Verantwortung trägt für die Ausbildung und Erziehung der Jugend. Und diese Verantwortung kann er nur tragen, wenn seine eigene berufliche Ausbildung umfassend und gründlich ist, in seinem Herzen aber hingebende Liebe zur Jugend brennt.

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