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Lehrer und Menschenbild

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Es ergibt sich aus der unersetzbaren Funktion des Lehrers innerhalb unserer Gesellschaft, daß sich die Diskussion um ihn von Zeit zu Zeit immer neu entzündet. Die bedenkliche Tatsache des Lehrermangels hat ihn gerade jetzt wieder zu einem aktuellen Thema gemacht, das in der Tagespresse ebenso wie in Gewerkschaftszeitungen und kulturpolitischen Wochenblättern abgehandelt wird. Dabei haben sich dienstrechtliche, soziologische und politische Fragen stark in den Vordergrund geschoben. Im folgenden soll der Akzent auf die ganz wesentliche Aufgabe des Lehrers als Vermittler von Werten gelegt werden.

Im Laufe der Geschichte hat der Lehrer immer wieder im Dienst einer „Obrigkeit“ die Werte der jeweiligen Kultur und Zivilisation weitergegeben, ob es nun die Kirche, der Staat oder private Institutionen waren. Der moderne Lehrer weiß sich von einer demokratischen, weltanschaulich pluralistischen Gesellschaft beauftragt, „an der Entwicklung der Jugend nach sittlichen, religiösen und sozialen Werten sowie nach den Werten des Wahren, Guten und Schönen“ mitzuwirken. Schon an dieser Formulierung und Reihung der Werte ist die christlich-abendländische und abendländisch-philosophische Wurzel des Zielparagraphen für alle unsere Schulen in Österreich zu erkennen.

Wenn man die der jeweiligen Geschichtsepoche beziehungsweise der herrschenden Gesellschaftsschicht verpflichteten und daher wandelbaren Forderungen an den Lehrer abstrahiert, so ergeben sich gleichsam die immerwährenden Aufgaben des Lehrenden, wie sie in unserem von Antike und Christentum geprägten Kulturkreis gewachsen sind.

Die existentielle Grundfunktion alles Erziehens und Unterrichtens und das unverrückbare Erziehungsziel ist, aus einem bloß kreatürlichen Menschen einen „menschlichen Menschen“ zu machen, klassisch formuliert: aus dem homo einen homo vere humanus zu formen. Schon im Wort „erziehen“ klingt die Tätigkeit des Hinüberziehews auf eine höhere Stufe des Seins an. Pestalozzi hat Vorgang und Ziel etwa so dargestellt: Die Bildung soll den Menschen aus dem natürlichen, sinnlichtierischen 25ustand über den gesellschaftlich-rechtlichen zum moralisch-sittlichen Zustand führen. Das bedeutet gleichzeitig, daß der Mensch aus der Anomie, der Gesetzlosigkeit des Augenblicks, über die Heterono-mie, das äußerlich verbindende Gesetz der Gesellschaftsordnung zur Autonomie, dem innerlich bindenden Gesetz des eigenen sittlichen Bewußtseins geführt werden müsse. Der Weg dazu führt nach Pestalozzi über die Religion, „die Quelle der Gerechtigkeit und allen Weltsegens, die Quelle der Liebe und des Brudersinnes der Mensahheit“.

Mag sich die Pädagogik noch so ehr modernisieren, anpassen und im Vordergründigen mit großen Erfolgen aufwarten, diese Grundpfeiler integraler Bildung und Erziehung wird sie wohl immer als Fundamente ihres pädagogischen Bauens zur Kenntnis nehmen müssen.

Voraussetzung für die Anerkennung eines innerlich bindenden Gesetzes ist der Aufbau einer Rangordnung der Werte im heranwachsenden Menschen unter der Führung des Erwachsenen, konkret des Lehrers und Erziehers. Er muß Werte vermitteln und einstufen. Er führt die zu Erziehenden in die Ordnung des Daseins, zur Erkenntnis dessen, was unser Leben geordnet, sinnvoll und werthaft macht. Allerdings kann nur der Lehrer Werte vermitteln, der selbst Wertträger ist. Die in ihm aufgebaute Wert- und Ordnungswelt lebt er vor — sein allerwichtigstes Tun — und gibt sie weiter.

Das Leben hat verschiedene Werte, die untereinander nicht gleichrangig sind; hier gibt es ein Oben und ein Unten. In der Wertpyramide, wie sie Spranger, der Pädagoge aus der Zeit der deutschen Jugendbewegung, dargestellt hat, rangiert ganz unten das Materielle, während nahe an der Spitze Kunst und Wissenschaft und ganz oben das Heilige steht. Wie ein Mensch wertet, was in seiner Werthierarchie oben und unten ist, das ist seine persönliche Weltanschauung. Sie kann uns aber nicht gleichgültig sein, denn sie bestimmt das pädagogische Tun; und die Pädagogen, die behaupten, sie hätten keine Weltanschauung, haben erst recht eine, und zwar eine sehr deutlich bestimmte.

Für die Ausbildung des Lehrers, ob sie seminaristisch, halb- oder ganzakademisch geschieht, ist diese Schau so wesentlich wie bei kaum einem anderen Beruf, dem Priester ausgenommen. Es kann für einen, der echte Werte vermitteln und in eine tragende Ordnung einführen will, nicht gleichgültig sein, wie er zu seinem Hauptvermittlungsgut steht und welche Rangordnung er wählt. Nach Herbart soll der Lehrer immer unterrichtend erziehen und erziehend unterrichten. Das hat der gute Lehrer zu allen Zeiten getan. Aber heute, angesichts der starken außerschulischen Einflüsse und des häufigen Versagens der Familie muß sich der Akzent im pädagogischen Tun des Lehrers ganz bewußt auf das Erziehen verlagern. Wird doch die Schule heute vielfach zum einzigen Ort, der eine sinnvolle Daseinsordnung anbietet und in diese hinüberzieht, oft mit ganzer Kraft, mit „Gewalt“ geradezu, freilich im Sinne des pädagogischen Eros.

In jedem Menschen sind viele Möglichkeiten angelegt. Nur der Mensch hat Würde, nur ihm ist die Freiheit eigen. Das Tier muß, der Mensch kann und soll. Aus dem Sich-entscheiden-Können erfließt das Eigentliche der Freiheit. Dem Zögling den Weg dahin zu zeigen, ihn in die Freiheit zu führen, das ist eine Urfunktion des Lehrers. Mit seinem Körper, so formuliert der Pädagoge Göttler, gehört der Mensch der Natur und damit der Zivilisation an, durch den Geist ist er der Menschheit und Menschlichkeit und damit der Kultur verpflichtet, mit seiner Seele aber reicht er in den Bereich des Transzendenten und Göttlichen. Aufgabe aller Lehrenden und Erziehenden ist die bewußte und harmonische Ausbildung aller drei wesentlich menschlichen Seinsformen. Der ganze Mensch muß gesehen „und gebildet werden. Jede Überbetonung in der Dreiheit Leib, Geist und Seele, die letztlich doch eine Einheit ist, hindert die vollmenschliche Harmonie. Der ganze Mensch in Harmonie und Seinsfülle ist das Erziehungsziel schlechthin.

Wie dieses konkret aussieht, hängt vom Menschenbild ab. Zu jedem Lehrer könnte man sagen: Sag mir, welches Menschenbild du hast, und ich sage dir, wie du erziehst. Das Wort „bilden“, das wir für die pädagogische Tätigkeit gebrauchen, heißt: einer Sache Gestalt und Wesen geben. Der echte Lehrer ist wie ein Künstler, der auf ein bestimmtes Bild hin meißelt, feilt, hämmert, knetet und formt, wenn auch der Vergleich mit Vorsicht zu gebrauchen .Ist, weil es sich keineswegs um totes und willenloses Material handelt. Jedenfalls aber steht vor dem inneren Auge des Formenden ein ZielhUd, das mehr oder weniger zu erreichen ist. Für den Lehrer stellt sich daher unausweichlich die Frage: Was ist der Mensch? Ist er ein aufrecht gehendes Säugetier oder mehr? Ist er nur im kosmisch-terrestrischen und dm organisch-biotischen Prozeß zu verstehen? Ist er nur ein Getriebener oder vor allem ein Sinnorientierter? Ist er animal rationale, und was ergibt sich daraus? In der Beantwortung dieser Fragen scheiden sich die Geister. Daß der Mensch Person ist, wird noch allgemein anerkannt. Für den christlichen Pädagogen ist der Mensch durch seine Geistseele ein Abbild und Ebenbild Gottes. Für ihn ist er der, den die Genesis (8, 21) so darstellt: „Ja, wenig niedriger hast du ihn gemacht denn Elohim, und mit Ehre und Hoheit hast du ihn gekrönt. Aber der Höhe seiner Bestimmung steht eine Tiefe voll Furchtbarkeit entgegen.“

Der so Dargestellte, der letztlich in der gebrochenen Ordnung stehende Mensch ist der wahre, der wirkliche Mensch. So haben ihn schon die Griechen in ihren Dramen gezeichnet, und so begegnet er uns täglich in der Schulstube, mögen Aufklärung und Sozialismus den jeder Weisheit und Bildungserfahrung hohnsprechenden, unwirklichen und daher naiven Satz „Der Mensch ist gut“ als Arbeitshypothese aufstellen. Der wirklichkeitsvertraute Lehrer weiß um die fragilitas humana, er weiß um das Herz, das nicht zu ergründen und dessen „Dichten und Trachten von Jugend auf böse ist“ (Gen. 8, 21). Aber weil er auch von der Erlösung weiß, darf er darangehen, aus dem vermeintlich guten einen besseren Menschen zu machen, aus dem homo, wie er ist, einen menschlichen Menschen zu bilden.

Den wahren, das heißt den wirklichen Menschen liebend zu sehen und zu bejahen, das ist wohl der innerste Kern aller Pädagogik. Ich glaube, daß der christliche Lehrer die beste Voraussetzung für diese zugleich realistische und optimistische Schau seines Zöglings mitbringt.

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