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Humanistische Bildung und europäische Kultur

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Was ist Bildung? Gewiß nicht eine bestimmte, als Mindestmaß erforderte Menge von Kenntnissen. Bildung hat — unmittelbar — mit Kenntnissen überhaupt nichts zu tun. Bildung ist „Geformtheit“, Erlebnisfähigkeit, erzogen und herangebildet durch das Erleben, Verstehen und Empfinden von kulturellen Werten, die eben dadurch „Bildungswerte“ werden. Wer ein Kunstwerk in seiner Schönheit zu empfinden, einen Gedankengang nachzudenken, eine Dichtung innerlich nachzuerleben dadurch befähigt worden ist, daß ihm im aufnahmefähigen und bildbaren Alter derartige Kunst- und Denkerlebnisse nahegebracht wurden, ist gebildet, unabhängig davon, wie viele solcher Erlebnisse er gehabt hat, aus welchem Kulturgebiet diese Bildungswerte stammen und wieviel ?r, an reinem Kenntnismaterial, über die Erzeugnisse der Kunst und des Denkerts, über die äußeren Tatsachen der Kulturgeschichte weiß. Ein Gebildeter kann sehr wohl vieles Tatsächliche nicht wissen und nicht kennen, wie umgekehrt jemand, der viele Kenntnisse über Wissenschaft und Kunst hat, ohne daß sie in ihm zum Erlebnis geworden sind, noch kein Gebildeter ist.

Demnach wäre es also gleichgültig, an welchen Bildungserlebnissen und durch welche Kenntnisse Bildung als Erlebnisfähigkeit jeweils erworben wird? An und für sich ist es gewiß so. Aber es handelt sich bei der Frage der Bildung ja nicht nur um die subjektive Aufnahmsfähigkeit des einzelnen, sondern auch darum, daß die Wechselwirkung von geistigem Schaffen und geistigem Aufnehmen eine Gemeinschaft erzeugt, die in der gleichen Ge-stimmtheit, der ähnlich geformten Aufnahmsfähigkeit das kulturelle Leben als Ganzes erst möglich macht. Es ist wahr, daß jedes Erlebnis die Aufnahmsfähigkeit für Erlebnisse gleicher Art heranbildet. Aber nur gemeinsames Erleben verbindet und einigt.

Es ist also nicht erstaunlich, daß Bildung, als lebendige Kulturgemeinschaft, vor allem in der gemeinsamen Geschultheit an denselben Kultürerleb-nissen, in dem gemeinsamen geistigen Erleben bestimmter Kulturwerte besteht, die diese Gemeinschaft eben als die für sie diarakteristischen empfindet. Das erklärt auch, wieso es Bildungsgemeinschaft gibt, jenseits und über den Grenzen sprachlicher und nationaler Gemeinschaft, wieso es zum Beispiel eine „österreichische“ Bildung gibt, die andere Bildungserlebnisse zur Grundlage hat und auf andere Bildungswerte hin erzieht, als es — trotz der Sprachgleichheit — die deutsche tut. Der Kreis der Bildungserlebnisse, die man als gemeinsame Erlebnisse besitzt und beim anderen voraussetzt, ist hier das Entscheidende. Menschen einer Bildung sind diejenigen, deren Erlebnisfähigkeit an denselben Kulturerlebnissen geschult worden ist, in denen dieselben Kulturgüter als Grundlage ihrer kulturellen Aufnahmsfähigkeit und als Wertmaßstäbe wirksam sind. In diesem Sinne gibt es eine europäische Bildung und ein europäisches Kulturbewußtsein.

Daß wir heute noch — über die nationalen und regionalen Grenzen hinweg — Europäer sind, daß wir europäischen Geist als etwas Gemeinsames empfinden, als eine Gesinnung, die uns 'alle verbindet, indem sie uns alle auf ein gemeinsames Ideal der Menschlichkeit und der Achtung vor der freien sittlichen Persönlichkeit verpflichtet — das verdanken wir der humanistischen Bildung als dem gemeinsamen B i 1 d u n g s e r 1 e b n i s aller europäischen Völker. Es hat eine Zeit gegeben, wo der Begriff „Europa“ mit dem der „Christenheit“ zusammenfiel, wo ein Europäer zugleich ein „guter Christenmensch“ war. Heute kann man nicht mehr von jedem Menschen, der darauf Anspruch erhebt, 'ein Europäer zu sein, auch zugleich voraussetzen, daß er Christ sein will und das Christentum als sein Lebensideal anerkennt. Wohl aber gibt es ein Ideal von menschlicher Würde, von sittlicher Wertung, das jeder für sich als verpflichtend betrachtet, der Wert darauf legt, für einen Europäer zu gelten — und dieses Ideal, diese Wertung hat dem europäischen Geist das gemeinsame Bildungsideal der Antike gegeben.

Man hat Vergil den „Vater des Abendlandes“ genannt. Nicht deshalb, weil die abendländische Dichtung das ganze Mittelalter hindurch und noch mehr in der Renaissance an ihm ihre ästhetische, dichterische Schulung erhielt — das bedeutet viel, aber noch nicht das Wesentliche —, sondern deshalb (wofür uns Theodor Haecker die Augen geöffnet hat), weil er sittliche Bereiche gezeigt und zum Gemeingut des abendländischen Empfindens gemacht hat, daß menschliche Größe in der Erfüllung der vom Schicksal auferlegten Pflicht, im Vollzug einer gegebenen historischen Aufgabe liegt, im „Dienen“ an der Idee, nicht in der Machtäußerung und dem Sichausleben einer noch so imposanten Persönlichkeit. An der antiken Geschichte hat die moderne Welt, vom Mittelalter an über die großen Renaissancehistoriker bis in die-neuere Zeit, das Geschichtschreiben, ja das Geschichteerleben erlernt, die Gesichtspunkte nämlich, nach denen man -menschliche Werte, wie sie sich im „Geschichte machenden“ Menschen offenbaren, zu werten und zu beurteilen hat. Was die Dinge sind, woran man sich mit Recht begeistert, die man mit Recht verherrlicht, hat die europäische Welt von Livius, was man und wie man kritisiert und verurteilt, hat sie von Tacitus*. gelernt. Daß uns heute das „Victrix causa Diis placuit, sed victa Catoni“ eine sittliche Selbstverständlichkeit ist, daß wir wissen, daß ein Mensch, wenn er zuti.efst menschlich, zutiefst sittlich urteilen will, nicht die Macht des persischen Großkönigs zu bewundern hat, sondern die schlichte Pflichttreue des Leonidas, daß nicht ein Dschjn-giskhan das Ideal historischer Größe ist, sondern die menschliche Gesinnung, die im Namen des Sittlichen und der Freiheit sich auch der erdrückendsten Macht entgegenzustellen wagt — das haben wir von der Antike gelernt.

Und die antiken Moralisten? Ohne Seneca kein Montaigne, ohne Marc Aurel kein Larochefoucauld, $hne Boetius kein Shaftesbury, kein Benjamin Franklin. Und was haben die nicht für die Formung des Europäers, des bewußt sittlichen, des bewußt menschlichen Menschen bedeutet? Denn nicht sosehr auf literarische Einflüsse, auf künstlerisch-kulturelle Werte kommt es hier an, soviel wir auch an solchen von der Antike erhalten haben, sondern auf die Gesinnung, auf den Geist, der uns zu Europäern macht.

Täuschen wir uns nicht; in jedem von uns lauert der Barbar. Wie plötzlich, wie gräßlich er dann unerwartet hervorbrechen kann, das hat uns erst die jüngste Vergangenheit gezeigt. Um so gräßlicher, um so hemmungsloser, als ihn die moderne Wissenschaft mit Machtmitteln ausgestattet hat, die seine zerstörenden, unmenschlichen, machthungrigen Instinkte mit einer gigantischen Fähigkeit ausrüsten, zu vernichten, zu zertrümmern, zu unterdrücken und zu versklaven — Machtmittel, gegen die die Elefanten und die Sichelwagen des persischen Großkönigs ein Kinderspiel waren. Und die moderne Wissenschaft? Ist sie nicht immer nur zu leicht bereit, dem Menschen einzureden, daß seine Hemmungslosigkeit eine biologische Notwendigkeit ist, daß das Recht des Stärkeren von der Natur sanktioniert werde, daß jede sittliche Wertung relativ und von der Zeit, den Umständen, den physischen Gegebenheiten bedingt sei, daß es überhaupt nicht Recht und Unrecht gebe, sondern nur Kräfte, die miteinander ringen, bis die stärkere siegt, die schwächere unterliegt? So wunderbar die Erfolge der exakten Wissenschaft auf physikalischem, chemischem, biologischem Gebiet sind — kann sie uns mit ihren mechanistischen und biologischen Methoden, wenn sie sie auf das soziale und historische Gebiet überträgt, was sie nur zu oft tut, das Phänomen des Menschen erklären, des sittlich verantwortlichen, geistig schöpferischen,

über die Naturbedingtheiten in Freiheit sich erhebenden Wesens — sie, die nur zu sehr geneigt ist, seine sittlichen Motive auf unbewußte, im Physiologischen begründete Triebe zurückzuführen, seine Handlungen aus der inneren Notwendigkeit nach-rechenbarer soziologischer Vorgänge zu erklären? Die exakte Wissenschaft in Ehren, wo sie sich auf dem ihr zuständigen Gebiet der physisch-chemischen Vorgänge, des vegetativ-vitalen Geschehens, der ökonomischen Nachrechenbarkeit bewegt — aber was der Mensch ist, daß kann sie uns mit ihren Methoden nicht zum Bewußtsein bringen, das lehren uns die Alten — durch das Erleben unseres eigenen freien Menschsein, ' das uns ihr Vorbild vermittelt.

Dieses gemeinsame Bildungserlebnis macht den Europäer erst zum Europäer; daß Europa eine geistige Einheit bedeutet, nicht nur einen geographischen Begriff, das beruht auf dem gemeinsamen Bildungserlebnis, das im Europäer — bei allen sonstigen Divergenzen der einzelnen nationalen Kulturen — den Geist der Schätzung des Menschlichen, wie ihn die Antike urbildlich verkörpert hat, ständig lebendig erhält. Die Einheit des europäischen Geistes, die Tatsache eines gemeinsamen europäischen Kulturbewußtseins hängt davon ab, daß das humanistische Bildungserlebnis in allen besonderen nationalen oder regionalen Bildungen als letzte historische Grundlage und als ständig gegenwärtige geistige Wirkkraft mit vorhanden ist; nur diese Gemeinsamkeit bedingt die Einheit des europäischen Geistes, und diese Einheit würde zerfallen, sobald die humanistische Bildung, die Gegenwart des gemeinsamen humanistischen Menschheitserlebnisses, als ständig wirksames geistiges Ferment der einzelnen modernen, nationalen Bildungen entfiele. Gerade die jüngste Vergangenheit zeigt uns, wie sehr das nationale Bewußtsein der einzelnen Völker an sich über der Betonung der eigenen Werte die Gemeinsamkeit der menschlichen Werte vergessen kann. Andererseits muß man eingestehen, daß man nur dort von humanistischer Bildung sprechen kann, wo die Kenntnis von der Kultur des Altertums, gewonnen aus den Schätzen der alten Sprachen, sich über die Sphäre der formalen Bildung, der logisch-stilistischen Schulung, des historischen Wissens emporhebt zu diesem vollen Erleben der höchsten menschlichen Werte des antiken Kulturgutes — einem Erleben, das das Grunderlebnis und das eigentliche Wesen des europäischen Kulturbewußtseins ist.

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