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Musen in der Defensive

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Die „musischen“ Fähigkeiten und Tätigkeiten sind nicht einfach in-einszusetzen mit dem Bereich der „Künste“. Der Kunst- und Musikerziehungsbewegung am Anfang unseres Jahrhunderts, vor allem der zwanziger Jahre, war zunächst nicht „die Kunst“ das Wichtigste, wenn darunter jener autonome Bereich verstanden wird, in dem sich heute die eigentlich künstlerischen Entwicklungen und Auseinandersetzungen vollziehen. Was diese Bewegung suchte und was seither nur wichtiger geworden ist, war etwas Elementareres, der Kunst Vorausliegendes: Formen und Gehalte un-reflektierten, vollen Lebens, in denen Jugend und Volk ihr eigenes, noch unformuliertes Leben erfahren, erkennen und aussprechen könne und in denen ihr das Ganze des Daseins gegenwärtig und faßbar werde.

Das führte zur Abwendung vom bloß abbildenden Tun, von der bloßen musikalischen Reproduktion, von der bloßen Interpretation vorhandener Formen der Kunst und zur Betonung der gestaltenden Eigentätigkeit. Es sollten die Fähigkeiten entwickelt werden, die in den Organen des Leibes, in Hand, Auge und Ohr und in der Sprache angelegt sind. Werden diese Fähigkeiten nicht entwickelt, so verkümmern die „wesentlichen Grundstrukturen des Humanen“, wird das „primäre Welterleben“ (Adolf Portmann) unmöglich, dessen gesteigerte Wichtigkeit in der sekundären Welt unserer Epoche sich immer deutlicher aufdrängt.

Damit kommt eine Aufgabe der Schule in den Blick, die so früher nicht gestellt war.

Bilder und Gestalten

In der vorindustriellen Welt wurden die Sinne des Menschen im natürlichen Gebrauch und in ständiger Übung entfaltet; die Schule mußte ihre Weckung und Ausbildung nicht als ihre Aufgabe ansehen. Das früher selbstverständliche Verhältnis zum Sichtbaren, Hörbaren und Greifbaren ist heute gestört. Das aber heißt, auch das Organ, der Sinn für das Unsichtbare, Unhörbare und Ungreifbare ist gefährdet, weil die ganze Welt der Symbole, also der Repräsentation von Geist in Zeichen, mit ihr die Sprache, welche mehr ist als Verständigungsmittel, ihre Kraft verliert.

Musische Bildung bedeutet, Gefühl und Wissen dafür wecken, daß wir in den Sinnen die tragenden Organe für die Erkenntnis der Welt haben. Der alte Satz „Nihil est in intellectu, quod non ante fuerit in sensu“ ist richtig: auch die Sinne stufen sich nach Höhe und Tiefe, sie sind wie der Wahrnehmung des Materiellen so auch des Geistigen fähig. Musisches Tun nun ist weithin Bildung der Sinne; richtig getan, bewirkt es jene Sensitivität und Spontaneität, die für „die Bilder“, für „Gestalten“ offen macht. Was der menschlichen Welt zugrunde liegt, sind ja doch Bilder, nicht Prinzipien, nicht Quantitäten, nicht Relationen, sondern von einem Sinn regierte Gestalten. Sprache z. B. wäre nicht möglich, wenn dem nicht so wäre; was wir Benennung, Namengebung heißen, ist nichts anderes als das Heraufholen dieser Gestalten. Man kann sie nicht machen; sie existieren, indem die Welt auf den Menschen bezogen ist; und es ist uns aufgegeben, sie zu entdecken. Dazu aber braucht man die Fähigkeit, sie zu erspüren und mit ihnen in Fühlung zu kommen, ein Vorgang, der sich in der Sprache zu erkennen gibt, der aber auch in jeder künstlerischen „Gestaltung“, in den „symbolischen Formen“ geschieht. Gestaltet werden nicht die Realien, sondern die sinnstiftenden Gleichnisse der Welt und der Realien darin. Das Grundvermögen, auf dem alle „Bildung“ beruht, ist „Bilder“ verstehen zu können.

Primat der Ratio

Nun ist die Wissenschaft von heute emsig und erfolgreich damit beschäftigt, die Bilder aufzulösen. Der

Primat der Ratio bestimmt daher auch den Zuschnitt der höheren Schule, ihre Methodik, ihr Zeugniswesen, ihre Fächereinstufung. Die musischen Fächer, aber ebenso die in vielen Gegenständen der Schule enthaltenen musischen, also nicht „wißbaren“ Gehalte kommen in ihr zu kurz.

Gewiß gehört ein hohes Maß an Rationalität zum Wesen jeder modernen Bildung. Menschen, die aus begründeter Erkenntnis zu den Erscheinungen, die auf sie eindringen, ja und nein sagen können, müssen zur kritischen Reflexion erzogen worden sein. Die legitime Bewältigung des Seins ist seit den Griechen an die Beherrschung der Mittel des diskursiven Denkens geknüpft.

Der Begriff, also das Mittel des rationalen Prozesses, ist jedoch nur dann fähig, die dichteste Wirklichkeit zu durchdringen und auszudrücken, wenn die volle, vorrationale, schon qualitativ bestimmte Begegnung mit der Wirklichkeit vorher nicht unterschlagen worden ist. Sonst entsteht jene falsche, dünne Abstraktion, die jeder Bildung feind ist, weil sie verhindert, daß Wissen zum Bestand geistigen Seins verwandelt wird.

Der größere Auftrag

Mit dieser kritischen Überlegung ist aber musische Bildung noch nicht zu begründen. Dabei ist davon auszugehen, daß ihr Auftrag nur ein Teilauftrag ist. Er muß sich vor einem größeren Auftrag legitimieren und von ihm auch seine Begrenzung annehmen.

Die höhere Schule ist keine Kleinform der Universität. Die Universität muß Wissenschaft im strengsten Sinn betreiben. Die höhere Schule aber hat eine Aufgabe, die in einem genauen Sinn dem wissenschaftlichen Auftrag der Universität nicht nur vor-, sondern übergeordnet ist. Wissenschaft ist nur eines der Vermögen des Menschen. Die Schule, die sich ihr durchaus verschriebe, würde ein defizientes Menschentum züchten. Schon die Fruchtbarkeit wissenschaftlicher Arbeit hängt davon ab, ob vorher eine volle Erfahrung des Konkreten von der Fülle der Welt und ihrer Ordnungen angebahnt worden ist und diese Erfahrung bis in die volle Faßbarkeit gedrungen ist, die nur der Sprache und den

„bildhaften'', also künstlerischen Formen gegeben ist.

Es geht also nicht an, zwischen der rationalen und der musischen Bildung einen unaufhebbaren Gegensatz zu statuieren. Das Problem der Verwissenschaftlichung der Bildung stellt eine pädagogische Aufgabe; es hat seinen Grund in der nicht rückgängig zu machenden Tatsache, daß die moderne Welt ihre Form durch die Wissenschaft erhalten hat, nicht durch die Kunst, nicht durch die Religion. So wie der Glaube und die religiöse Erziehung auf diese Tatsache antworten müssen, so muß auch die musische Bildung eine angemessene Antwort auf sie finden. Unangemessen ist der Antirationalismus mancher Begründungen der musischen Bildung; ebenso unangemessen ist die Verwissenschaftlichung des Musischen selbst

Die Form der Wissenschaft ist nicht die Grundform der höheren Bildung überhaupt. Die Wissenschaft hat auch heute die anderen Lebensmächte keineswegs aufgesogen; sie ist keineswegs ineinszusetzen mit der Wirklichkeit, in der wir stehen und uns zu bewähren haben. Sie trägt diese Wirklichkeit in einem höheren Maße, als das früher der Fall war; dem muß auch die Schule Rechnung tragen. Aber es kann keine Rede davon sein, daß mit der Wissenschaft und durch die Beschäftigung mit ihr die höchste Stufe menschlicher Bildung zu erreichen wäre. Neben der Wissenschaft stehen andere Bildungsmächte: die Natur, die Kunst, die Sittlichkeit, die Religion. Mit ihnen erst sind die elementaren geistigen Erfahrungen zu gewinnen, in denen die Welt sich uns auftut und welche Leib, Seele und Geist, das heißt den Menschen formen.

Eine weitere Überlegung erst rundet die Begründung der musischen Bildung. Zu dem größeren, dem wissenschaftspropädeutischen vorgeordneten Auftrag gehört die erste Aufgabe aller Bildungs-Institutionen: in die Uberlieferung einzuführen und fähig machen, das Überlieferte zu verstehen und festzuhalten — der traditionale Aspekt; darüber hinaus ihr zur Erfahrung zu bringen, daß Uberlieferung nur dann lebendig und wirkend ist, wenn sie in die geschichtsmächtigen Wandlungen hineingegeben und also mitverwandelt wird — der evolutionäre, in die Zukunft gehende Aspekt, angesichts der Vorgänge im Bereich der Künste von kaum zu überschätzender Bedeutung.

Die vorindustrielle europäische Kultur ist durchtränkt von der Allgegenwart des Musischen. Es als durchgängig wirkendes Element verständlich zu machen, ist eine fundamentale Aufgabe. Musische Bildung fällt mit so verstandener Pflege der Uberlieferung geradezu zusammen, das Moment der Uberlieferung steckt ja auch schon im Wort: musa kommt von maomai, erinnern, gedenken; sie begründet zu einem wesentlichen TeU geistige Existenz und vor allem: die Freude an ihr.

Allerdings: dieses Verständnis des Musischen geht über die Beziehung zur Kunst oder Dichtung oder gar zu einer bestimmten Kunstart hinaus; es ist das Gefühl für die Ordnung, die von innen heraus wirkt und nicht auferlegt oder durch Zwecke bestimmt wird. An seiner Macht partizipieren die Künste in vornehmlicher Weise, nämlich schon durch ihre Elemente.

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