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Wissen und Gewissen dürfen nicht getrennt werden

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Die Erziehung als Aufgabe der Formung des einzelnen begleitet als notwendiges Erfordernis die gesamte Geschichte. In unserer Zeit hat dieses Anliegen an Aktualität noch zugenommen, da mit dem Anwachsen des Wissensgutes und den Erfordernissen der technisierten Industriegesellschaft auch die Aufgaben der Erziehungsarbeit zunehmen.

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Die Erziehung als Aufgabe der Formung des einzelnen begleitet als notwendiges Erfordernis die gesamte Geschichte. In unserer Zeit hat dieses Anliegen an Aktualität noch zugenommen, da mit dem Anwachsen des Wissensgutes und den Erfordernissen der technisierten Industriegesellschaft auch die Aufgaben der Erziehungsarbeit zunehmen.

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Der Staat ist Rechts-, Wirtschafts-, Sozial- und Kulturstaat geworden. Gibt es bei soviel Erfolgen noch besondere Aufgaben in der Erziehung heute zu erfüllen? Der Schweizer Politiker Friedrich Traugott Wahlen stellt fest: „Wir haben die materiellen Grundlagen zu einem Leben in Menschenwürde geschaffen und verstehen dieses Leben nicht zu leben. Wir verfügen über die Mittel, die uns die Freiheit geben könnten und lassen uns durch sie knechten. Wir meistern die Technik und machen uns doch zu ihrem Sklaven. Der Wohlstand hat uns nicht frei gemacht zur Pflege und zum Genuß geistiger Dinge, er spannt uns ein zum Geldverdienen um des Geld- vėrdienens willen. Wir haben die Fertigkeit der Erregung materieller Begehrlichkeit zur Meisterschaft entwickelt und versagen kläglich in der Kunst der Wertung geistiger Bedürfnisse: Wir sind im Begriff, die ganze Welt zu gewinnen und unsere Ruhe zu verlieren.“

Diese erlebbaren Umstände werden heute von einer Schulsituation begleitet, in der die frühere alte und bewährte Erziehungsgemeinschaft von Schule und Elternhaus immer mehr auseinanderzufallen scheint und für den einzelnen Schüler oft der Einfluß des Gleichaltrigen und der Massenmedien wichtiger und stärker ist als der Wunsch der Eltern und der Rat des Lehrers. Dazu kommt noch, daß mit Zunahme der Verschulung der Gesellschaft die Unlust an der Schule ebenso wächst. Immer mehr wird dabei die Schule zum Spielball parteipolitischer Auseinandersetzung und vom Lehrer all das an Leistung in seiner Erziehungsarbeit verlangt, was das Elternhaus und die Gesellschaft nicht vermögen.

Die Erziehungsarbeit ist mit der der Schule nicht erschöpft, sondern lebensbegleitend. Sie beginnt mit der Fürsorge der Mutter, setzt sich mit der Vorschulerziehung fort und mündet letztlich in der Erwachsenenbüdung, einschließlich der beruflichen Weiterbildung und der sinnvollen Freizeitgestaltung: Im ganzen Lebensweg des Menschen ist die Bildung das zentrale Anliegen, aber eine Büdung, die nicht statisch im Erreichen einer Hochwassermarke angespeicherter Wissensdaten, sondern dynamisch in der Befähigung zu möglichst lebenslanger Weiterbildung.

Gerade in letzter Zeit ist fast ein Heilsglaube an die Möglichkeit schulischer Büdung entstanden; man meinte sogar, das BUdungswesen sei „ein Steuerungsinstrument der Lebenschancen“; Büdung eine „widerstandsfähige Mitgift im sozialen Wandel“. Diese Bedeutung der Büdung sei nicht geleugnet.

Wir werden künftig sicher über mehr Wissen verfügen als unsere Vorfahren, zugleich aber weniger „vom Ganzen“ kennen. Die Büdung scheint immer mehr zu einem Mittel zum Zweck geseüschaftlicher Karriere und materieüer Beförderung zu werden. Auf Kosten anderer Kräfte, wie Phantasie, Gefühl, kurz der Verinnerlichung, tritt die Ratio ihre Herrschaft an.

Die Verbundenheit, die die überlappendenden lateinischen Worte scientia und conscientia schon in der Antike dokumentierten, diese Nähe von Wissen und Gewissen, geht heute anscheinend verloren. Die Tragik hegt besonders darin, daß viele über Wissen verfügen, über welches sie sich kein Gewissen machen, anderseits gibt es Menschen, die vorgeben, sich über etwas ein Gewissen zu machen, was sie nicht wissen und nicht verstehen, der Experte einerseits, der sein Wissen zur Auswertung dem Nächst-

meistbietenden verkauft, ohne sich über die Ergebnisse ein Gewissen zu machen, der Allerweltspolitiker anderseits, der über alles zu reden und zu verantworten bereit ist; ohne dieses auch in jedem FaU zu verstehen.

Mehr als bisher wird es daher Aufgabe unserer Erziehungsarbeit sein, Wissensvermittlung mit Gewissens- büdung zu verbinden. Wo das Wissen nicht von einem wertenden Denken, religiös oder moralisch begründet, begleitet wird, wird das Wissen leicht ziel- und zwecklos.

Büdung heißt Formen nach einem Büde. Alle Büdung steht oder faßt mit dem Vorhandensein eines Vorbüdes. Das Fehlen von glaubwürdigen und daher nachahmenswerten Vorbüdern ist eines der Probleme unserer Tage, wobei mit der Entwicklung der Zeit jeweüs andere, neue Vorbüder notwendig sind.

Jede Gemeinschaft kann auf Dauer nur bestehen, wenn sie von einer Ordnung getragen ist, und diese bedarf der Persönlichkeiten, von denen eine motivierende Kraft ausgeht, wodurch Vorbüder zu Autoritäten werden können. Mit der Entwicklung der Ordnung werden sich aber auch die Autoritäten weiterzuentwickeln haben, soll ihre Motivationskraft nicht verlorengehen.

In der Erziehungsarbeit am jungen Menschen müßte schon die Dialogbereitschaft mit einem möglichst partnerschaftlich gestalteten Unterricht in einer erlebbaren Gemeinschaft erfahrbar sein. Die Klassengemeinschaft ist daher auch für die Entwicklung des Sozialsinns des jungen Menschen von einer nicht zu unterschätzenden Bedeutung.

Unter „partnerschaftlicher Erziehungsarbeit“ meine ich nicht jene Tendenz der „Demokratisierung“, die unter Außerachtlassung der Verschiedenheit der Sachbereiche eine Verpolitisierung des Büdungsgesche- hens erreichen will, und die ihren ei- gentlichen Auftrag, die Erziehung, durch Überforderung des jungen

Menschen einerseits und Behinderung des Lehrers anderseits, unmöglich macht. Jede „Demokratisierung“ der Schule muß die Entwicklung des Schülers und die Verantwortlichkeit des Lehrers beachten. Schließlich ist die Funktionsfähigkeit der Schule das wichtigste Kriterium jeglicher Neugestaltung.

Gerade in einer Zeit, die sich um die Entwicklung ihres Verfassungsstaates und die Demokratisierung seines öffentlichen Lebens bemüht und in der auch die Rechte und Pflichten des einzelnen zunehmen, kommt es darauf an, daß der einzelne auch wülens und fähig ist, diese Aufgabe eigenverantwortlich zu nutzen und zu erfüüen.

Dabei ist es merkwürdig, daß das Interesse des einzelnen am Staat in dem Maße nicht zu-, sondern abnimmt, in dem er diesem Staat Aufgaben auch seiner Daseinsvorsorge überträgt. Hier kommt es darauf ein, schon dem jungen Menschen auf die ihn in Staat und GeseUschaft zu erwartenden Aufgaben so vorzubereiten, daß man ihm seinen Staat in Schicksal und Geschichte verstehen und in seiner Ordnung erkennen läßt. Wer den Staat nur so erklärt, wie er sein soll und nicht wie er ist, begründet nicht jene Glaubwürdigkeit gegenüber der Politik, die für die staatsbürgerliche Gesinnung auch des Wohlstandsbürgers erforderlich ist.

Die politische Büdungs- und Erziehungsarbeit wird nicht in einem einzigen Gegenstand, sondern auch in einer ergänzenden Heranziehung und Nutzung anderer Gegenstände bestehen. So kann der Unterricht der antiken Sprachen zum Begreifen politischer Begriffe, der modernen Sprachen und zum Völkerverstehen ebenso beitragen, wie der Geographieunterricht. Das Ausdrucksvermögen wird wesentlich vom Deutschunterricht und das Vaterlandserleben vom Geschichtsunterricht abhängen. Der Religionsunterricht wird wesentlich zur Gewissensbüdung beitragen.

In einer Demokratie bedarf es der Toleranz und der politisch Verschiedendenkenden, aber ebenso auch der Toleranzgesinnung der Generationen, noch dazu innerhalb eines Staates, in dem wir alle eine Schicksals- und somit eine Erziehungsgemeinschaft sind.

Es wäre falsch anzunehmen, alle diese Aufgaben der Erziehung hätte die Schule mit ihren Lehrern zu erfüllen und zu lösen. Auch die „Umweltbedingungen“ zu Hause sind ausschlaggebend, vor allem die Famüie als Erziehungsfaktor und als Bedingung der Persönlichkeitsentfaltung. Wer den Vater nicht als glaubwürdige Autorität erlebt hat, wird auch nur schwer später Autoritäten in Staat und Gesellschaft als solche empfinden; wer nicht die richtige Mutterliebe geschenkt bekam, wird sich seiner Frau gegenüber so benehmen, wie dies den zahlreichen Scheidungsakten entspricht. Wer keine geschwisterliche Gemeinschaft erfahren durfte, wird auch dem Mitmenschen nicht als Bruder gegenübertreten können.

Da Erziehung ein persönlicher Vorgang ist, kommt es vor aüem auf das Sich-Selbst-Finden an, nicht allein in fachlichen Eigenschaften, sondern auch in charakterlicher Befähigung. Für den beruflichen Erfolg sind neben Fachkenntnissen auch Fähigkeiten des Menschseins wie Ausdauer, Beherrschtheit, Redlichkeit, auch im In- teüektuellen, Fleiß, Genauigkeit, Zuverlässigkeit und nicht zuletzt Glaubwürdigkeit notwendig.

So münden letztlich Gedanken über Sinn und Zweck der Erziehung heute in Gedanken über Aufgaben und Möglichkeiten des Menschseins in unserer Zeit Dieses Menschsein kann sich nur in Freiheit erfüüen, in jener Freiheit, die zwar alle begehren, die aber viele zugleich nicht ertragen, drängen sie dorthin, wo sie unter dem Namen der Freiheit vpn der Freiheit befreit werden.

Was ist daraus für unsere heutige Büdungssituation zu folgern?

Die Freiheit der Persönlichkeitsentfaltung des Einzelmenschen verlangt, unserer Jugend ein nach ihren jeweüi- gen Fähigkeiten und Berufserfordernissen differenziertes Bildungsangebot zu machen; damit ist das politische Niveüierungs- und Uniformierungsstreben unserer Tage unvereinbar, denn es widerspricht dem verschiedenen Leistungserfordemis der modernen Industriegesellschaft Auf diesem Gebiet könnte eine mehr auf die innere Schulreform bezogene neue Lehrplangestaltung mehr erreichen, als eine bloß auf die Schulorganisation gerichtete äußere Reform.

Diese Maßnahmen müssen von einer Verbesserung der Schuüaufbahn- und BUdungsberatung begleitet werden, die auch das veraltete Prestigedenken im Zusammenhang mit bestimmten Schultypen abbauen könnte. Sie müssen Teü einer Schulreform sein, die weder als Tummelplatz ideologischer Auseinandersetzung die Schule zum Kampfinstrument macht, noch zum bloßen Experimentierfeld, wobei mit großer Zahl durchgeführten Schulversuche den Gesetzesbeschluß schon vorwegnehmen.

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