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Die nötige Wende in der Bildungspolitik

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„Die bohrende Frage bewegt heute alle: Was ist in Bildung und Erziehung der jüngsten Vergangenheit falsch gemacht worden? Wo und wie ist der neue Ansatz zu finden?“ fragte der badisch-württembergische Kultusminister Wilhelm Hahn im Vorjahr als Gastgeber die Teilnehmer der Tagung „Mut zur Erziehung“ in Bad Godesberg. Die Referate dieses Symposiums sind nun im Verlag Ernst Klett, Stuttgart, erschienen. Wir entnehmen ihnen Auszüge aus dem Referat des Ordinarius für Pädagogik an der Freien Universität Berlin, Alexander Schwan.

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„Die bohrende Frage bewegt heute alle: Was ist in Bildung und Erziehung der jüngsten Vergangenheit falsch gemacht worden? Wo und wie ist der neue Ansatz zu finden?“ fragte der badisch-württembergische Kultusminister Wilhelm Hahn im Vorjahr als Gastgeber die Teilnehmer der Tagung „Mut zur Erziehung“ in Bad Godesberg. Die Referate dieses Symposiums sind nun im Verlag Ernst Klett, Stuttgart, erschienen. Wir entnehmen ihnen Auszüge aus dem Referat des Ordinarius für Pädagogik an der Freien Universität Berlin, Alexander Schwan.

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Das Gebot der Stunde und der nächsten Zukunft lautet, auf eine Beruhigung in den Bildungsinstitutionen bedacht zu sein, eine Konsolidierung von notwendigen und irreversiblen Reformen anzustreben, aber auch Kurskorrekturen vorzunehmen, die nächsten Schritte nicht nur behutsamer, sondern auch anders zu setzen. Auch derjenige, der die Reformpolitik in der Substanz ihres akzeptablen Teilinhalts - Chancengerechtigkeit bei der Wahrnehmung des Rechtes auf Bildung-retten möchte, muß einsehen, daß das nur möglich ist bei gravierenden Veränderungen in ihrer Durchführung, einem sorgsameren Zeitmaß, einer Politik der kleinen Schritte.

Was könnten nun die Grundlinien einer positiven Konzeption von Erziehung und einer in ihrem Dienste stehenden Bildungspolitik sein? Sie sollten u. a. die Grundlagen einer philosophisch-politischen Anthropologie und elementare bildungspolitische Folgerungen umfassen.

Wir stehen heute vor einer Revolte der Aufgeklärten, der durch Aufklärung mündig gewordenen Bürger gegen die freiheitsfeindlichen, in Erziehungsdiktatur gipfelnden Konsequenzen eben dieser Aufklärung. Solche Konsequenzen sind die übersteigerten, absolut gesetzten Eman-zipations- und Fortschrittserwartungen, die „über die Bürger hinwegrollenden Wellen undurchsichtiger Reformen“ und die ins Unermeßliche gestiegene Dichte der Informationen.

Es geht also um die Entfaltung des Individuums in seinem Selbstsein wie in seinem In-der-Welt-Sein. Herauszustellen und neu zu begründen wäre folglich ein Verständnis des Menschen als Person, die wesenhaft zugleich Individualität und Sozialität, ja Einmaligkeit und Hin-sein-auf-Andere ist. Von diesem anthropologischen Ansatz wird ein Geflecht personal bestimmter sozialer Beziehungen und Verhältnisse begründbar und analysierbar, die gleichsam „föderativ“ vom Kleinen ins Große und Umfassende sich aufbauen und erlebbar werden.

Die Anerkennung und Beachtung der Person und ihrer Lebensverhältnisse schließt einerseits die Anerkennung und Beachtung ihrer jeweiligen, zugleich wesenhaften und insofern allgemein-menschlichen Geschichtlichkeit, Endlichkeit, Bedürftigkeit, Kontingenz und demzufolge die Anerkennung und Beachtung der Geschichtlichkeit, Relativität, Plura-lität und Wandelbarkeit aller personal geprägten sozialen Verhaltensund Ordnungsformen ein, erfordert andererseits aber auch die Respektierung und Entfaltung der absoluten Würde der Person, ihrer unveräußerlichen und unverbrüchlichen Freiheit und Verantwortung, ihrer wesentlichen Rechte und Pflichten und demzufolge die Respektierung und Entwicklung einer strikt freiheitlichen, rechtsstaatlichen und sittlichen Ordnung.

Die Person kann gemäß ihrer natürlichen Würde nur leben und sich entfalten, wenn eine offene Gesellschaft und eine freiheitliche Ordnung ihr den Raum dazu eröffnen. Dann ist sie umgekehrt daran gebunden, die-

„Wir stehen heute vor einer Revolte der Aufgeklärten gegen die freiheitsfeindlichen Konsequenzen dieser Aufklärung“ sen Raum mit offenzuhalten und mit-zügestalten, also diese Gesellschaft und diese Ordnung aktiv mitzutragen.“ '

Im Rahmen der grundlegenden Orientierung von Erziehung muß die Bildungspolitik eine stärker auf die Person, d. h. auf das Kind bzw. den Jugendlichen ausgerichtete Pädagogik in Lehrerbildung, Lehrplanarbeit und Schulalltag unterstützen. Solche Bildungspolitik ist zwar primär Aufgabe der staatlichen Instanzen, aber sie kann nur in Zusammenarbeit mit den Lehrern, Eltern und Schülern sowie ihren Repräsentanten gelingen. Das setzt deren Bereitschaft zur Mitarbeit voraus.

Insbesondere die Eltern und Familien müssen erkennen, daß sie bereits vor der Schule und zusammen mit der Schule den gleichen Erziehungsauftrag haben und diesen nicht einfach an den Staat und das öffentliche Schulwesen abtreten können. Es werden teilweise neue Kooperationsformen nötig sein, um zu einer gemeinsamen Formulierung und Durchsetzung der hier gemeinten Bildungspolitik gelangen zu können.

Die Schulen müssen besser dazu disponiert werden, Orte der persönlichen Begegnung, der personalen Beziehung und Bindung, der Lebenshilfe und Lebenserfahrung (statt nur des Lernens), einer Lebensform in möglichster Vielfalt, zugleich innerhalb überschaubarer Einheiten zu sein. Sie dürfen nicht die großen Lernfabriken bleiben, zu denen sie oftmals in den letzten Jahren geworden sind.

Nur in übersichtlichen Größenverhältnissen kann das pädagogische Klima entstehen, das die Lehrer motiviert, sich weniger als Verwaltungsbeamte von Bildungsinstitutionen und auch nicht nur als Fachlehrer, sondern primär wieder als Erzieher zu sehen und zu erweisen. Auch der Zusammenhalt unter den Lehrern dürfte sich dann enger gestalten.

Die Lehrer müssen durch Entlastung von ständig neuen organisatorischen Experimenten besser instand gesetzt werden, in ihrem Beruf und im Umgang mit den Schülern eine Sinnerfüllung zu finden und Vorbildcharakter für verläßliche personale Verhältnisse anzustreben.

Leistungsanforderungen, ohne die keine Erziehung möglich ist, sind dann überzeugend, wenn sie der Altersstufe und Begabungsrichtung der Schüler, der Schulart und einem Gleichgewicht zwischen erzieherischen, fachlichen, musischen und sportlichen Elementen entsprechen. Es wäre verhängnisvoll, angesichts der vielberedeten gegenwärtigen Streßerscheinungen in der Schule das Leistungsprinzip überhaupt abzulehnen und zu verteufeln. Es kommt vielmehr auf die Entfrach-tung der Lehrpläne, die Verminderung der Stoffülle und den Abbau rein intellektuell-szientistischer Ansprüche an, und zwar zugunsten einer Konzentration auf exemplarische Sachgehalte einerseits, einer Differenzierung der Anforderungen auf die jeweilige Ausbildungssituation andererseits.

Unter dieser Bedingung sollte Leistung wieder als Herausforderung und Anreiz zu Entwicklung produktiver Fähigkeiten und Betätigungen im Leben jedes Menschen, also ge-radeauch des Schülers wie des Lehrers, bejaht werden. Nur dann sind die gefährlichsten Züge übertriebener Anspruchserwartung, des Selbstmitleids und der Verdrossenheit, die große Teile der jungen Generation jetzt zeigen, vielleicht zu überwinden.

Es ergeben sich aus dem Gesagten auch organisatorische Folgerungen. Eine fixe und gleichartige Grundausbildung der Schüler ist mit möglichst viel Flexibilität in der Durchführung zu verbinden. Auf der einheitlichen Grundschule - in der Leistungsanforderungen und das Fachlehrersystem zugunsten eines festen personalen und erzieherischen Bezuges des Lehrers zum Lebenskreis seiner Schulklasse • zurückstehen sollten - muß ein gegliedertes Schulwesen aufbauen, das sich mit seinen pluralen Formen den unterschiedlichen Begabungen, Interessen und Leistungsmöglichkeiten der Jugendlichen anzupassen hat.

Begabungen und Befähigungen müssen rechtzeitig und aufgrund von längerer Beobachtung und Erfahrung zuverlässig erkannt, die daraufhin getroffenen Entscheidungen über die Einschulung und Zuordnung der Schüler müssen später noch überprüfbar und korrigierbar sein. Die Lehrpläne müssen den unterschiedlichsten Begabungen in den einzelnen Schulstufen und Schularten flexibel Rechnung tragen.

Wenn mit diesen Forderungen einem stark differenzierten Schulsystem im Gegensatz zum integrierten das Wort geredet wird, weil es als das personal zuträglichere und deshalb humanere, im übrigen aber auch als das zur Vorbereitung auf das Berufsleben effektivere erscheint, so muß zugleich die Notwendigkeit flankierender Maßnahmen betont werden, wie z. B. wirksame Formen der individuellen Berufsberatung oder der

„Generell muß sich die Schule hüten, die Universität mit ihren hohen fachspezifischen Ausrichtungen vorwegnehmen zu wollen“

Ausbau qualitativ vollwertiger Ausbildungsmöglichkeiten, die nicht auf die Hochschulreife ausgerichtet sind, z. B. im Berufsschulbereich.

Weiterhin scheint es mir geboten, möglichst viel Durchlässigkeit, Chancen der Weiterqualifizierung und eben Korrekturmöglichkeiten bei der Wahl von Schularten und Ausbildungsgängen zu gewährleisten (Analoges gilt für die Studienfächer und Hochschultypen). Darum sind Vereinbarungen und Kooperationen unter Schulen und Hochschulen, die dies vorsehen und bewirken, jederzeit angebracht, nicht dagegen die Integration, Vereinheitlichung, schließlich Gleichschaltung des gesamten Ausbildungswesens.

Generell muß sich die Schule hüten, die Universität mit ihrer hohen fachspezifischen Ausrichtung vorwegnehmen zu wollen. Die Persönlichkeitsbildung des heranwachsenden Menschen leidet unter der scheinwissenschaftlichen Spezialisierung, die die Kollegstufe herbeigeführt hat. Gegenüber dieser unheilvollen Entwicklung ist zu verlangen, daß der Klassenverband und die Zuordnung des Lehrers zur Klasse auch in der Oberstufe so weit wie möglich wiederhergestellt oder daß, wo Irreversibles institutionalisiert wurde, zumindest die Kurstypen und Kerneinheiten fester gefügt werden.

Die Grund- und Pflichtanteile sollten nicht durch zu viele zu frühzeitige Wahlmöglichkeiten (Wegwahlmöglichkeiten) verkürzt werden, gerade um nicht den Entscheidungsraum für die spätere Wahlfähigkeit im Studium und Beruf allzu sehr einzuengen. Statt dessen sollte die Maxime lauten: Eine konzentriertere und gediegenere Allgemeinbildung - verbunden mit einem verbindlichen Kanon exemplarischen Sachwissens und mit begabungsspezifischer Vermittlung - ist auch die beste Ausbildung der Person, damit sie in der komplexen pluralistischen Lebenswelt von heute und morgen ihre Rolle selbstverantwortlich spielen, ihre Identität wahren und den ihr (immer von neuem) bevorstehenden Lebensaufgaben in einigermaßen realistischer, auf Perfektionen und Utopien verzichtender Manier gewachsen sein kann.

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