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Digital In Arbeit

Der Schulfrust ist nicht unvermeidbar

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In diesen 'lagen beginnt wieder ein neues Schuljahr,und wohl alle Kinder und Jugendlichen verspüren wie schon im letzten Jahr diese eigenartige Mischung aus Freude, Aufregung und Angst: Wie wird es mir heuer ergehen, wird mir gefallen, was die Lehrer (gemeint sind immer auch die -innen!) mit uns erarbeiten, werde ich schaffen, was von mir verlangt wird? Werde ich mich in der Klassengemeinschaft wohlfühlen?

Schüler (immer auch die -innen) akzeptieren wohl zumeist, daß Schule anders ist als alles, was sie außerhalb erleben, ob in Familie, Freizeit mit Gleichaltrigen (bei gemeinsamer Musik, bei Sport und Spiel, beim Gespräch über ihre Probleme, in der Disco ...), ob vor dem Fernseher oder Computer.

Sie wissen, daß hier wie sonst kaum irgendwo eben gelernt, sprich: gearbeitet werden muß, was nicht immer nur Spaß machen kann. Sie tun es deshalb, weil ihnen bewußt ist, daß die Schule ihnen die Chance gibt, Wissen zu erwerben, Talente zu ent-d(Tk(ia-,Fhigkeiten zu estickeln, ja auch Berechtigungen zu erlangen, mit denen sie.sich später ihren Platz im Arbeitsprozeß der Gesellschaft suchen und behaupten können.

Weniger klar ist ihnen, weshalb man dazu gerade die zehn bis 15 üblichen Fächer (und in jedem noch so viel Stoff!) braucht. Eine Teilantwort könnte sein, daß heute niemand genau weiß, welcher Art die künftigen Berufsanforderungen sein werden, und daß daher versucht werden muß, die zu ihrer Bewältigung nötige Flexibilität anhand eines reichhaltigen Übungsangebots auszubilden.

Dennoch ist daraus nicht zwingend abzuleiten, daß dieses Ziel nur über soundsoviel Stoff in soundsovie-len Fächern zu erreichen ist; aber man kann Bewährtes nicht leichtfertig aufgeben.

Ganz anders als früher hat die heutige Jugend schon allein durchs Fernsehen vielfältige Möglichkeiten, sich über die Welt zu informieren -wenngleich die meiste Zeit wohl einfach der Unterhaltung dient , und die Schule braucht sich daher nicht mehr als die einzige Quelle zu verstehen, aus der die Jugend Wissen schöpfen kann.

Weiters ist es heute jedermann/je-derfrau klar, daß wegen der explodierenden Informationsmenge niemand mehr mit dem auskommt, was ihm/ihr in der Schule mitgegeben werden kann, sondern daß ein ganzes Berufsleben lang weitergelernt werden muß.

Daraus folgt aber, daß es nicht zweckmäßig ist, den Schülern so viel Stoff aufzuladen, wie es heute oft geschieht: er wird in einigen Jahren hoffnungslos veraltet sein! Viel wichtiger ist es, an den diversen Gebieten unserer Schulfächer exemplarisch zu zeigen, wie man Probleme diskutieren und lösen kann.

Wie verschieden und jeweils typisch geht man doch vor, wenn man etwa literarische oder physikalische Fragen bespricht, und das Erlernen von Sprachen geht wieder ganz anders vor sich. Nur diese Vielfalt der Betrachtung, des Denkens, bleibt aber dem Schüler als wesentliche Fähigkeit seines daran trainierten Verstandes erhalten, die Inhalte, die Details verblassen (oft gleich nach der Prüfung oder Schularbeit).

So erscheint es nur konsequent, vieles in der Schule anzubieten, aber keinesfalls Vollständigkeit anzustreben. Man lernt am Stoff, Lernprozesse der verschiedensten Allen zei-gen dem Schüler die eigenen Begabungen, helfen, sie auszuformen. Aber dazu ist viel weniger Stoff nötig, als man heute bis zur Matura vermittelt! Konkret: Wenn an einigen Typen klar geworden ist, wie man Gleichungen löst, ist ein wesentliches Teilziel der Mathematik erreicht, es müssen deshalb nicht alle möglichen Arten enzyklopädisch durchgenommen werden.

Diese Idee, als Erarbeiten von quent in allen Fächern umgesetzt, könnte bis zum Ende der 6. Klasse so viel formale Bildung bringen, wie Schule vermitteln muß, und würde es den Schülern ermöglichen, schon ab der 7. Klasse (ausgenommen Chemie oder Philosophie, die erst da beginnen) stärker als jetzt jene Fächer zu wählen - und andere abzuwählen! -, die den persönlichen Neigungen und sich vielleicht schon abzeichnenden Berufsfeldern entsprechen.

Ob damit die allgemeine Studierfähigkeit beziehungsweise die Hochschulzulassung, die mit dem Maturazeugnis erreicht ist, gefährdet wäre, muß man diskutieren.

Nachteile dürften, so glaube ich, nicht entstehen, da jemand, der nach der 6. Klasse weiß, daß zum Beispiel Mathematik sicher nichts für ihn ist, kaum etwas studieren wird, was ganz eng damit verbunden ist; und tut er es später doch (Psychologie oder Wirtschaft unter anderem verlangen viel Mathematik), kann er aus der Kenntnis des Kernstoffs und der daran erarbeiteten formalen Fertigkeiten den Anschluß aus eigener, dann auch schon größerer, Kraft herstellen.

Die Vorteile für das Schulleben wären gewaltig: Für viele Schüler fiele die so quälende Uberforderung als eine der Ursachen von Schulfrust weitgehend weg und oft auch die bis jetzt nötige Wiederholung einer Klasse. Damit kein Mißverständnis entsteht:

Es soll keinesfalls einer Schule das Wort geredet werden, die als Servicestelle nur bietet, was gewünscht wird, und die jeden Leistungsdruck vermeidet. 1 >ies wäre schon deshalb ganz-falsch, weil ja auch ißfcBerufs-jleben selbsterständliejjLeistung gj fordert wird, und Schule darauf vorbereiten muß. Aber niemand sollte länger als für die Allgemeinbildung nötig mit Anforderungen konfrontiert werden, die außerhalb seiner Fähigkeiten liegen. Daß hier der Teufel im Detail steckt, ist klar. Vielleicht wäre es auch zweckmäßig, nach der 6. Klasse eine abschließende „mittlere Reife" vorzusehen, um die Abbrecherquote zu senken und Mißerfolgserlebnisse zu mildern.

Ein weiteres großes Problem der heutigen Schule, auch für Lehrer - aber in ihren Folgen vor allem für die übrigen Schüler -, ist die mangelnde Disziplin einzelner. Zum Teil hängt dies sicherlich mit ihrer Überforderung zusammen, zum Teil aber auch mit Faktoren, die außerhalb der Schule liegen und von ihr nicht zu beeinflussen sind. Kinder und Jugendliche sind es heute gewohnt, sich auch in der Familie durchzusetzen und ihre Wünsche sofort befriedigt zu bekommen.

Macht die Schule nicht gleich Spaß, wird protestiert: sich ungeniert unterhalten und öfters laut auflachen sind häufige Formen. Nicht selten ist dadurch normaler Unterricht nicht mehr möglich: Und damit ist auch beim Lehrer Schulfrust angesagt.

Viele Lehrer und wohl auch die Vorgesetzten und die Behörde übersehen aber (aus ihrem übergroßen Verständnis für die Probleme der jungen Leute), daß mit einer Duldung der Störungen es auch allen übrigen gutwilligen Schülern unmöglich gemacht wird, sich zu konzentrieren und das jeweilige Thema erfolgreich zu bewältigen, was wiederum bei ihnen Frust auslöst; leider lassen aber auch sie sich meist alles gefallen.

Die Schule als gesellschaftliche Einrichtung des Staats für alle muß aber ihr Funktionieren durchsetzen dürfen. Andere Institutionen tun dies auch:

Wer auf der Autobahn picknicken will, wird von der Verkehrspolizei nicht geduldet, sondern notfalls gewaltsam entfernt werden, da die Straße den Zweck hat, ein Verbindungsweg für alle übrigen zu sein, das Verhalten dieses/ ginzelnen es aber unmöglich macht, ihn zu erreichen. Doch bleiben wir bei den Jungen: Beim Fußballspiel oder beim Skitraining gibt es strenge Spielregeln, und jeder hält sie ein oder akzeptiert selbstverständlich den Ausschluß oder Ähnliches. Sogar in der Disco lernt die Jugend rasch, welches Verhalten dort erlaubt ist und welches nicht, um angenommen zu werden.

Das Sicheinordnenkönnen ist also nicht das Problem. Nur beim Transfer in die Schulwelt hapert es, offenbar, weil dort niemand ist, der eindeutige Grenzen setzt.

Hier könnte auch die Klassengemeinschaft eine selbstvereinbarte Rolle übernehmen. Wer es der Schule unmöglich macht, ihren Zweck *-Unterricht für alle - zu erreichen, muß mit sofort wirkenden Sanktionen zu rechnen haben und nicht erst in Zukunft beim x-ten Mal.

Leider ist es jedoch heute Mode geworden, die Täter viel stärker zu beachten als ihre Opfer, und so scheuen alle, Behörde, Lehrer, aber auch Schülergruppen davor zurück. Dazu kommt, daß in den Augen der Obrigkeit und der Eltern der „gute Lehrer" eben keine Probleme mit seinen Klassen hat, und wer möchte schon ein schlechter Lehrer sein?

Aber auch er, ob pädagogischer Wunderwuzzi oder nicht, muß tun dürfen, wofür ihn der Staat bestellt hat, er muß arbeiten - unterrichten können, und er hat Anspruch auf einen zumindest erträglichen Arbeitsplatz. Könnte ein Richter arbeiten, wenn die Anwälte und Schöffen sich im Saal köstlich unterhielten, würde ein Arzt mit einem fröhlich plaudernden Team operieren? Doch an der AHS muß alles möglich sein ...

Mit Situationen dieser Art hängt auch eng die Klassengröße zusammen. Wer etwa als Deutsch- und Englischlehrer einmal (D) vor der vollen Klasse mit 30 Schülern steht (im BORG und den BHS nicht selten auch vor 38!) und in der nächsten Stunde (E) mit 15 Schülern arbeiten darf, kennt den Unterschied im Verhalten und damit im Unterrichtsertrag. Zurufe pensionierter Kollegen, sie hätten nach dem Krieg 45 und mehr Schüler problemlos gebändigt, treffen ins Leere, da die Kinder damals in einer Gesellschaft aufwuchsen, in der sich jeder (auch der Erwachsene) wie selbstverständlich einordnete, und Selbstdisziplin daher überall erlebbar war. Heute aber scheinen sich viele für den Mittelpunkt der Welt zu halten, um den sich alles zu drehen hat ...

Welch eine Zumutung ist es daher, 30 und mehr dieser selbstbewußten jungen Persönlichkeiten in eine Klasse zu pferchen und ihnen und den Lehrern eine gedeihliche Unterrichtsarbeit abzuverlangen! 20 Schüler könnten es sein, höchstens aber 25. Unverständlich, daß dies die Lehrervertretungen. nicht schon längst durchgesetzt haben, auch daß dies den Eltern, der Gesellschaft insgesamt, ein so geringes Anliegen ist! Denn die Politik tut nur, wozu sie der erklärte Wählerwille drängt:

AVürde die Reduktion der Höchstzahl auf 25 mit großem Nachdruck als unverzichtbar verlangt werden, die Parteien hätten es eilig, das Schulgesetz in diesem Sinn zu revidieren.

In der Schweiz ist es längst Realität: Im Frühsommer plant jede Direktion Klassen von 22 bis 24 Schülern je nach Zahl der Anmeldungen (und kümmert sich auch selbst um die nötigen Lehrer)!

Um der Arbeitsqualität der Lehrer willen wird es nicht geschehen, doch geht es ja in erster Linie um die jungen Menschen, die in kleineren Gruppen viel individueller betreut werden könnten, wodurch sich auch viele der Störungen und Disziplinlosigkeiten gar nicht erst ereignen würden, die die Schule oft faktisch scheitern lassen. Teilschritte des Programms „Schulfrust ade"?

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