"Gut gemeint ist nicht immer gut getan"

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Spezielle Förderung für spezielle Kinder bedeutet nicht Ausgrenzung: Eine Replik auf das Gespräch mit dem Inklusions-Pädagogen Gottfried Biewer.

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Spezielle Förderung für spezielle Kinder bedeutet nicht Ausgrenzung: Eine Replik auf das Gespräch mit dem Inklusions-Pädagogen Gottfried Biewer.

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Danke für das Interview mit Professor Gottfried Biewer (siehe FURCHE Nr. 25 und S. 16 dieser Ausgabe). Denn es zeigt deutlich, dass konkrete Probleme in dem Moment ausgeblendet werden, wenn sie der vorgefassten Meinung oder Ideologie widersprechen. Gewiss gibt es nach wie vor Kinder in Sonderschulen, die dort eigentlich nichts verloren haben: Zur Zeit, als meine behinderte Schwester die Sonderschule besuchte, waren etwa 90 Prozent sozial behinderte Kinder in der Klasse und zehn Prozent körperlich/geistig behinderte - eine für beide Teile ungünstige Mischung. Und selbstverständlich bin ich dafür, Kinder, die nur gelernt haben, über Raufen zu kommunizieren, ansonsten aber durchaus fähig sind, mathematische Aufgaben zu lösen und auch manuell geschickt sind, durch Psychologen für Unterricht und Beruf fit zu machen. Ich nehme an, dass Professor Biewer diese Gruppe meint, wenn er für inklusiven Unterricht plädiert.

Doch können schwer behinderte Kinder, die nach Meinung ihrer Eltern (die sie am besten kennen) im normalen Unterricht verloren sind, von Inklusion profitieren, die oft genug darin besteht, sie in einem Eck der Klasse separat zu betreuen? In den heutigen Klassen geht es laut zu, was schon für durchschnittlich begabte Kinder und Lehrer schwierig ist, Behinderte aber eher in Verzweiflung treibt, als sie zum Mittun zu motivieren.

Im Internet kursieren Studien, wonach Inklusion dazu führt, dass gute Schüler zurückbleiben, schlechte hingegen depressiv werden. Das erscheint mir plausibel - für unbegabte Schüler muss der Lehrstoff mehrfach wiederholt werden, was begabte Schüler langweilt und ihre Kreativität im Stören des Unterrichts wohl beflügelt (dass viele Schulabbrecher später glanzvolle Karrieren machen, dürfte darauf zurückzuführen sein). Andererseits kann man verstehen, dass Kinder, die jeden Tag erleben, wie ihre Klassenkollegen ohne große Anstrengung gute Noten schreiben, was ihnen trotz Mühe und Fleiß nicht gelingt, kaum Selbstwertgefühl entwickeln.

Selbstbestimmte Arbeit?

Wir leben in einer arbeitsteiligen Gesellschaft, in der verschiedenste Begabungen gebraucht werden. Die adäquate Antwort sind vielfältige Ausbildungsmöglichkeiten mit entsprechender Durchlässigkeit, um sich umorientieren zu können -auch im Sinne des späteren Lebenslaufs, wo nicht, wie in einer Agrargesellschaft, jeder mehr oder weniger dasselbe tut, im Jahresrhythmus, lebenslang. Aber welche Chancen haben schwer Behinderte in einer weitgehend automatisierten Wirtschaft mit bald 500.000 Arbeitslosen auf ein selbstbestimmtes Arbeitsleben?

Es ist richtig, dass vor Gott und dem Gesetz jeder gleich ist. Dennoch gibt es Menschen, die einen Sachwalter brauchen - sicher kein aktiver Universitätsprofessor, wohl aber ein Kind, das schon zu weinen anfängt, wenn es andere beim Raufen beobachtet, oder das auch bei liebevollster Förderung nie zweistellige Zahlen multiplizieren kann. Es gibt Kinder, die mit 15 Jahren sterben müssen und auch zuvor schwer leiden. Sollen sie zusätzlich zum Gespött der Klasse werden? Kinder können grausam sein, auch wenn wir das nicht wünschen. Sie wollen Gerechtigkeit und Gleichheit -in der Kleidung wie in der letzten Handymode. Welcher Lehrer, welche Lehrerin soll diesen Spagat leben und durchsetzen?

Akzeptanz statt Wunschdenken

Gut gemeint ist nicht immer gut getan. Es gibt, auch wenn es der Ideologie der Selbständigkeit, Leistungsfähigkeit und Gleichheit widerspricht, schutzbedürftige Kinder und Erwachsene, die ohne eigenes Verschulden und ohne, dass sie es ändern können, so geboren wurden und aufwachsen. All das auf bereits überlastete Lehrer abzuschieben, ändert nicht die Tatsachen. Die Schule hat nicht nur den Auftrag, zu fördern - sie muss auch Leistung fordern; das ist sie den Steuerzahlern schuldig, aber vor allem den Kindern, die ja tüchtige Erwachsene werden sollen, die dann die Gesellschaft tragen.

Spezielle Förderung für spezielle Kinder bedeutet nicht Ausgrenzung, sondern das Akzeptieren ihrer je speziellen Lernsituation statt irrationalen Wunschdenkens. Wenn wir Eliteschulen für Begabte begrüßen: Haben wir uns da nicht bereits mit der Tatsache abgefunden, dass eine Einheitsschule nicht unbedingt jedes Kind optimal fördert, sondern vielleicht das Gegenteil bewirkt? Eignen sich gerade die Schwächsten als Versuchskaninchen für Wunschträume von problemloser Klassengemeinschaft?

Es ist wichtig, mit Betroffenen nicht bloß zu sprechen, sondern sie ernst zu nehmen. Eltern empfinden ihren Kindern gegenüber nicht nur Affenliebe. Gerade bei behinderten Kindern braucht es viel Realitätssinn, um die unterschiedlichen Probleme zu erkennen, sie wenn möglich zu lösen oder sie eben zu akzeptieren und möglichst menschenfreundlich damit umzugehen. Dasselbe gilt für alle anderen Betreuungspersonen, die auch in schwierigen Situationen ihren mehr oder weniger schwarzen Humor nicht verlieren. Jahrzehntelang.

Doch leider ist es unmöglich, mit allen Betroffenen selbst zu sprechen. Ich habe an der Universität Wien an einem Seminar über Spracherwerb bei Down-Syndrom-Kindern teilgenommen: Die Interviewer sollten dabei die Kinder befragen, doch die Hälfte von ihnen hat nicht geantwortet -aus welchen Gründen immer. Wie sollen sie einem normalen Schulunterricht folgen?

Die Grundsatzfrage aber ist: Muss alles der Staat per Schule richten? Gibt es keine gemeinsamen Unternehmungen ohne Leistungsdruck, etwa Ausflüge, Kunstaktionen (wie "Special Poetics" im Salzburger Literaturhaus), einfach erfreuliche Stunden mit lieben Freiwilligen?

Sonderschullehrer fragen!

Reformer sind wichtige Leute - und Inklusion ist ein schönes, verführerisches Wort! Doch könnte man nicht einmal mit pensionierten Sonderschullehrern über ihre Arbeit sprechen? Sie stehen nicht mehr unter dem Druck, statt eigener Überlegungen politisch korrekte Worthülsen von sich geben zu müssen, sondern sie haben jahrzehntelang verschiedenste Kinder unterrichtet, oft das familiäre Umfeld gekannt, wissen sogar manchmal, was aus den Kindern geworden ist - das weit größere Tabu. Das wäre wohl zu einfach, zu ehrlich, zu wenig spektakulär. Aber vielleicht ein Ansatz für ein ehrliches Umgehen mit Problemen, die es nun einmal gibt, auf Basis von gelebter Erfahrung und pädagogischer Kompetenz.

Die Autorin ist Sachwalterin ihrer jüngsten Schwester (Down-Syndrom) und lebt als Pensionistin in Wien

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