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Unterricht ohne Noten?

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Die Neuordnung der Mittelschulen, nun allgemein bildende Höhere Schulen genannt, hat unter anderem die bisherige Lateinrealschule schärfer fixiert, einen Typ, der mit Latein erst im fünften Jahrgang beginnt. Die Hauptschüler und Absolventen der ländlichen Volksschulen, die eine lebende Fremdsprache mit gutem Erfolg gelernt, begabt und lernfreudig sind, können nun ohne weiteres in eine solche höhere Schule übertreten. Volks- und Hauptschulen sind keine Sackgassen mehr.

Der Vorteil für begabte Schüler der Provinz, nun länger im häuslichen Verband bleiben zu können, ist wirtschaftlich und erzieherisch nicht hoch genug einzuschätzen. Auch unter schwierigen finanziellen Umständen werden sich Eltern eher zu Opfern bereit finden, wenn sie am gereiften Kind einen entschiedenen Lernwillen sehen und es sich nicht mehr um acht, sondern immerhin nur um fünf zusätzliche Jahre der Oberstufe in der entfernteren Höheren Schule handelt. Dieser Leitgedanke mag den Initiatoren der neuen Lehrpläne vor Augen gestanden sein und soll als ernste soziale Erwägung freudig anerkannt werden:

Neue Plane — alte Panzer

Die Bereicherung der höheren Schultypen kommt den verschiedenartigen Begabungen ohne Zweifel entgegen, die Lehrpläne aber tragen den gleichen Panzer wie zuvor. Ein einziges Glied der Kette, ein schwaches, entscheidet über das Schicksal eines sonst lerneifrigen, begabten Schülers.

Die neuen Lehrpläne nehmen einseitige Begabungen nicht zur Kenntnis, nicht, daß es leistungsfähige, wertvolle Schüler gibt, die eine von den wesentlichen Lehrplanforderungen einfach nicht ordentlich erfüllen können, und so entweder dem Zufall persönlicher Gunst und Nachsicht ihr weiteres Studium verdanken oder verzweifelt resignieren müssen, sehr zum Schaden des geknickten Schicksals, aber ebenso zum Schaden der Gesellschaft, die nicht genug geistig und charakterlfch entwickelte - Menschen bekommen kann.

1 Warum aber soll ein; Sprachkünstler, dem die Mathematik absolut nicht zusagt, scheitern? Warum muß ein eifriger Naturwissenschaftler und Forscher, für den fremde Sprachen nur Hindernisse sind, über sie stolpern? Warum soll ein geborener Mathematiker die ihm nicht liegenden Sprachen büffeln oder Naturwissenschaften von A bis Z kümmeln, die ihn nicht interessieren? Wie häufig müssen Schüler eine Unmenge an Zeit einem Gegenstand widmen, bei dem sie nicht einen Schritt weiterkommen, vernachlässigen aber alle anderen, auch ihre Lieblingsfächer, wo sie leicht und gern echte Spitzenleistungen vollbrächten und nun als lässig und faul erscheinen I Damit treten Verhältnisse ein. die aller Menschen- und Sachökonomie spotten.

Weniger ist mehr

Um allen Mißverständnissen zu begegnen: Das Studium soll um nichts weniger ergiebig, um nichts geringer arbeitsreich werden, um gar nichts an Umfang, Tiefe und echter Entwicklung und Bereicherung verlieren, sondern die Leistung eine bessere werden, wenn alle Lernfähigen und -lustigen sich nicht an einem Gegenstand totrennen, wo sie keine Aussicht auf Erfolg haben.

Wie einfach wäre die Schaffung von Schwerpunkten mit Pflicht- und erweitertem Lehrstoff, etwa sprachlich, mathematisch und naturwissenschaft-, lieh! Eines-dj|ser Hauptarbeitsgebiete “konnte mit dem (eingeschränkten) Pflichtstoff Genüge finden„ wenn„ die ': baden •anderenä mit gutem Erfolg und einer davöni erweitert und vertieft, absolviert werden; Es würde also kein einziger Gegenstand vernachlässigt, wohl aber ein nutzloses Abquälen vermieden werden. Der eingeschränkte, zur allgemeinen höheren Bildung gehörende Grundstoff, der auch ohne Spezialbegabung erfaßt werden kann (Mathematik zum Beispiel bis einschließlich Trigonometrie), stellte eine taugliche Brücke zur gewohnten Gegenstandsreihe her, wenn das Weniger in dem einen eine vertiefte Befässung in einem anderen Fach mehr als aufwöge. So würden die Fächer des Interesses ohne Zeitvergeudung mit ungebrochener Kraft zu gründlicherer Arbeit und wertvollen Einsichten führen und in den höheren Klassen auch mehr Unterrichtsstunden erhalten.

Damit würden die Bremswirkungen ausgeschaltet und alle positiven Begabungen genützt. Verärgerungen, Depressionen und zermürbende Konflikte, seelische und physische Zusammenbrüche würden vermieden, da das Klima des Studiums dem Dschungel eines ganz widersinnigen Hindernislaufes weitestgehend entzogen wäre. Schüler, Lehrer und Eltern fänden eine menschlichere Atmosphäre, und Erfolg und Leistung, im ganzen gesehen, würden ein ungeahntes Optimum erfahren, was man bei dem Prokrustesbett des starren Zwangslehrplans nicht behaupten kann. Erst damit würde von der Vorstellung ernstlich abgerückt, daß „Vielwisserei keine Allgemeinbildung“ ist. (Doktor Ernst Werner, Die Schulaussprache ist eröffnet, „Die Furche“, 10/1963.)

Turnen — nicht Prüfungsgegenstand!

Ärzte und Pädagogen stellen immer eindringlicher fest, daß unsere Jugend infolge geringer Bewegung organisch und funktionell erschlafft. Die ein fache Schlußfolgerung nach entsprechender Nützung der vorhandenen Turnstunden und ihre allfällige Vermehrung sind die logische Folge. Alt ist die Forderung der „täglichen Turnstunde'“.

Zu unserem Turnunterricht ist manches zu sagen. Bekannt ist, daß ein großer Prozentsatz der Schüler nicht die Knochen und Muskeln hat, um auch harten Anforderungen zu genügen. Es gibt eine beträchtliche Anzahl, die sich vor dem „Gerät“ geradezu fürchten.

Nichts gegen das Geräteturnen und schwierige Bodenübungen. Sie sollen alle jungen Menschen betreiben, die dazu die körperliche Voraussetzung mitbringen. Es wird immer ein kleiner Teil sein. Was not tut, ist, daß alle, auch die physisch weniger Leistungsfähigen an frohen Bewegungsübungen teilnehmen. Es ist wie überall: Nur was die Freude beflügelt, trägt Zinsen. Verängstigte Schüler, die Barren und Reck mit Entsetzen ansehen und sie als Folterinstrumente empfinden, werden vom Turnunterricht mit solchen Geräten keinen Gewinn haben. Abgeschreckt werden sie sich auch zu Übungen nicht veranlaßt sehen, die sie ohne weiteres bezwingen könnten.

Wenn also der Turn- und Bewegungsunterricht in erster Linie das Wachstum und die ganze leibseelische Entwicklung des jungen Menschen fördern soll, dann mache man aus dem „Prüfgegenstand“ eine vernünftige Verhaltens- und Lebensgymnastik, die dem Menschen nach Verlassen der Schule zur Gewohnheit geworden ist.

Es geht um Bewegung, womöglich in guter Luft. Müssen Atemzüge gezählt und „benotet“ werden? Bewegung, Ernährung, Kleidung sind gar wichtige Dinge, und es wird da viel gesündigt. All das aber sollte nicht verschult, geprüft und gewogen, sondern geübt werden.

Es gibt Lehrer, die sich einen Unterricht auch ohne Klassifikation vorstellen können. Dafür gibt es Beispiele. Wie wäre es mit einem notenfreien Turnunterricht, mit allgemein fördernden Gesundheits-

übungen, mit froher Bewegung, die alle anspricht und erfaßt? Spielen können alle, mit und ohne Ball und Schnur. Schwimmen ist eine Betätigung, die jedem Körper durch seinen gewichtlosen Zustand im Wasser gut bekommt. Haltung, Organe Atmung erfahren die beste Förderung. Kriechen, Klimmen, Laufen, Springen, Geschicklichkeitsübungen, Leichtathletik in kinder- und volkstümlichen Formen sind für alle erträglich, wobei- sich Dauer, Intensität und Leistung individuell ganz automatisch ergeben.

Bei dieser Gelegenheit drängen sich von selbst Gedanken über den allgemeinen Notenbrauch auf. Das Lernen um der guten Noten willen, die seelischen Qualen wegen schlechter Klassifikationen, die hektische Notenjagd sollten der Vergangenheit angehören.

Im notenlosen Unterricht, der bestimmt weniger Neurosen erzeugte, die Arbeit aber in einer freudigeren Atmosphäre gestaltete, könnten sich zumindest die Scherze nicht mehr ereignen, daß ein vom Zeichenprofessor in Grund und Boden klassifizierter Schüler später ein bekannter Künstler wird oder ein in Deutsch mit einer Nachmatura bedachter Stümper zum international bekannten und geschätzten Schriftsteller aufrückt.

Ob die Schüler ohne Notenpeitsche auch lernen würden? Im vormaligen k. u. k. Elisabethgymnasium gab es zur Zeit der Monarchie einen sehr gestrengen Griechischprofessor. Er zog nie den Katalog, prüfte nie, trug nie Noten ein, niel Und es gab keine Spannungen, Aufregungen, Befürchtungen, wir übten, übersetzten und lernten unbeschwert. Von uns gefragt, wie er, dieser seltene Herr Professor, die Noten bestimme, meinte er schmunzelnd: „Ich kenne euch dochl“ Und wie wir lernten, und wie sehr wir gerade diesen. Professor verehrten!

Eine wunderbare befriedete Atmosphäre in einem nicht gerade leichten Gegenstand. Und das sollte man nicht auch bei den für ein gesundes Leben so bedeutsamen Leibesübungen riskieren können?

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