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„Mein Kind ist überlastet“

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Wenn von einer Ueberlastung der Mittelschüler in Oesterreich die Rede ist, will man sagen, daß der Umfang des Lernstoffes und die Schwierigkeit der Aufgaben normalerweise größer ist, als einem durchschnittlichen Schüler zugemutet werden kann. Als Folgen davon werden angeführt: Gesundheitliche Schäden, Ausscheiden von Schülern, die an sich für die Mittelschule nicht ungeeignet wären, aber den übermäßigen Anforderungen nicht gewachsen sind.

Ebenso wie bei der Erwerbsarbeit, das heißt beim Arbeiter, muß man nun auch bei Schülern eine tatsächliche von einer eingebildeten Ueberlastung unterscheiden (man hat bei den Auseinandersetzungen um die Ueberlastung nach meinen Dafürhalten zu sehr die Wirkung von Psychosen, etwa: „Klassenpsychosen“) ebenso vernachlässigt, wie den Einfluß von schulfremden Kräften, die oft in einer erstaunlichen Unkenntnis der pädogogischen Tatsachen den Schülern eine „unerträgliche“ Belastung ein- reden, die wohl im Einzelfall, aber nicht generell vorhanden ist.

Unbestreitbar ist, daß (nach Schilderung von Eltern) den Zehnjährigen heute an manchen Schulen die Erledigung eines Arbeitspensums zugemutet wird, dem sie in der großen Mehrheit nicht gewachsen sind, so daß der Ueber- gang von der Lerntechnik der Volksschule auf eine Lerntechnik, wie sie die Mittelschule erfordert, oft auch solchen Schülern nicht gelingt, die ihrer Anlage nach für das Mittelschulstudium geeignet wären; sie werden eben nicht in jene Situation versetzt, in der sie ihr potentielles Leistungsvermögen darstellen können, ganz abgesehen davon, daß die Belastung des Gedächtnisses (etwa mit dem Auswendiglernen eines Geschichtsstoffes) der Erreichung des Lehrzieles kaum dienlich ist.

In den nachstehenden Bemerkungen soll dazu nur vom Standpunkt der technischen Obermittelschulen (der „technisch-gewerblichen Lehranstalten“) Stellung genommen werden. Das begrenzte Erfahrungsfeld macht diese Feststellun gen etwas einseitig, so daß Ergänzungen wünschenswert wären.

Zuerst einiges zur Ursache dessen, was man Ueberlastung nennt.

Der heute früher als z. B. vor zwanzig Jahren geschlechtsreife Schüler ist jenseits der Schule Reizen ausgesetzt, die den „klassischen Mittelschüler“ der Zeit vor dem ersten Weltkrieg nicht bedrängt haben. Wieviel bedeuten doch heute der Mehrheit der Schüler nach dem 14. Lebensjahr Kino und Rundfunk (das Fernsehen ist als massenweise Erscheinung noch nicht über uns gekommen). Nicht wenige Schüler können, wie sie selbst sagen, nur mehr dann lernen, wenn sie in einer Radio-Lärmglocke untertauchen. So ist das Gedächtnis in der Situation des Aneignens des Lernstoffes „gespalten"! Bei Schulausflügen dagegen kann man feststellen, daß Schüler, deren Gedächtnisleistung in der Schule ansonsten nicht hervorragend ist, mehrstrophige Liedertexte hersingen können, und dies ohne nachdenken zu müssen.

Zu beachten ist auch, daß zwischen dem „Betrieb“ in der Schule und dem, was außerhalb der Schule geboten wird, ein erheblicher Anregungs- Unterschied besteht. In der „alten“ Schule war vielleicht die Schule manchmal kurzweiliger als das primitive Tingeltangel der Vergnügungen. Man muß freilich auch nach dem Standort der Schule und den Wohnorten der Schüler Llnter- schiede machen. So sind die Freizeitattraktionen in der großen Stadt natürlich lockender als in einem ländlichen Markt.

Nicht wenig kommt es dabei auf die Eltern an. Es gibt Eltern, die es in hervorragender Weise verstehen, ihren Kindern jene Llmwelts- bedingungen. für die Zeit des Lernens zu verschaffen, die optimale Leistungen möglich machen. Auch in den Betrieben ist man heute daran, Bedingungen zu erkunden, unter denen eine bestmögliche Leistung zu erwarten ist. Soll ähnliches nicht auch allen Eltern möglich sein?

Das ängstliche Bemühen mancher Eltern, für ihre Kinder das Weekend, und zwar jedes, auch in der Prüfungszeit, völlig lernfrei zu halten, beraubt diesen oder jenen Schüler der Möglichkeit, Versäumtes etwa einmal an einem Samstagnachmittag oder gar (wie entsetzlich) an einem Sonntag nachzuholen. An die Stelle der sosehr gefürchteten Lern-Arbeits-Erschöpfung tritt dann die Weekend-Arbeits-Erschöpfung und die oft bis zum Dienstag dauernde Müdigkeit der Kinder durch die Vergnügungsbelastung, von der leider viel zuwenig gesprochen wird.

Es soll aber nicht geleugnet werden, daß der Stoff umfang heute erheblich größer als früher ist. Der Mut zur „Lückenhaftigkeit“ (um einen Ausspruch aus einer pädagogischen Beratung zu zitieren), scheint sicher da und dort notwendig. Jedenfalls muß der Schüler heute mehr lernen als früher. Dazu kommt, daß die einzelnen Fächer zuweilen nicht so aufeinander abgestimmt sind wie ehedem, sondern eher der reichhaltigen Sortierung eines Rundfunkprogramms gleichen. Viele Fächer müssen daher ohne Hilfestellung durch den Stoff anderer Fächer erlernt werden. Daher sollte man Vergleiche mit der Lernsituation der guten alten Zeit besser unterlassen, zumindest aber sich hüten, das gegebene Schulwesen zu sehr abzuwerten. ganz abgesehen davon, daß man von der „alten" Schule immer nur die Erinnerung über die Vorzugsschüler dieser Schulen wachhält, als ob es das Mittelmaß zu dieser Zeit nicht gegeben hätte. Was die Praxisnähe betrifft, ist offensichtlich der Unterricht heute, besonders hinsichtlich der Beispielgebung, besser denn je.

Eine allgemeine Kritik der Lehrbücher ist kaum möglich, da sie ihre Qualität oft erst durch den Lehrer erhalten. In meinem Fall sind die Schulaufsichtsbehörden so großzügig, daß es durchaus in meinem Belieben liegt, was aus einem Lehrbuch zu lernen ist und was nicht. Maßgeblich ist lediglich der vorgegebene Lehrstoffrahmen.

Wie in der Arbeitswissenschaft muß man auch für den Schüler so etwas wie ein gewachsenes „Arbeitsleid“ feststellen, besser ein „Lern-Leid“, ein Lernunlustgefühl, das um so größer ist, je mehr der junge Mensch der Freizeitattraktionen gewahr wird.

Dje Freizeiterholung ist zudem T-, wie oben erwähnt — nicht immer eine echte Erholung, die eine neue Aufnahmebereitschaft für den Lernstoff vermittelt. Das Max-Planck-Institut für Arbeitspsychologie hat einmal gefordert, daß der arbeitende Mensch je Tag eine Pause von mindestens drei Stunden haben müsse, die dem Essen, dem Spiel und dem „Tändeln" gewidmet sein solle. Ganz abgesehen davon, daß eine solche Pause in den technisch-gewerblichen Lehranstalten nur in der prüfungsfreien Zeit und dann auch nur bei verkehrstechnisch nicht benachteiligten Schülern möglich ist, muß man sehen, daß es ein „Tändeln", eine Mußezeit, bei vielen Schülern, mangels entsprechenden Milieus im Elternhaus kaum mehr gibt und daß oft die Freizeitbelastung die Schulbelastung überwiegt.

Nicht selten sind es auch die Eltern selbst, welche die Freizeit ihrer Kinder belasten, sei es, daß die Schüler gezwungen werden, die Freizeitvergnügungen der Eltern als Staffage mitzumachen, sei es, daß die Kinder beim Lernen selbst gestört werden, und daher erheblich mehr Kraft bei ihrer Arbeit verbrauchen, als notwendig wäre.

Was ist nun dagegen zu tun?

Einmal müßte der Lernstoff (nicht der Vortragsstoff) da und dort gekürzt werden. Es ist besser, der Schüler kennt in den praxisfernen Fächern die großen Zusammenhänge und die Struktur des Gegenstandes, als er weiß vor Einzelheiten den Zusammenhang nicht mehr zu deuten.

Manche Lehrbücher sollten den Stoff nur in höchster Konzentration bieten und den Lehrer nicht zum Vorleser degradieren oder ihn veranlassen, das Buch zum größeren Teil streichen zu lassen, so daß es zum Schulende das Bild eines Musterkataloges für Vorhänge bietet. Da, wo es sich nicht um eine bestimmte Textwiedergabe händeln muß, sollte man erwägen, Lehrbücher in Form von Repetitorien herauszubringen. Auch finanziell würde es für die Eltern, die je Jahr mehrere hundert Schilling für (oft nicht verwendete) Lehrbücher ausgeben müssen, eine kleine Entlastung sein, wenn etwa ein Lehrbuch statt zweihundert Seiten nur einhundert hat. Außerdem wäre es angezeigt, wenn manche Lehrbücher mehr den Stoff interpretieren würden als bisher und ihn nicht allein (für den Lehrer) wiedergeben, da sonst in vielen Fällen der Hauslehrer įim notwendigen Zubehör des Mittel- schulstudiums wird.

Eltern und Lehrer sollten ferner noch mehr Zu sammenarbeiten, als sie es jetzt schon tun. Die wöchentliche Sprechstunde der Lehrer wird von den meisten Eltern nicht benützt. Wie man hört, besteht auch die Tätigkeit mancher Elternvereine zu einem großen Teil in der Abhaltung von Veranstaltungen, die, vom Schulzweck her gesehen, oft bedeutungslos sind (aber sicher manchen Eltern selbst eine große Freude machen).

Nicht wenige Eltern sollten sich sagen lassen, daß sie selbst noch einer Anleitung für die Erziehung ihrer Kinder bedürfen und es nicht als ihre ausschließliche Aufgabe ansehen sollen, ihre Kinder gegen die Schule aufzuwiegeln (Motto: Der Lehrer hat immer unrecht. Wenn er sich muckst, zeige ich ihn an!). Nicht selten üben Eltern sogar nachteiligen Einfluß auf ihre Kinder in sittlicher Hinsicht aus; sie sind aber dann höchst empört, wenn sie erfahren, was sich ihr Kind an sittlichen Verfehlungen geleistet hat. Das heißt: Doppelte Moral!

Es wäre weiter Eltern zu raten, etwa nach Besprechung mit den Lehrern, das Vergnügungsprogramm ihrer Kinder auf seine Zweckmäßigkeit hin zu überprüfen.

Der Rundfunk (an das Fernsehen wage ich noch nicht zu denken) sollte bei seiner Schulprogrammgestaltung auch davon ausgehen, daß an den Apparaten junge Leute sitzen, die vom Gebotenen etwas lernen wollen und auch tatsächlich lernen: Gutes oder Schlechtes!

Schließlich müßte man dazu übergehen, von 1 Fachleuten (ich denke da an einen ganz hervorragenden Vortrag von Ministerialrat Dr. Timp vom Unterrichtsministerium) den Gegenstand „Lerntechnik" zumindest für die Lehrkräfte vortragen zu lassen. Der Technik der Aneignung des Stoffes sollten in manchen Gegenständen die ersten Unterrichtsstunden gewidmet sein. Man mutet ja auch keinem Arbeiter zu, sofort nach Aufnahme seiner Tätigkeit alle Fertigkeiten zu beherrschen. Der Zehnjährige und auch der Vierzehnjährige aber soll vorweg die M e t h o d e des Lernens beherrschen. Das anzunehmen, ist geradezu frivol.

Noch ein Wunsch: In den technischen Mittelschulen finden wir, daß ein Großteil der Schüler, die beim Eintritt knapp 14 Jahre alt sind, nicht die notwendige Reife für die Obermittelschule haben. Die Frage der Ueberlastung hängt sicher in vielen Fällen damit zusammen, daß die Schüler der jeweils ersten Klassen in den Obermittelschulen zu jung sind. Sollte man nicht doch — fern von allen politischen Erwägungen — das fünfte. Schuljahr in der Volksschule wieder einführen und die Schulpflicht erst mit dem 15. Lebensjahr enden lassen?

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